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Kennung: 4305

Aarau, 28. November 1882 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar

Inhalt

28.XI.82.

Herzensgeliebter Oskar,

Spät kommst Du, doch du kommst!freies Klassikerzitat aus Friedrich Schillers „Wallenstein. Die Piccolomini“ (1800, I/1): „Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt! Der weite Weg entschuldigt [...] Euer Säumen“ [Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 12, S. 63].“ Meinen besten Dank für Deinen freundlichen Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 25.11.1882 – Oskar Schibler hatte sich fast 2 Wochen Zeit für seine Beantwortung von Wedekinds Brief gelassen [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882].. Es war mir eine unerwartete Überraschung, zu sehen, wie eifrig du auf meinen scheinbar so hoch in den Wolken liegenden Plandie Idee, gemeinsam einen Almanach „Der Osiristempel“ herauszugeben. an eingehst. Zur Sache also! – S Trotz deinen/r/ warmen Theilnahme, will es mich dennoch aus d/D/einen werthen Zeilen bedünken, Du zweifelst noch an der Möglichkeit einer Realisirung meiner/s/ Gedankens. Es sei deshalb meine erste, hoffent|lich leichteste Aufgabe, dich von jedem weiteren Zweifel zu befreien.

„Wo ein Wille sind ist, sind auch Wege“ ist ein Sprichwort, welches zwar nicht an in allen Fällen, hier aber ganz ohne Frage seine volle Geltung hat. Denn an der zweitem/n/ Hauptbedingung außer dem Willen, an der nöthigen GrüzeGeist, Verstand [vgl. DWB, Bd. 9, Sp. 1020]. fehlt es weder dir noch mir, u. wirst/d/ es uns dann gar nicht mehr fehlen, wer/n/n wir einmal begonnen haben, unserer Grüze zu verwerthen und mit mehr Übung, wie auch mit mehr Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen auftreten können. Ich bitte dich, daran zu denken, wie kolossal viel dem man dem Publi|cum bieten darf, wie es gleich einer „rechten Sauim Sinne von: unachtsames, ungebildetes Subjekt.“ mit allem vorlieb nimmt und (um in meinem Bildedas oben mit der „Sau“ eröffnete, dann mit den „Perlen“ fortgeführte Bild ‚Perlen vor die Säue werfen’ nach Matthäus 7,6 [vgl. Büchmann 1879, S. 27]. zu Bl bleiben) für wirkliche Perlen gar kein Auge, kein Ohr, keine Nase hat. Sehr richtig bemerkst Du, daß es absolut für unsere Erstlingswerke nothwendig wäre, originell und neu aufzutreten. Es fragt sich nur, in welcher Weise wir diese Originalität suchen sollen. Du meinst wir sollen z. B. suchen, ScherrJohannes Scherr, dessen dreibändige „Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“ (Leipzig 1852) 1882 gerade ihre 8. Auflage erlebte. in seiner Sprache nachzuahmen. Es fragt sich, ob man uns bei diesem Experiment nicht sehr bald auf die Eisen kommenDen Ausdruck notierte Wedekind im Notizbuch 18 zu seinem Einakter „In allen Wassern gewaschen“ [vgl. 7/II, S. 754 (Notizen zu III,7)]. würde. Meiner Ansicht nach sind wir noch zu unreif, um in der Form originell zu sein; | besonders da so viele andere darin originell sind, daß ein solches originell sein bald gar nicht mehr originell ist. Ich habe einen anderen Gedanken: Meines Wissens hat seit H. Zschokke kein Mensch mehr Aarau u. Umgebung zum Schauplatz v. NouvellenDie 12 Bände umfassende Novellensammlung des Philanthropen und Wahlschweizers Heinrich Zschokke, der sich 1807 in Aarau niedergelassen hatte, erschien in hohen Auflagen, darunter zum Beispiel die historische Erzählung „Der Freihof von Aarau“ (1822/24). e. ct. gemacht, obschon J/j/ährlich verschiedene JugendschriftenSchriften für die Jugend; im Verlag H. R. Sauerländer (Aarau) erschienen seit 1870 die „Mittheilungen über Jugendschriften an Eltern. Lehrer und Bibliotheksvorstände“ (von der Jugendschriftenkommission des Schweizerischen Lehrervereins herausgegeben). e. ct. von bei Sauerländer erscheinen. Ich glaube wenn wir für irgend einen Stoff (Ich habe mir schon einige derer zurechtgelegt) Aarau u. eine der umliegenden Ruinen zum Schauplatz einer NouvelleIn Notizen zu Wedekinds Erzählfragment „Der Schlossgeist“ [vgl. KSA 5/I, S. 287f.], entstanden zwischen Ende November 1882 und Januar 1883 [vgl. KSA 5/I, S. 462], ist zum Schauplatz, wohl Schloss Lenzburg, festgehalten: „Schlossgeist. Ort in Lenzburg. Zeit der Kreuzzüge. Ein Schloßcaplan [...] sagt, er habe in der Schloßchronik den Untergang des Hauses gelesen.“ [KSA 5/I, S. 288] Zum Auftakt von Wedekinds Erzählung „Der Brand von Egliswyl“ (1897), angesiedelt im „Kanton Aargau“, heißt es über den Handlungsort: „Jeder Berggipfel, jeder Vorsprung des Gebirges ist von einem alten Schloß oder doch wenigstens von einer Ruine gekrönt. [...] Im Umkreis von wenigen Meilen liegen da bei einander Wildegg, Habsburg, Bruneck, Casteln, Wildenstein, Lenzburg, Liebegg und Hallwyl.“ [KSA 5/I, S. 172] des Mittelalters machten, wir schon dadurch die Augen der Menge auf uns zögen. |

Ich glaube kaum, daß, wenn über’s Jahr der Almanach (floreat(lat.) er möge gedeihen.!!) eh erschiene/t/Schreibversehen, statt: erscheint., er weiter greifen würde, als über die aargauischen Gebiete und da möchte sich ein j/J/eder recht angeheimelt fühlen, besonders wenn wir recht genau auf DetailsörtlichkeitenUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: auf Detailsörtlichkeiten genau. eingehen würden. Die Kulturquellen zu solch einem Werkchen fänden wir in den beiden QuellenFranz Xaver Bronners zweibändiges Hand- und Hausbuch „Der Kanton Aargau, historisch, geographisch, statistisch geschildert. Beschreibung aller in demselben befindlichen Berge, Seen, Flüsse, Heilquellen, Städte, Flecken, Dörfer und Weiler, so wie der Schlösser, Burgen und Klöster nebst Anweisung, denselben auf die genußreichste und nützlichste Weise zu bereisen“ (1844) und das von Heinrich Boos herausgegebene „Urkundenbuch der Stadt Aarau mit einer historischen Einleitung, Register und Glossar, sowie einer historischen Karte“ (1880).: Bronner, der Aargau u. Boos, Stadt Aarau. Wenn dir damit gedient ist, so sende ich dir einmal den Gedankengang einer solchen Nouvelle zu, und Du magst selber urtheilen, ob sie auszuführen wäre. | Du fragst mich in Deinem lieben Briefe, ob einer von uns schon irgend etwas veröff P Druckfähiges geschrieben habe. Leider kann ich mich bis jetzt noch mit wenigem derart brüsten. Gegenwärtig arbeite ich an Erinnerungen an’s E eidg. Turnfest in italienischen Stanzen.ital. Strophenform mit dem Reimschema ababab/cc, die Goethe im „Faust“ in der „Zueignung“ (V1-32) wählte. – Wedekinds in Versen konzipierter Erinnerungstext ist lediglich als Erzählfragment „Vom Eidgenössischen Turnfest 82. Erinnerungen eines Festbummlers“ [KSA 5/I, S. 284-286] überliefert, nicht aber „Ansätze oder Ausführungen zu einem Versepos“ [KSA 5/I, S. 799]. Ich habe vor, die poetische Erzählung, wenn sie fertig ist, ins Tagblatt zu setze senden u. bin auf den Effect sehr gespannt. + Aber, Oskar, haben wir uns bis jetzt auch M schon jemalsUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: jemals M schon. Mühe gegeben, etwas Al allgemein l/L/esenswerthes zu verfassen? Ich glaube kaum, daß es so et entsetzlich schwer wäre. Sieh doch einmal die PoesienZuletzt waren die Gedichte „Zwei Spätherbstrosen an meinem Bett“ von Ernst Scherenberg, der seit 1874 regelmäßig in der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ publizierte [vgl. Jg. 1882, Heft 45, S. 750], sowie „Das letzte Lächeln“ von Anton Ohorn [vgl. Jg. 1882, Heft 47, S. 782] und „Herbstschauer“ von Hermann Lingg [vgl. Jg. 1882, Heft 48, S. 798] erschienen. an, mit welchen | sich die „Gartenlaube“ brüstet die doch in 3000000 ExemplarenDas illustrierte Familienblatt „Die Gartenlaube“, 1853 von Ernst Keil in der Tradition der belehrenden und unterhaltenden moralischen Wochenschriften gegründet, hatte 1875 eine Auflage von 382.000 Exemplaren [vgl. Andreas Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften im Kaiserreich. In: Georg Jäger: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 1.2, Berlin 2003, S. 427]. monatlich über die ganze Erde verbreitet wird. Und sollte uns einmal der Stoff ausgehen, lesen wir nicht Classiker,: Horazeiner der bedeutendsten römischen Odendichter. Catullrömischer Dichter. e. ct. um irgend ein verborgenes Vergißmeinnicht zu übersetzen u. noch eine gelehrte Abhandlung über Übersetzung u. Übersetzungskunst hinzu zu schreiben? – Überhaupt könnten wir dann auch einige unserer eigenen Produkte für ü/Ü/bersetzungen aus dem Englischen, Französischen e.ct. ausgeben. Sei überzeugt, das zieht ganz gewaltig.

Sehr richtig bemerksSchreibversehen, statt: bemerkst. Du, wir müßten die Stoffe zu unseren Arbeiten aus dem Leben nehmen. | Sagt ja schon Göthe: „Greift nur hinein in’s volle MenschenlebenFrei zitiert nach Goethes Faust: „Greift nur hinein ins volle Menschenleben! / Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, / Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.“ [Faust. Eine Tragödie. Faust I, V 167-169].
„Ein jeder lebts, doch wenigen ists bekannt
„Und wo ihrs packt, da ist es interessant.“

Ich glaube fast, du habest diese Zeilen im Auge gehabt als Du mir jenen guten Rath gabst. Befolgen wir ihn also! Geht man Abends in die Kneipe, ins Theater, aufs Eis; geht man auch nur auf den Bahnhof, oder Markt, so sieht man Menschen und wenn man Menschen hat, so findet sich auch leicht eine Handlung dazu. Das hab’ ich erfahren. Mit etwas Kühnheit geht alles. Du kennst es, glaub ich, auch!

Was die philosophischen Arbeiten anbelangt, so bin ich ganz deiner Meinung. Nur wollen wir | uns s vor exakter Philosophie hüten. Sie gefällt dem Publicum nicht; hingegen gefällt es ihm, elegante Salbadereien„langweilige, alberne schwätzerei oft mit dem nebensinn des frömmelnden tons“ [DWB, Bd. 14, Sp. 1682]. unter dem Mantel exacter Wissenschaft zu vernehmen. Du kennst den Demokritos v. WeberKarl Julius Webers 1832 bis 1859 in Stuttgart erschienener „Dymocritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen (Von dem Verfasser der Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen)“ ist ein 11 Bände umfassendes satirisches „Kompendium der Weltweisheit.[...] des lachenden, satirischen, polit.[ischen], von anthropolog.[ischer] Neugier getriebenen u. positiv die Fülle der Erscheinungen registrierenden, diesseitsverhafteten ‚Philosophen‘“ [Ulfert Ricklefs: Weber, Karl Julius. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 12, 2011, S. 171].. Nehmen wir uns den zum Muster! Die Kraft ausdrücke und kühnen unverschämten Behauptungen hat er mit Joh. Scherr gemein. Und solches Z/z/ieht. Stets aber müssen wir auf ein gefälliges Gewand sehen. Du hast den Philosoph für d. Welt v. EngelDer Aufklärer Johann Jakob Engel gab in 5 Bänden (1775, 1777, 1787, 1800, 1801) die popularphilosophische Zeitschrift „Der Philosoph für die Welt“ heraus, für die führende Spätaufklärer wie Immanuel Kant, Moses Mendelssohn, Christian Garve oder Engel selbst Beiträge zur philosophischen Schul- und Volksbildung lieferten. gelesen. Engel füllt entwickelt in einfachen Situationen sehr tiefe Gedanken. Nehmen wir die Situationen etwas origineller und die Gedanken etwas leichter, so haben wir | einen trefflichen Ohrenschmaus für das heutige denkfaule Publikum. Auch in diesem Fach hab’ ich bereits eine sehr originelle Idee, doch die ich Dir ebenfalls auf deinen WunkSchreibversehen, statt: Wink (oder: Wunsch). zur Kritik übersenden werde. Was die heutigen Zustände u. Sot/c/ialen Verhältnisse anbelangt, so glaube ich, daß wir allerdings auch hierin etwas ins Handwerk pfuschen können müssen, daß aber über solche Punkte fortwährend so viel Gediegenes geschrieben wird, daß wir am besten thun würden, nur dies Gediegene zu benutzen um unsere Leser auch im politisch s/S/ot/c/ialen Fache kennt Wissenschaft zu befriedigen. Ebenso n/N/aturwissenschaft, in welchem Fach ich mich nur auf picuanteSchreibversehen, statt: piquant; (frz.) gewürzt, scharf (ja nicht abstoßend natürliche!) Themata beschränken möchte. |

Überhaupt sei es unser Bestreben, nicht sowohl viel, als vielmehr vielerlei zu bieten; von Gedichten aber nur soviel, als zur Dekoration des ganzen Werkes absolut nothwendig ist, und statt langer Gedichte, lieber kleine Heinische Geistes-blitze (à la Heine) aufzunehmen.

Was die Kritik anbelangt, so glaube auch ichUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: ich auch., daß gegenseitige Kritik die beste ist. Vor fremder Kritik brauchen wir uns nicht zu fürchten, denn so bald einmal in neu öffentlichen Blättern über unser Kind geschimpft wird, so soll es uns an ciceronianischen Vertheidigungenden Stil des Rhetorikers, Philosophen und Anwalts Marcus Tullius Cicero nachahmende Verteidigungsreden. (natürlich alles anonym) nicht fehlen und unser Kind wird auf diese Weise wol am | besten in die große Welt eingefüht/r/t. Übrigens könnte, wenn ein solcher Angriff nicht stattfinden sollte, auch einer von uns sich zu dem Geschäft herbeilassen, worauf der andere die Antwort verfaßen würde müsste. Wir hätten d alsdann den Vortheil, das/ß/ wir die beiden Schriftstücke zuerst mit einander vergleichen und so einrichten könnten, daß der Angriff mit einem glänzenden Siege zurückgeschlagen würde.

Also vorwärts lieber Oskar! Unverwandt blick in die Zukunft! Sie ist wahrhaft göttlich! Wir unternehmen nichts Unausführliches L/l/uftschlösserartiges. Bedenke, daß Schiller | im/n/ seinem 17. Jahre die Räuber schrieb1776 mit 16 Jahren hatte Friedrich Schiller mit der Arbeit an seinem Schauspiel „Die Räuber“, ein Lesedrama in fünf Akten, begonnen, 1781 wurde es anonym veröffentlicht und am 13.1.1782 in Mannheim uraufgeführt... Welch eine Schande, wenn wir im 19/8/ noch nicht im Stande wären, einen lumpigen Almanach zusammenzuschmirenSchreibversehen, statt: zusammenzuschmieren.! – Ist das u/U/nternehmen einmal geglückt, so soll es das zweite Mal schon besser werden! Glückt es nicht, so ist am e/E/nde auch nichts verloren.

Die Angelegenheit mit E. v B.Die Initialen einer verheirateten Frau aus Aarau, mit der Oskar Schibler im Herbst 1882 eine Affäre hatte. hat mir mehr zu denken zu gegeben, als du wol meinst. Den letzten Theil Deines l. Briefes habe ich nun schon fünf Mal durchgelesen, was allerdings auch mit Deiner miserabelnSchreibversehen, statt: miserablen. Schrift zusammen hängt. |

Ich bitte Dich, mach Dich los!

Ich kann kaum glauben, daß du dich sonderlich zu solch einem Weibe hingezogen fühlen kannst. Hier genießt sie einen sehr zweideutigen Ruf und jeder Kantonsschülerlaffeeinfältiger, aber eingebildeter junger Kantonsschüler. aus dem neuen Quartierein Stadtteil Aaraus, der in der chronologischen Häuserzählung mit der Nummer 969 (von 1150) beginnt [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau, 1881, S. 46f.]. prahlt damit daß sie jedesmal am FesterSchreibversehen, statt: Fenster. stehe wenn er vorbei gehe. Schön soll sie ja auch gerade nicht sein, die Augen abgerechnet, die Dich ebenso leicht vergiften können, wie den ArmenSchreibversehen, statt: armen. Heine die Thhnen der Donna Clarawohl Anspielung auf eine Strophe im III. Teil von Heinrich Heines Gedicht „Almansor“, wo es über Donna Clara heißt: „Thränenfluth, aus lichten Augen, / Weint die Dame, sorgsam sinnend, / Auf Almansor’s braune Locken – / Und es zuckt um seine Lippen.“ [DHA, Bd. 1 (Buch der Lieder), Die Heimkehr. 1823–1824, S. 325] – Donna Clara ist auch Hauptfigur in Heines Gedichten „Don Ramiro“ und „Donna Clara“ sowie in seiner Tragödie „Almansor“.. Ich sage vergiften. Denn glaube mir, es gl giebt nichts Schrecklicheres, Widerwärtigeres als einen jungen blasirten Greisen, der, nachdem er seine paar Unzen Gehirn bei | irgend einer losen Coquette verpufft hat, als G/g/eistlose Maschine auf der Welt umherirrt. Mach unsern Almanach (crescat!) zu deiner neuen Geliebten u. weise der alten einen Platz darin ein an, so bist du ganz à la GötheAnspielung auf die Gedichte und Gedichtzyklen, die Goethe auf seine Geliebten machte. ihrer los geworden. Du sagst, eine solche Schilderung gäbe ein Zola-artiges SittenbekenntnißMöglicherweise dachte Oskar Schibler bei der Formulierung an Émile Zolas Roman „Nana“ (1880). Den ungewöhnlichen Ausdruck „Sittenbekenntniß“ prägte Goethe im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, Stuttgart 1821, (2. Buch, 1. Kap.): „der einfachste genusz, so wie die einfachste lehre werden bei uns durch gesang belebt und eingeprägt, ja selbst was wir überliefern von glaubens- und sittenbekenntnisz, wird auf dem wege des gesangs mitgetheilt. Göthe“ [DWB, Bd. 16, Sp. 1248].. Laß es doch geben; sobald es psychologisch richtig ist, so findet es in jeder anständigen Schrift z/Z/ulaß. Las ich doch jüngst in der Gartenlaube einen lange AbhandlungDer Artikel „Die zehnte Muse. Ein Wort über die „fahrenden Leute“ des 19. Jahrhunderts“ von Wilhelm Anthony (Pseudonym des Schauspielers, Schriftstellers und Redakteurs Wilhelm Asmus) war 1879 in der Wochenzeitschrift „Die Gartenlaube“ (Jg. 1879, Nr. 41, S. 684-686) erschienen.. über die 10. Muse, das Tingeltangel„Berliner Ausdruck für Singhallen niedrigster Art mit burlesken Gesangsvorträgen und Vorstellungen. Sie erhielten angeblich ihren Namen nach dem Gesangskomiker Tange, der im Triangelbau sein lange populär gebliebenes Triangellied zum besten gab. Nach andern wäre das Wort T. mit der Sache zuerst in Hamburg (dem Dorado der T.) aufgetaucht. Zum Betrieb eines Tingeltangels ist polizeiliche Erlaubnis nötig (Gewerbeordnung, § 33 a), vorkommendenfalls auch die Konzession als Schauspielunternehmen“ [Meyers Großes Konversationslexikon (6. Auflage), 1905-1909, Bd. 19, S. 559].!

Also, reiß Dich los! Antworte ihr nicht, so werden die Geschenke wol mit der Zeit auch aus bleiben | u. sieh zu, daß, bis Du wieder nach Aarau kommstOskar Schibler kam an Weihnachten 1882 und über den Jahreswechsel 1882/83 nach Aarau; die Liaison machte ihm noch mehrere Monate zu schaffen., übe du über die Geschichte lachen und das schöne Weib bemitleidend verachten kannst.! –––

Jetzt leb’ wol. Auch Du hast nun viel zu beantworten. Ich lege Dir eine Probeeine hektographierte Kopie von Wedekinds Gedicht „Subjectiver Idealismus“ [vgl. die Beilage], das er dem Freund in einer früheren Fassung im Vorjahr zur kritischen Beurteilung zugeschickt hatte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881]. von meinem neuen Hektographenein Kopierapparat, Geschenk von Hermann Plümacher [vgl. Wedekind an Hermann Plümacher, 27.11.1882]. bei. Schreibe bald, aber überlege zuvor alles gründlich. Noch einmal: Reiß dich los!! Sei ein Mann!! – O; bitte, bitte, denke daran, was du bist, wer du bist, bevor du die Sache weiter treibst.

In alter Treue

Dein Franklin.


[Beilage:]


Subjectiver Idealismus.


Es muß der Gottheit nicht gefallen haben –
So sprach ich oft zu mir in trüben Stunden, –
die Tugend mit der Weisheit zu vereinen.
Ich suchte einen Freund, doch hab’ ich keinen,
der meinem Ideale gleicht, gefunden.


Ich suchte fort und fort wol viele Jahre,
Bis ich mich niederließ in diesem Thale.
Da sah ich Dich, kaum traut’ ich meinen Blicken.
Ich sah und fand mit freudigem Entzücken
die Wirklichkeit zu meinem Ideale. –––


Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 9 Blatt, davon 17 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Brief: Feder. Tinte. Beilage: Hektograph.
Schriftträger:
Brief: Papier. 4 Doppelblätter. Seitenmaß 11 x 18 cm. Beilage: Papier. 1 Blatt. Seitenmaß 11 x 13.5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die hinteren 3 Doppelblätter hat Wedekind in Tinte mit den römischen Zahlen „II.“, „III“, „IV.“ durchnummeriert (hier nicht wiedergegeben). Die Briefseiten sind womöglich von Wedekind in Bleistift mit arabischen Zahlen versehen (hier ebenfalls nicht wiedergegeben). Beilage: Mit schwarzer Tinte sind Buchstabenteile in den Worten „Blicken“ und „Wirklichkeit“ nachgezeichnet. Mit Bleistift ist die Ziffer „7“ notiert. Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Schreibort kann der Wohnort Wedekinds während der Schultage (Aarau) angenommen werden.

  • Schreibort

    Aarau
    28. November 1882 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Aarau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Solothurn
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
S. 326-328
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 28.11.1882. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

29.08.2023 14:12
Kennung: 4305

Aarau, 28. November 1882 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar
 
 

Inhalt

28.XI.82.

Herzensgeliebter Oskar,

Spät kommst Du, doch du kommst!freies Klassikerzitat aus Friedrich Schillers „Wallenstein. Die Piccolomini“ (1800, I/1): „Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt! Der weite Weg entschuldigt [...] Euer Säumen“ [Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 12, S. 63].“ Meinen besten Dank für Deinen freundlichen Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 25.11.1882 – Oskar Schibler hatte sich fast 2 Wochen Zeit für seine Beantwortung von Wedekinds Brief gelassen [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882].. Es war mir eine unerwartete Überraschung, zu sehen, wie eifrig du auf meinen scheinbar so hoch in den Wolken liegenden Plandie Idee, gemeinsam einen Almanach „Der Osiristempel“ herauszugeben. an eingehst. Zur Sache also! – S Trotz deinen/r/ warmen Theilnahme, will es mich dennoch aus d/D/einen werthen Zeilen bedünken, Du zweifelst noch an der Möglichkeit einer Realisirung meiner/s/ Gedankens. Es sei deshalb meine erste, hoffent|lich leichteste Aufgabe, dich von jedem weiteren Zweifel zu befreien.

„Wo ein Wille sind ist, sind auch Wege“ ist ein Sprichwort, welches zwar nicht an in allen Fällen, hier aber ganz ohne Frage seine volle Geltung hat. Denn an der zweitem/n/ Hauptbedingung außer dem Willen, an der nöthigen GrüzeGeist, Verstand [vgl. DWB, Bd. 9, Sp. 1020]. fehlt es weder dir noch mir, u. wirst/d/ es uns dann gar nicht mehr fehlen, wer/n/n wir einmal begonnen haben, unserer Grüze zu verwerthen und mit mehr Übung, wie auch mit mehr Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen auftreten können. Ich bitte dich, daran zu denken, wie kolossal viel dem man dem Publi|cum bieten darf, wie es gleich einer „rechten Sauim Sinne von: unachtsames, ungebildetes Subjekt.“ mit allem vorlieb nimmt und (um in meinem Bildedas oben mit der „Sau“ eröffnete, dann mit den „Perlen“ fortgeführte Bild ‚Perlen vor die Säue werfen’ nach Matthäus 7,6 [vgl. Büchmann 1879, S. 27]. zu Bl bleiben) für wirkliche Perlen gar kein Auge, kein Ohr, keine Nase hat. Sehr richtig bemerkst Du, daß es absolut für unsere Erstlingswerke nothwendig wäre, originell und neu aufzutreten. Es fragt sich nur, in welcher Weise wir diese Originalität suchen sollen. Du meinst wir sollen z. B. suchen, ScherrJohannes Scherr, dessen dreibändige „Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“ (Leipzig 1852) 1882 gerade ihre 8. Auflage erlebte. in seiner Sprache nachzuahmen. Es fragt sich, ob man uns bei diesem Experiment nicht sehr bald auf die Eisen kommenDen Ausdruck notierte Wedekind im Notizbuch 18 zu seinem Einakter „In allen Wassern gewaschen“ [vgl. 7/II, S. 754 (Notizen zu III,7)]. würde. Meiner Ansicht nach sind wir noch zu unreif, um in der Form originell zu sein; | besonders da so viele andere darin originell sind, daß ein solches originell sein bald gar nicht mehr originell ist. Ich habe einen anderen Gedanken: Meines Wissens hat seit H. Zschokke kein Mensch mehr Aarau u. Umgebung zum Schauplatz v. NouvellenDie 12 Bände umfassende Novellensammlung des Philanthropen und Wahlschweizers Heinrich Zschokke, der sich 1807 in Aarau niedergelassen hatte, erschien in hohen Auflagen, darunter zum Beispiel die historische Erzählung „Der Freihof von Aarau“ (1822/24). e. ct. gemacht, obschon J/j/ährlich verschiedene JugendschriftenSchriften für die Jugend; im Verlag H. R. Sauerländer (Aarau) erschienen seit 1870 die „Mittheilungen über Jugendschriften an Eltern. Lehrer und Bibliotheksvorstände“ (von der Jugendschriftenkommission des Schweizerischen Lehrervereins herausgegeben). e. ct. von bei Sauerländer erscheinen. Ich glaube wenn wir für irgend einen Stoff (Ich habe mir schon einige derer zurechtgelegt) Aarau u. eine der umliegenden Ruinen zum Schauplatz einer NouvelleIn Notizen zu Wedekinds Erzählfragment „Der Schlossgeist“ [vgl. KSA 5/I, S. 287f.], entstanden zwischen Ende November 1882 und Januar 1883 [vgl. KSA 5/I, S. 462], ist zum Schauplatz, wohl Schloss Lenzburg, festgehalten: „Schlossgeist. Ort in Lenzburg. Zeit der Kreuzzüge. Ein Schloßcaplan [...] sagt, er habe in der Schloßchronik den Untergang des Hauses gelesen.“ [KSA 5/I, S. 288] Zum Auftakt von Wedekinds Erzählung „Der Brand von Egliswyl“ (1897), angesiedelt im „Kanton Aargau“, heißt es über den Handlungsort: „Jeder Berggipfel, jeder Vorsprung des Gebirges ist von einem alten Schloß oder doch wenigstens von einer Ruine gekrönt. [...] Im Umkreis von wenigen Meilen liegen da bei einander Wildegg, Habsburg, Bruneck, Casteln, Wildenstein, Lenzburg, Liebegg und Hallwyl.“ [KSA 5/I, S. 172] des Mittelalters machten, wir schon dadurch die Augen der Menge auf uns zögen. |

Ich glaube kaum, daß, wenn über’s Jahr der Almanach (floreat(lat.) er möge gedeihen.!!) eh erschiene/t/Schreibversehen, statt: erscheint., er weiter greifen würde, als über die aargauischen Gebiete und da möchte sich ein j/J/eder recht angeheimelt fühlen, besonders wenn wir recht genau auf DetailsörtlichkeitenUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: auf Detailsörtlichkeiten genau. eingehen würden. Die Kulturquellen zu solch einem Werkchen fänden wir in den beiden QuellenFranz Xaver Bronners zweibändiges Hand- und Hausbuch „Der Kanton Aargau, historisch, geographisch, statistisch geschildert. Beschreibung aller in demselben befindlichen Berge, Seen, Flüsse, Heilquellen, Städte, Flecken, Dörfer und Weiler, so wie der Schlösser, Burgen und Klöster nebst Anweisung, denselben auf die genußreichste und nützlichste Weise zu bereisen“ (1844) und das von Heinrich Boos herausgegebene „Urkundenbuch der Stadt Aarau mit einer historischen Einleitung, Register und Glossar, sowie einer historischen Karte“ (1880).: Bronner, der Aargau u. Boos, Stadt Aarau. Wenn dir damit gedient ist, so sende ich dir einmal den Gedankengang einer solchen Nouvelle zu, und Du magst selber urtheilen, ob sie auszuführen wäre. | Du fragst mich in Deinem lieben Briefe, ob einer von uns schon irgend etwas veröff P Druckfähiges geschrieben habe. Leider kann ich mich bis jetzt noch mit wenigem derart brüsten. Gegenwärtig arbeite ich an Erinnerungen an’s E eidg. Turnfest in italienischen Stanzen.ital. Strophenform mit dem Reimschema ababab/cc, die Goethe im „Faust“ in der „Zueignung“ (V1-32) wählte. – Wedekinds in Versen konzipierter Erinnerungstext ist lediglich als Erzählfragment „Vom Eidgenössischen Turnfest 82. Erinnerungen eines Festbummlers“ [KSA 5/I, S. 284-286] überliefert, nicht aber „Ansätze oder Ausführungen zu einem Versepos“ [KSA 5/I, S. 799]. Ich habe vor, die poetische Erzählung, wenn sie fertig ist, ins Tagblatt zu setze senden u. bin auf den Effect sehr gespannt. + Aber, Oskar, haben wir uns bis jetzt auch M schon jemalsUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: jemals M schon. Mühe gegeben, etwas Al allgemein l/L/esenswerthes zu verfassen? Ich glaube kaum, daß es so et entsetzlich schwer wäre. Sieh doch einmal die PoesienZuletzt waren die Gedichte „Zwei Spätherbstrosen an meinem Bett“ von Ernst Scherenberg, der seit 1874 regelmäßig in der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ publizierte [vgl. Jg. 1882, Heft 45, S. 750], sowie „Das letzte Lächeln“ von Anton Ohorn [vgl. Jg. 1882, Heft 47, S. 782] und „Herbstschauer“ von Hermann Lingg [vgl. Jg. 1882, Heft 48, S. 798] erschienen. an, mit welchen | sich die „Gartenlaube“ brüstet die doch in 3000000 ExemplarenDas illustrierte Familienblatt „Die Gartenlaube“, 1853 von Ernst Keil in der Tradition der belehrenden und unterhaltenden moralischen Wochenschriften gegründet, hatte 1875 eine Auflage von 382.000 Exemplaren [vgl. Andreas Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften im Kaiserreich. In: Georg Jäger: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 1.2, Berlin 2003, S. 427]. monatlich über die ganze Erde verbreitet wird. Und sollte uns einmal der Stoff ausgehen, lesen wir nicht Classiker,: Horazeiner der bedeutendsten römischen Odendichter. Catullrömischer Dichter. e. ct. um irgend ein verborgenes Vergißmeinnicht zu übersetzen u. noch eine gelehrte Abhandlung über Übersetzung u. Übersetzungskunst hinzu zu schreiben? – Überhaupt könnten wir dann auch einige unserer eigenen Produkte für ü/Ü/bersetzungen aus dem Englischen, Französischen e.ct. ausgeben. Sei überzeugt, das zieht ganz gewaltig.

Sehr richtig bemerksSchreibversehen, statt: bemerkst. Du, wir müßten die Stoffe zu unseren Arbeiten aus dem Leben nehmen. | Sagt ja schon Göthe: „Greift nur hinein in’s volle MenschenlebenFrei zitiert nach Goethes Faust: „Greift nur hinein ins volle Menschenleben! / Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, / Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.“ [Faust. Eine Tragödie. Faust I, V 167-169].
„Ein jeder lebts, doch wenigen ists bekannt
„Und wo ihrs packt, da ist es interessant.“

Ich glaube fast, du habest diese Zeilen im Auge gehabt als Du mir jenen guten Rath gabst. Befolgen wir ihn also! Geht man Abends in die Kneipe, ins Theater, aufs Eis; geht man auch nur auf den Bahnhof, oder Markt, so sieht man Menschen und wenn man Menschen hat, so findet sich auch leicht eine Handlung dazu. Das hab’ ich erfahren. Mit etwas Kühnheit geht alles. Du kennst es, glaub ich, auch!

Was die philosophischen Arbeiten anbelangt, so bin ich ganz deiner Meinung. Nur wollen wir | uns s vor exakter Philosophie hüten. Sie gefällt dem Publicum nicht; hingegen gefällt es ihm, elegante Salbadereien„langweilige, alberne schwätzerei oft mit dem nebensinn des frömmelnden tons“ [DWB, Bd. 14, Sp. 1682]. unter dem Mantel exacter Wissenschaft zu vernehmen. Du kennst den Demokritos v. WeberKarl Julius Webers 1832 bis 1859 in Stuttgart erschienener „Dymocritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen (Von dem Verfasser der Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen)“ ist ein 11 Bände umfassendes satirisches „Kompendium der Weltweisheit.[...] des lachenden, satirischen, polit.[ischen], von anthropolog.[ischer] Neugier getriebenen u. positiv die Fülle der Erscheinungen registrierenden, diesseitsverhafteten ‚Philosophen‘“ [Ulfert Ricklefs: Weber, Karl Julius. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 12, 2011, S. 171].. Nehmen wir uns den zum Muster! Die Kraft ausdrücke und kühnen unverschämten Behauptungen hat er mit Joh. Scherr gemein. Und solches Z/z/ieht. Stets aber müssen wir auf ein gefälliges Gewand sehen. Du hast den Philosoph für d. Welt v. EngelDer Aufklärer Johann Jakob Engel gab in 5 Bänden (1775, 1777, 1787, 1800, 1801) die popularphilosophische Zeitschrift „Der Philosoph für die Welt“ heraus, für die führende Spätaufklärer wie Immanuel Kant, Moses Mendelssohn, Christian Garve oder Engel selbst Beiträge zur philosophischen Schul- und Volksbildung lieferten. gelesen. Engel füllt entwickelt in einfachen Situationen sehr tiefe Gedanken. Nehmen wir die Situationen etwas origineller und die Gedanken etwas leichter, so haben wir | einen trefflichen Ohrenschmaus für das heutige denkfaule Publikum. Auch in diesem Fach hab’ ich bereits eine sehr originelle Idee, doch die ich Dir ebenfalls auf deinen WunkSchreibversehen, statt: Wink (oder: Wunsch). zur Kritik übersenden werde. Was die heutigen Zustände u. Sot/c/ialen Verhältnisse anbelangt, so glaube ich, daß wir allerdings auch hierin etwas ins Handwerk pfuschen können müssen, daß aber über solche Punkte fortwährend so viel Gediegenes geschrieben wird, daß wir am besten thun würden, nur dies Gediegene zu benutzen um unsere Leser auch im politisch s/S/ot/c/ialen Fache kennt Wissenschaft zu befriedigen. Ebenso n/N/aturwissenschaft, in welchem Fach ich mich nur auf picuanteSchreibversehen, statt: piquant; (frz.) gewürzt, scharf (ja nicht abstoßend natürliche!) Themata beschränken möchte. |

Überhaupt sei es unser Bestreben, nicht sowohl viel, als vielmehr vielerlei zu bieten; von Gedichten aber nur soviel, als zur Dekoration des ganzen Werkes absolut nothwendig ist, und statt langer Gedichte, lieber kleine Heinische Geistes-blitze (à la Heine) aufzunehmen.

Was die Kritik anbelangt, so glaube auch ichUmstellung im Satz durch Umstellungszeichen, von: ich auch., daß gegenseitige Kritik die beste ist. Vor fremder Kritik brauchen wir uns nicht zu fürchten, denn so bald einmal in neu öffentlichen Blättern über unser Kind geschimpft wird, so soll es uns an ciceronianischen Vertheidigungenden Stil des Rhetorikers, Philosophen und Anwalts Marcus Tullius Cicero nachahmende Verteidigungsreden. (natürlich alles anonym) nicht fehlen und unser Kind wird auf diese Weise wol am | besten in die große Welt eingefüht/r/t. Übrigens könnte, wenn ein solcher Angriff nicht stattfinden sollte, auch einer von uns sich zu dem Geschäft herbeilassen, worauf der andere die Antwort verfaßen würde müsste. Wir hätten d alsdann den Vortheil, das/ß/ wir die beiden Schriftstücke zuerst mit einander vergleichen und so einrichten könnten, daß der Angriff mit einem glänzenden Siege zurückgeschlagen würde.

Also vorwärts lieber Oskar! Unverwandt blick in die Zukunft! Sie ist wahrhaft göttlich! Wir unternehmen nichts Unausführliches L/l/uftschlösserartiges. Bedenke, daß Schiller | im/n/ seinem 17. Jahre die Räuber schrieb1776 mit 16 Jahren hatte Friedrich Schiller mit der Arbeit an seinem Schauspiel „Die Räuber“, ein Lesedrama in fünf Akten, begonnen, 1781 wurde es anonym veröffentlicht und am 13.1.1782 in Mannheim uraufgeführt... Welch eine Schande, wenn wir im 19/8/ noch nicht im Stande wären, einen lumpigen Almanach zusammenzuschmirenSchreibversehen, statt: zusammenzuschmieren.! – Ist das u/U/nternehmen einmal geglückt, so soll es das zweite Mal schon besser werden! Glückt es nicht, so ist am e/E/nde auch nichts verloren.

Die Angelegenheit mit E. v B.Die Initialen einer verheirateten Frau aus Aarau, mit der Oskar Schibler im Herbst 1882 eine Affäre hatte. hat mir mehr zu denken zu gegeben, als du wol meinst. Den letzten Theil Deines l. Briefes habe ich nun schon fünf Mal durchgelesen, was allerdings auch mit Deiner miserabelnSchreibversehen, statt: miserablen. Schrift zusammen hängt. |

Ich bitte Dich, mach Dich los!

Ich kann kaum glauben, daß du dich sonderlich zu solch einem Weibe hingezogen fühlen kannst. Hier genießt sie einen sehr zweideutigen Ruf und jeder Kantonsschülerlaffeeinfältiger, aber eingebildeter junger Kantonsschüler. aus dem neuen Quartierein Stadtteil Aaraus, der in der chronologischen Häuserzählung mit der Nummer 969 (von 1150) beginnt [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau, 1881, S. 46f.]. prahlt damit daß sie jedesmal am FesterSchreibversehen, statt: Fenster. stehe wenn er vorbei gehe. Schön soll sie ja auch gerade nicht sein, die Augen abgerechnet, die Dich ebenso leicht vergiften können, wie den ArmenSchreibversehen, statt: armen. Heine die Thhnen der Donna Clarawohl Anspielung auf eine Strophe im III. Teil von Heinrich Heines Gedicht „Almansor“, wo es über Donna Clara heißt: „Thränenfluth, aus lichten Augen, / Weint die Dame, sorgsam sinnend, / Auf Almansor’s braune Locken – / Und es zuckt um seine Lippen.“ [DHA, Bd. 1 (Buch der Lieder), Die Heimkehr. 1823–1824, S. 325] – Donna Clara ist auch Hauptfigur in Heines Gedichten „Don Ramiro“ und „Donna Clara“ sowie in seiner Tragödie „Almansor“.. Ich sage vergiften. Denn glaube mir, es gl giebt nichts Schrecklicheres, Widerwärtigeres als einen jungen blasirten Greisen, der, nachdem er seine paar Unzen Gehirn bei | irgend einer losen Coquette verpufft hat, als G/g/eistlose Maschine auf der Welt umherirrt. Mach unsern Almanach (crescat!) zu deiner neuen Geliebten u. weise der alten einen Platz darin ein an, so bist du ganz à la GötheAnspielung auf die Gedichte und Gedichtzyklen, die Goethe auf seine Geliebten machte. ihrer los geworden. Du sagst, eine solche Schilderung gäbe ein Zola-artiges SittenbekenntnißMöglicherweise dachte Oskar Schibler bei der Formulierung an Émile Zolas Roman „Nana“ (1880). Den ungewöhnlichen Ausdruck „Sittenbekenntniß“ prägte Goethe im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, Stuttgart 1821, (2. Buch, 1. Kap.): „der einfachste genusz, so wie die einfachste lehre werden bei uns durch gesang belebt und eingeprägt, ja selbst was wir überliefern von glaubens- und sittenbekenntnisz, wird auf dem wege des gesangs mitgetheilt. Göthe“ [DWB, Bd. 16, Sp. 1248].. Laß es doch geben; sobald es psychologisch richtig ist, so findet es in jeder anständigen Schrift z/Z/ulaß. Las ich doch jüngst in der Gartenlaube einen lange AbhandlungDer Artikel „Die zehnte Muse. Ein Wort über die „fahrenden Leute“ des 19. Jahrhunderts“ von Wilhelm Anthony (Pseudonym des Schauspielers, Schriftstellers und Redakteurs Wilhelm Asmus) war 1879 in der Wochenzeitschrift „Die Gartenlaube“ (Jg. 1879, Nr. 41, S. 684-686) erschienen.. über die 10. Muse, das Tingeltangel„Berliner Ausdruck für Singhallen niedrigster Art mit burlesken Gesangsvorträgen und Vorstellungen. Sie erhielten angeblich ihren Namen nach dem Gesangskomiker Tange, der im Triangelbau sein lange populär gebliebenes Triangellied zum besten gab. Nach andern wäre das Wort T. mit der Sache zuerst in Hamburg (dem Dorado der T.) aufgetaucht. Zum Betrieb eines Tingeltangels ist polizeiliche Erlaubnis nötig (Gewerbeordnung, § 33 a), vorkommendenfalls auch die Konzession als Schauspielunternehmen“ [Meyers Großes Konversationslexikon (6. Auflage), 1905-1909, Bd. 19, S. 559].!

Also, reiß Dich los! Antworte ihr nicht, so werden die Geschenke wol mit der Zeit auch aus bleiben | u. sieh zu, daß, bis Du wieder nach Aarau kommstOskar Schibler kam an Weihnachten 1882 und über den Jahreswechsel 1882/83 nach Aarau; die Liaison machte ihm noch mehrere Monate zu schaffen., übe du über die Geschichte lachen und das schöne Weib bemitleidend verachten kannst.! –––

Jetzt leb’ wol. Auch Du hast nun viel zu beantworten. Ich lege Dir eine Probeeine hektographierte Kopie von Wedekinds Gedicht „Subjectiver Idealismus“ [vgl. die Beilage], das er dem Freund in einer früheren Fassung im Vorjahr zur kritischen Beurteilung zugeschickt hatte [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881]. von meinem neuen Hektographenein Kopierapparat, Geschenk von Hermann Plümacher [vgl. Wedekind an Hermann Plümacher, 27.11.1882]. bei. Schreibe bald, aber überlege zuvor alles gründlich. Noch einmal: Reiß dich los!! Sei ein Mann!! – O; bitte, bitte, denke daran, was du bist, wer du bist, bevor du die Sache weiter treibst.

In alter Treue

Dein Franklin.


[Beilage:]


Subjectiver Idealismus.


Es muß der Gottheit nicht gefallen haben –
So sprach ich oft zu mir in trüben Stunden, –
die Tugend mit der Weisheit zu vereinen.
Ich suchte einen Freund, doch hab’ ich keinen,
der meinem Ideale gleicht, gefunden.


Ich suchte fort und fort wol viele Jahre,
Bis ich mich niederließ in diesem Thale.
Da sah ich Dich, kaum traut’ ich meinen Blicken.
Ich sah und fand mit freudigem Entzücken
die Wirklichkeit zu meinem Ideale. –––


Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 9 Blatt, davon 17 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Brief: Feder. Tinte. Beilage: Hektograph.
Schriftträger:
Brief: Papier. 4 Doppelblätter. Seitenmaß 11 x 18 cm. Beilage: Papier. 1 Blatt. Seitenmaß 11 x 13.5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die hinteren 3 Doppelblätter hat Wedekind in Tinte mit den römischen Zahlen „II.“, „III“, „IV.“ durchnummeriert (hier nicht wiedergegeben). Die Briefseiten sind womöglich von Wedekind in Bleistift mit arabischen Zahlen versehen (hier ebenfalls nicht wiedergegeben). Beilage: Mit schwarzer Tinte sind Buchstabenteile in den Worten „Blicken“ und „Wirklichkeit“ nachgezeichnet. Mit Bleistift ist die Ziffer „7“ notiert. Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Schreibort kann der Wohnort Wedekinds während der Schultage (Aarau) angenommen werden.

  • Schreibort

    Aarau
    28. November 1882 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Aarau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Solothurn
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
S. 326-328
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 28.11.1882. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

29.08.2023 14:12