Vergleichsansicht

Bitte wählen Sie je ein Dokument für die linke und rechte Seite über die Eingabefelder aus.

Kennung: 4277

Paris, 14. März 1892 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Inhalt

Paris, 14.III.1892.


Lieber Bruder,

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 13.3.1892. und Dein freundliches Anerbieten. Ich bitte Dich demnach die PapiereWedekinds Vater hatte das Familienvermögen in Wertpapieren angelegt. Mit dem Verkauf seines Erbteils finanzierte Wedekind seinen Paris-Aufenthalt. wenn möglich alle in Zürich zu verkaufen, die Summe, die ich Matifamiliärer Spitzname für Wedekinds jüngste Schwester Emilie. schulde, abzuziehen und mir den Rest in baar herzuschicken, wenn möglich bis Ende dieses Monats oder in den ersten Tagen des April.

Was mich betrifft so habe ich in der letzten Zeit ziemlich fleißig gearbeitetIn der ersten Jahreshälfte 1892 arbeitete Wedekind in Paris vor allem an dem Schwank „Fritz Schwigerling“ [vgl. KSA 2, S. 997], den er am 11.7.1892 abschloss [vgl. Tb].. Hoffe bald wieder mit etwas fertig zu sein. An neuen Bekanntschaften hab ich die von Frl. BreslauLouise-Cathérine Breslau (Avenue de Ternes 40) [vgl. Paris-Adresses 1893, Teil I, S. 197; Teil IV, S. 2450], in Zürich aufgewachsene deutsche Malerin, die 1876 zum Kunststudium an die Académie Julian nach Paris gegangen war, seit 1879 im Salon de Paris ausstellte und 1889 auf der Pariser Weltausstellung die Goldmedaille erhalten hatte; eine ausführliche Charakterisierung von ihr findet sich in Wedekinds Tagebuch [vgl. Tb, 19.1.1894]. und Max NordauDr. med. Max Nordau (Avenue de Villiers 34) [vgl. Paris-Adresses 1893, Teil II, S. 679], Arzt (Gynäkologe), Kulturkritiker und Schriftsteller, seit 1880 in Paris lebend. gemacht, einige unbedeutendere nicht gerechnet. Frl. Breslau ist das interessanteste Weib, das mir je an der Nase vorbei gelaufen. Ich habe sie übrigens erst einmal gesehen, hatte aber drei Tage lang an einem eigenthümlichen Kribbeln in den Extremitäten zu laborirenleiden; mit einer Krankheit beschäftigt sein.. Die ReceptionAufnahme. fand in ihrem Atelier statt bei Thee, AstiWein aus der Region Asti im Piemont, die vor allem für ihre Schaumweine bekannt war. und Cigaretten. Letztere waren auch mir ein großer Trost, da man hier im Allgemeinen in Gesellschaft nicht zu rauchen pflegt. Die Pariser leben überhaupt so mäßig, wie ich selten ein Volk habe leben sehen. Sie trinken nicht, sie rauchen nicht. Alles concentrirt sich bei ihnen auf die Liebe. Aber auch die hat im großen Ganzen etwas wässriges Seichtes. Zu irgend welcher Größe erhebt sie sich nicht. Es ist ein fortgesetztes Flackern ohne Blitze und Explosionen.

Max Nordau hat mich sofort zum Diner eingeladen. Er ist Dr. med. und hat eine große Praxis. Man unterhält sich vorzüglich in seiner Gesellschaft, in der man Gott sei Dank alles sagen kann. Er selber ist schonungslos, gesteht aber anderen Sterblichen das nämliche Recht zu. So entsteht eine Lebhaftigkeit in der Conversation, die beruhigend und anregend wirkt. Die zweifellos gemütlichsten Nachmittage verlebe ich hier jeden Freitag in Gesellschaft zweier junger Amerikanerinnennicht identifiziert., die einmal per Woche die Blüthe der Unionder Vereinigten Staaten von Amerika. um sich versammeln. Sie entstammen beide den höchsten Gesellschaftskreisen Bostons und huldigen dem anbetungswürdigen Princip alles kennen zu lernen. Ich machte bei ihnen die Bekanntschaft eines amerikanischen Componistennicht identifiziert., der in seiner Heimat schon mehrere Operetten auf den Brettern hat und mit dem ich mich aufs beste befreundete. Nächste Woche treffe ich die Damen auf dem Maskenball der Akademie Juliendie Académie de painture von Rodolphe Julian in der Galerie Montmartre (Passage de Panoramas 27) [vgl. Paris-Adresses 1893, Teil I, S. 512], eine 1868 gegründete private Kunstakademie, die vor allem bei ausländischen Studierenden beliebt war und bei der auch Frauen an lebenden Modellen ausgebildet wurden., den die Modelle, soweit sie Schönheiten aufzuweisen haben, unmaskirt besuchen, und erstrecke sich die Schönheit noch so weit. „Sie müssen kommen, sagte Miß Whitoneine der beiden oben genannten Amerikanerinnen. zu mir, es wird sehr schlecht; ich freue mich.“

Bei Frl. HünyDie Schweizer Journalistin Emilie Hüni lebte seit 1881 in Paris und berichtete von dort unter anderem regelmäßig für die „Neue Zürcher Zeitung“. traf ich letzte Woche einen Freund von Amor KirchhoferLeo Kirchhofer, Jurist und späterer Bezirksgerichtspräsident in St. Gallen, mit dem Armin Wedekind zur selben Zeit in Zürich studiert hatte und der zu seinen Korrespondenzpartnern gehörte. Seine Briefe an Armin Wedekind unterschrieb er mit Amor Kirchhofer., einen Herrn Fäsinicht identifiziert.. Er fragte nach Dir, persönlich kennt er Dich nicht, aber Amor Kirchhofer muß ihm oft erzählt, besonders von Deiner HochzeitArmin Wedekind und Emma Frey hatten am 21.3.1889 geheiratet. vorgeschwärmt haben. Bei einer jungen SteingutmalerinSophie Schäppi aus Winterthur; die schweizerische Künstlerin besuchte seit 1874 die Académie Julian in Paris und hatte eine Ateliergemeinschaft mit Louise-Cathérine Breslau. Als Fayencemalerin war sie für die Keramik-Manufaktur Théodore Deck tätig. Wedekind gab ihre aktuelle Adresse an den mit ihr befreundeten Michael Georg Conrad weiter [vgl. Wedekind an Michael Georg Conrad,13.5.1892]. , einer Freundin von Dr. Conradder naturalistische Schriftsteller und Publizist Michael Georg Conrad, der von 1878 bis 1882 als Journalist und Korrespondent in Paris gelebt hatte; Vorsitzender der Gesellschaft für modernes Leben, die nach Berliner Vorbild in München eine Freie Bühne einrichten wollte, von der sich Wedekind eine Aufführung seines Stücks „Kinder und Narren“ erhoffte [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 24.5.1891]., sah ich vor einiger Zeit eine Karikatur von S. H.wohl Selma Hartleben (geb. Hesse; genannt ‘Moppchen’), ehemalige Kellnerin und langjährige Lebensgefährtin, seit 1893 Gattin des mit Wedekind befreundeten Schriftstellers Otto Erich Hartleben., noch dazu von hinten, aber unverkennbar. Ich bemerkte ihr, wie klein doch diese Welt sei, was sie auch ohne Einwand zugestand. Mit zwei deutschen Malerinnennicht identifiziert. aus dem Atelier Rossidie Académie Colarossi (Rue de la Grande-Chaumière 10) [vgl. Paris-Adresses 1893, Teil IV, S. 2001] des Bildhauers Filippo Colarossi war eine private Kunstakademie, an der auch Frauen die Arbeit mit Aktmodellen möglich war. bringe ich dann und wann angenehme Abende zu in Moulin rouge oder im Casino de Paris, und einem jungen Pariser Philosophennicht identifiziert. Wedekind hat ihm auch mit Notizen zu einem Nietzsche-Vortrag an der Sorbonne ausgeholfen [vgl. Wedekind an Michael Georg Conrad, 13.5.1892]. bin ich bei der Uebersetzung von NietzscheZu den frühen Übersetzungen Nietzsches ins Französische zählt die Übertragung von „Der Fall Wagner“ durch den 20jährigen Daniel Halévy und den 19jährigen Robert Dreyfus („Le cas de Wagner, un problème musical.“ Paris 1893), zwei ehemaligen Mitschülern Marcel Prousts. behülflich. Er hat mich in die Bohème des Quartier LatinPariser Studenten- und Künstlerviertel. eingeführt, wo die weltberühmten Grisetten„(franz.), ursprünglich ein graues Hauskleid, dann ein unscheinbar gekleidetes Mädchen, das selbständig als Wäscherin, Näherin, Putzmacherin etc. von Handarbeit lebt und einen nicht ganz vorwurfsfreien Lebenswandel führt. Namentlich bezeichnete man in Paris als Grisettes du quartier latin die Geliebten der Studenten, Künstler etc., die ihren Liebhabern zeitweise den Haushalt führten. Seit jeher aber stand der Begriff im Gegensatz zur Kokotte, der berufsmäßigen Buhlerin.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 8. Leipzig 1907, S. 349] blühen. Es sind unglaublich drollige Geschöpfe, wie PuckFigur aus Shakespeares Komödie „Ein Sommernachtsraum“ (1600), Hofnarr des Elfenkönigs Oberon. im Sommernachtstraum. Die Studenten leben mit ihnen wie das liebe Vieh zusammen. Das Leben meiner Münchner Freunde mit ihren Modellen hatte mehr Romantik. Hier ist alles kindlich naiv. Wenn ich an PohlAnton Pohl, Kunstmaler in München (Theresienstraße 65, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch für München 1890, Teil I, S. 264] war Student an der Münchner Kunstakademie [https://matrikel.adbk.de/matrikel/mb_1884-1920/jahr_1887/matrikel-00392]. Wedekind listete ihn im Tagebuch unter seinen Bekannten auf („Pohl Maler“) und datierte die Bekanntschaft auf das Jahr 1890 [vgl. Tb, S. 53 und S. 115]. zurückdenke, beschleicht mich ein Heimweh eigener Art wie nach den Geistern im Höllenpfuhl.

Nun leb wohl lieber Bruder. Nochmals herzlichen Dank für Deine Liebenswürdigkeit, mit der Du meiner gedenkst. Es war thatsächlich Zeit, mich an mein eigenes Interesse zu mahnen. Empfange meine besten Grüße. Grüße Emma aufs herzlichste von mir. In der Zuversicht, daß Deine Lieben sich im besten Wohlsein befinden, Dein treuer Bruder
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Paris
    14. März 1892 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Paris
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Riesbach
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
229-231
Briefnummer:
92
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Armin (Hami) Wedekind, 14.3.1892. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

25.06.2024 14:14
Kennung: 4277

Paris, 14. März 1892 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Armin (Hami)
 
 

Inhalt

Paris, 14.III.1892.


Lieber Bruder,

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 13.3.1892. und Dein freundliches Anerbieten. Ich bitte Dich demnach die PapiereWedekinds Vater hatte das Familienvermögen in Wertpapieren angelegt. Mit dem Verkauf seines Erbteils finanzierte Wedekind seinen Paris-Aufenthalt. wenn möglich alle in Zürich zu verkaufen, die Summe, die ich Matifamiliärer Spitzname für Wedekinds jüngste Schwester Emilie. schulde, abzuziehen und mir den Rest in baar herzuschicken, wenn möglich bis Ende dieses Monats oder in den ersten Tagen des April.

Was mich betrifft so habe ich in der letzten Zeit ziemlich fleißig gearbeitetIn der ersten Jahreshälfte 1892 arbeitete Wedekind in Paris vor allem an dem Schwank „Fritz Schwigerling“ [vgl. KSA 2, S. 997], den er am 11.7.1892 abschloss [vgl. Tb].. Hoffe bald wieder mit etwas fertig zu sein. An neuen Bekanntschaften hab ich die von Frl. BreslauLouise-Cathérine Breslau (Avenue de Ternes 40) [vgl. Paris-Adresses 1893, Teil I, S. 197; Teil IV, S. 2450], in Zürich aufgewachsene deutsche Malerin, die 1876 zum Kunststudium an die Académie Julian nach Paris gegangen war, seit 1879 im Salon de Paris ausstellte und 1889 auf der Pariser Weltausstellung die Goldmedaille erhalten hatte; eine ausführliche Charakterisierung von ihr findet sich in Wedekinds Tagebuch [vgl. Tb, 19.1.1894]. und Max NordauDr. med. Max Nordau (Avenue de Villiers 34) [vgl. Paris-Adresses 1893, Teil II, S. 679], Arzt (Gynäkologe), Kulturkritiker und Schriftsteller, seit 1880 in Paris lebend. gemacht, einige unbedeutendere nicht gerechnet. Frl. Breslau ist das interessanteste Weib, das mir je an der Nase vorbei gelaufen. Ich habe sie übrigens erst einmal gesehen, hatte aber drei Tage lang an einem eigenthümlichen Kribbeln in den Extremitäten zu laborirenleiden; mit einer Krankheit beschäftigt sein.. Die ReceptionAufnahme. fand in ihrem Atelier statt bei Thee, AstiWein aus der Region Asti im Piemont, die vor allem für ihre Schaumweine bekannt war. und Cigaretten. Letztere waren auch mir ein großer Trost, da man hier im Allgemeinen in Gesellschaft nicht zu rauchen pflegt. Die Pariser leben überhaupt so mäßig, wie ich selten ein Volk habe leben sehen. Sie trinken nicht, sie rauchen nicht. Alles concentrirt sich bei ihnen auf die Liebe. Aber auch die hat im großen Ganzen etwas wässriges Seichtes. Zu irgend welcher Größe erhebt sie sich nicht. Es ist ein fortgesetztes Flackern ohne Blitze und Explosionen.

Max Nordau hat mich sofort zum Diner eingeladen. Er ist Dr. med. und hat eine große Praxis. Man unterhält sich vorzüglich in seiner Gesellschaft, in der man Gott sei Dank alles sagen kann. Er selber ist schonungslos, gesteht aber anderen Sterblichen das nämliche Recht zu. So entsteht eine Lebhaftigkeit in der Conversation, die beruhigend und anregend wirkt. Die zweifellos gemütlichsten Nachmittage verlebe ich hier jeden Freitag in Gesellschaft zweier junger Amerikanerinnennicht identifiziert., die einmal per Woche die Blüthe der Unionder Vereinigten Staaten von Amerika. um sich versammeln. Sie entstammen beide den höchsten Gesellschaftskreisen Bostons und huldigen dem anbetungswürdigen Princip alles kennen zu lernen. Ich machte bei ihnen die Bekanntschaft eines amerikanischen Componistennicht identifiziert., der in seiner Heimat schon mehrere Operetten auf den Brettern hat und mit dem ich mich aufs beste befreundete. Nächste Woche treffe ich die Damen auf dem Maskenball der Akademie Juliendie Académie de painture von Rodolphe Julian in der Galerie Montmartre (Passage de Panoramas 27) [vgl. Paris-Adresses 1893, Teil I, S. 512], eine 1868 gegründete private Kunstakademie, die vor allem bei ausländischen Studierenden beliebt war und bei der auch Frauen an lebenden Modellen ausgebildet wurden., den die Modelle, soweit sie Schönheiten aufzuweisen haben, unmaskirt besuchen, und erstrecke sich die Schönheit noch so weit. „Sie müssen kommen, sagte Miß Whitoneine der beiden oben genannten Amerikanerinnen. zu mir, es wird sehr schlecht; ich freue mich.“

Bei Frl. HünyDie Schweizer Journalistin Emilie Hüni lebte seit 1881 in Paris und berichtete von dort unter anderem regelmäßig für die „Neue Zürcher Zeitung“. traf ich letzte Woche einen Freund von Amor KirchhoferLeo Kirchhofer, Jurist und späterer Bezirksgerichtspräsident in St. Gallen, mit dem Armin Wedekind zur selben Zeit in Zürich studiert hatte und der zu seinen Korrespondenzpartnern gehörte. Seine Briefe an Armin Wedekind unterschrieb er mit Amor Kirchhofer., einen Herrn Fäsinicht identifiziert.. Er fragte nach Dir, persönlich kennt er Dich nicht, aber Amor Kirchhofer muß ihm oft erzählt, besonders von Deiner HochzeitArmin Wedekind und Emma Frey hatten am 21.3.1889 geheiratet. vorgeschwärmt haben. Bei einer jungen SteingutmalerinSophie Schäppi aus Winterthur; die schweizerische Künstlerin besuchte seit 1874 die Académie Julian in Paris und hatte eine Ateliergemeinschaft mit Louise-Cathérine Breslau. Als Fayencemalerin war sie für die Keramik-Manufaktur Théodore Deck tätig. Wedekind gab ihre aktuelle Adresse an den mit ihr befreundeten Michael Georg Conrad weiter [vgl. Wedekind an Michael Georg Conrad,13.5.1892]. , einer Freundin von Dr. Conradder naturalistische Schriftsteller und Publizist Michael Georg Conrad, der von 1878 bis 1882 als Journalist und Korrespondent in Paris gelebt hatte; Vorsitzender der Gesellschaft für modernes Leben, die nach Berliner Vorbild in München eine Freie Bühne einrichten wollte, von der sich Wedekind eine Aufführung seines Stücks „Kinder und Narren“ erhoffte [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 24.5.1891]., sah ich vor einiger Zeit eine Karikatur von S. H.wohl Selma Hartleben (geb. Hesse; genannt ‘Moppchen’), ehemalige Kellnerin und langjährige Lebensgefährtin, seit 1893 Gattin des mit Wedekind befreundeten Schriftstellers Otto Erich Hartleben., noch dazu von hinten, aber unverkennbar. Ich bemerkte ihr, wie klein doch diese Welt sei, was sie auch ohne Einwand zugestand. Mit zwei deutschen Malerinnennicht identifiziert. aus dem Atelier Rossidie Académie Colarossi (Rue de la Grande-Chaumière 10) [vgl. Paris-Adresses 1893, Teil IV, S. 2001] des Bildhauers Filippo Colarossi war eine private Kunstakademie, an der auch Frauen die Arbeit mit Aktmodellen möglich war. bringe ich dann und wann angenehme Abende zu in Moulin rouge oder im Casino de Paris, und einem jungen Pariser Philosophennicht identifiziert. Wedekind hat ihm auch mit Notizen zu einem Nietzsche-Vortrag an der Sorbonne ausgeholfen [vgl. Wedekind an Michael Georg Conrad, 13.5.1892]. bin ich bei der Uebersetzung von NietzscheZu den frühen Übersetzungen Nietzsches ins Französische zählt die Übertragung von „Der Fall Wagner“ durch den 20jährigen Daniel Halévy und den 19jährigen Robert Dreyfus („Le cas de Wagner, un problème musical.“ Paris 1893), zwei ehemaligen Mitschülern Marcel Prousts. behülflich. Er hat mich in die Bohème des Quartier LatinPariser Studenten- und Künstlerviertel. eingeführt, wo die weltberühmten Grisetten„(franz.), ursprünglich ein graues Hauskleid, dann ein unscheinbar gekleidetes Mädchen, das selbständig als Wäscherin, Näherin, Putzmacherin etc. von Handarbeit lebt und einen nicht ganz vorwurfsfreien Lebenswandel führt. Namentlich bezeichnete man in Paris als Grisettes du quartier latin die Geliebten der Studenten, Künstler etc., die ihren Liebhabern zeitweise den Haushalt führten. Seit jeher aber stand der Begriff im Gegensatz zur Kokotte, der berufsmäßigen Buhlerin.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 8. Leipzig 1907, S. 349] blühen. Es sind unglaublich drollige Geschöpfe, wie PuckFigur aus Shakespeares Komödie „Ein Sommernachtsraum“ (1600), Hofnarr des Elfenkönigs Oberon. im Sommernachtstraum. Die Studenten leben mit ihnen wie das liebe Vieh zusammen. Das Leben meiner Münchner Freunde mit ihren Modellen hatte mehr Romantik. Hier ist alles kindlich naiv. Wenn ich an PohlAnton Pohl, Kunstmaler in München (Theresienstraße 65, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch für München 1890, Teil I, S. 264] war Student an der Münchner Kunstakademie [https://matrikel.adbk.de/matrikel/mb_1884-1920/jahr_1887/matrikel-00392]. Wedekind listete ihn im Tagebuch unter seinen Bekannten auf („Pohl Maler“) und datierte die Bekanntschaft auf das Jahr 1890 [vgl. Tb, S. 53 und S. 115]. zurückdenke, beschleicht mich ein Heimweh eigener Art wie nach den Geistern im Höllenpfuhl.

Nun leb wohl lieber Bruder. Nochmals herzlichen Dank für Deine Liebenswürdigkeit, mit der Du meiner gedenkst. Es war thatsächlich Zeit, mich an mein eigenes Interesse zu mahnen. Empfange meine besten Grüße. Grüße Emma aufs herzlichste von mir. In der Zuversicht, daß Deine Lieben sich im besten Wohlsein befinden, Dein treuer Bruder
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Paris
    14. März 1892 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Paris
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Riesbach
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
229-231
Briefnummer:
92
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Armin (Hami) Wedekind, 14.3.1892. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

25.06.2024 14:14