Paris, Neujahrstag 1892.
Lieber Bruder
herzlichen Dank für Deine rasche HülfeFrank Wedekind hatte seinen Bruder zuletzt um die schnelle Übersendung von Geld gebeten [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 29.12.1891], das offenbar bereits eingetroffen war. Zugleich Hinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben, ein Telegramm, zu der Geldsendung [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 4.1.1892]; erschlossenes Korrespondenzstück: Armin Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1891.. Ich habe mir gleich
einen schwarzen Frackanzug machen lassen; Paris ist thatsächlich über alle
Illusion erhaben. Es wird mir schwer meine Eindrücke zu sammeln. Das
fabelhafteste ist dabei die grenzenlose Behaglichkeit. Ich bin, was Wäsche,
Kleider etc. betrifft, sehr reduzirt angekommenFrank Wedekind war für seinen mehrjährigen Aufenthalt am 29.12.1891 in Paris eingetroffen.. Dessenungeachtet fällt es auch
im feinsten Café niemandem ein, Einen schief anzusehen. Die übrigen Menschen
sehen zum größten Theil ungefähr ebenso aus. Bekannte habe ich schon eine ganze
Menge hier – leider noch keine Franzosen, aber das wird kommen, sobald ich die
Leute verstehen gelernt. Gleich am ersten Tag war ich bei Frl. HünyDie Schweizer Journalistin Emilie Hüni lebte seit 1881 in Paris und berichtete von dort unter anderem regelmäßig unter dem Pseudonym „E. H.“ für die „Neue Zürcher Zeitung“., vorgestern war
Mr. LewisLeo Rich Lewis aus Woodstock in Vermont studierte drei Jahre an der Königlichen Musikschule in München Komposition und schloss beim Prüfungskonzert am 30.6.1892 mit Auszeichnung ab [vgl. Jahresbericht der K. Musikschule in München. 16. 1889/90, S. 10; 17. 1890/91, S. 10; 18. 1891/92, S. 10, 12 u. 41], der mit Wedekind seine Reise nach Paris angetreten hatte [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 29.12.1891]. bei mir
und heute bei Tisch treffe ich zwei Münchner Malerinnennicht identifiziert. In Paris hatte Wedekind engen Kontakt zu der Münchner Malerin Käthe Juncker sowie zu den Schwestern Rosa und Elisabeth Krüger, beide Malerinnen, die aber erst am 12.5.1892 eintrafen [vgl. Tb]., die mir sofort ihre
Adresse aufhalsten. Frl. Hüny will mich mit der bedeutendsten Malerin bekannt machen, die
die Welt besitzt, nämlich mit Frl. BreslauDie in Zürich aufgewachsene deutsche Malerin Louise-Cathérine Breslau war die berühmteste Malerin ihrer Zeit in Paris. 1876 war sie zum Kunststudium an die Académie Julian nach Paris gegangen, stellte seit 1879 im Salon de Paris aus und hatte 1889 auf der Pariser Weltausstellung die Goldmedaille erhalten. Sie war eine Freundin Emilie Hünis, mit der sie sich auch über die Werke Wedekinds austauschte.. Außerdem sagte sie mir, daß Fritz Fleinerehemaliger Schüler der Kantonsschule Aarau, ein jüngerer Bruder des Züricher Journalisten Albert Fleiner, der wie Emilie Hüni fur die „Neue Züricher Zeitung“ schrieb. hier ist. Sie
ist eine sehr decidirte Dame, vollkommene Pariserin und bedauert es, daß Zürich
so sehr unter deutschem Einfluß steht. – Von den Herrlichkeiten der Stadt habe
ich noch wenig gesehen.
Am zweiten TagWedekind sah am 30.12.1891 um 20 Uhr im Théâtre du Châtelet die Bühnenbearbeitung des Romans „Michel Strogoff“ (1876) von Jules Verne durch Adolphe d’Ennery und Jules Verne, ein „pièce à grand spectacle en 5 actes et 16 tableaux“ (dort uraufgeführt am 17.11.1880, wiederaufgenommen am 21.11.1891) [vgl. Les annales du théatre et de la musique 1892. Paris 1892, S. 248f]. war ich im Theater du Chatelet in Michael
Strogoff, einem riesigen Ausstattungsstück mit einem Ballett, über das ich weiß
Gott schweigen will. Ein solches Sichüberbieten von Geschmack und Grazie hätte
ich nie für ausführbar gehalten. Dabei sind die Preise für die Vergnügungen
äußerst civil. Heute AbendWedekind sah am 1.1.1892 um 20 Uhr im Théatre national de l’Odéon Racines Tragödie „Phèdre“ (1678). Die Aufführung eröffnete den Abend, an dem außerdem Robert Valliers „L’Exil de Racine“ (1892) und Racines „Les Plaideurs“(1668) gegeben wurden [vgl. Le Figaro, Jg. 38, Nr. 1, 1.1.1892, S. 4]. Die Stücke wurden anlässlich von Racines 252. Geburtstag seit dem 21.12.1891 gespielt [vgl. Les annales du théatre et de la musique 1892. Paris 1892, S. 167f.]. sehe ich mir Phädra von einem Parquetsitz im
Odéontheater für 3 Frs an. Das ist weniger als man für den nämlichen Platz im
Gärtnertheater in München giebt. Kaffe, Schnaps etc. kosten in den Cafés hier
gerade soviel wie in Zürich und dabei ist alles übrige, was man zum Leben
braucht, weit billiger. Wenn es mir irgend wie gelingt, mich zu halten, werde
ich wohl mehrere Jahre hier bleiben. An deutschen Elementen findet man, was man
nur wünscht, und hat Paris dazu. Das Wetter ist regnerisch, aber so lauwarm,
daß man Nachts zwei Uhr auf offnem Boulevard seinen Kaffee trinkt.
Gestern AbendWedekind besuchte am 31.12.1891 den Cirque d’Hiver (Rue Amelot 110), dessen Programm um 20.30 Uhr begann: „Les Moujicks Petits Russien“ [Gil Blas, Jg. 13, Nr. 4426, 31.12.1891, S. 4]. war ich im Cirque d’Hiver und traf dort als
ersten Clown Herrn Lavater Lee, an den Du Dich vom Circus HerzogDer Wanderzirkus Herzog gastierte vom 6.7.1888 bis 8.10.1888 in Zürich. Wedekind veröffentlichte seinen davon inspirierten Essay „Im Zirkus“ am 2. und 5.8.1888 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ [vgl. KSA 5/III, S. 454f.] – seine Behauptung, er sei in den Jahren 1887 und 1888 „Sekretär beim Cirkus Herzog“ [Wedekind an Jaroslav Kvapil, 24.4.1901] gewesen und 1888 „ein halbes Jahr lang als Sekretär mit dem Cirkus Herzog“ [Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 28.4.1901] herumgereist, ist „Legende“ [KSA 5/III, S. 81]. her vielleicht
noch erinnerst. Er war seiner Zeit der Abgott des Zürcher PublikumsÜber eine Aufführung des Zirkus Herzog in Zürich schrieb die Presse: „Am Samstag Abend war der Zirkus Herzog ganz ausverkauft; handelte es sich doch um eine Benefice-Vorstellung der vorzüglichen Clowns, welche uns in den letzten Wochen so manchen vergnügten Abend bereitet hatte. […] Der unvergleichliche Clown Lavater Lee war an jenem Abend unerschöpflich an Humor und witzigen Einfällen, sei es, daß er eine Kunstreiterin zu Pferde parodirte oder sein ‚in Freiheit dressirtes‘ Schwein vorführte oder eine Schaar wettspringender ‚Amateurs aus Zürich‘ leitete, deren Sprünge und Purzelbäume rauschenden Beifall und förmliche Lachsalven hervorriefen. […] Der riesige Lorbeerkranz, der am Schlusse den Clowns gespendet wurde, war zwar so groß, daß Lavater Lee bequem hindurch springen und im Sprunge einen Purzelbaum schlagen könnte, aber er war nicht zu groß, wenn er ein Symbol der außerordentlichen ’Popularität‘ darstellen sollte, welche sich Lavater Lee hier durch seine fröhliche Komik zu erringen wußte. Denn Lavater Lee ist heute […] fast der populärste Mann in Zürich“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 68, Nr. 241, 28.8.1888, 1. Blatt, S. (2f.)]. , trat jeden
Abend als Frosch in die Arena und sagte jeden Abend unter donnerndem Applaus
der Galerie, wenn er auf dem Kopf seines Bruders stand: ,,Das isch chaibe
luschtich“(schweiz.) Das ist sehr lustig.. Er erinnerte sich mit Vergnügen an das schöne Zürich. Mit Herzog
ist er zerfallen. Hier befindet er sich im Winterquartier und will im Frühjahr
nach Amerika, um 93 bei der Ausstellungdie World’s Columbian Exposition 1893 in Chicago, die 19. Weltausstellung vom 1.5.1893 bis 30.10.1893. mitzuwirken.
Nun leb wohl, lieber Bruder.
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In München habe ich circa 500 Cigaretten zu Weihnachten
geschenkt bekommen. In Avricourtseit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 Grenzbahnhof zwischen Deutschland und Frankreich in Lothringen, durch die Bahnstrecke Paris – Nancy – Straßburg in einen nördlichen deutschen und einen südlichen französischen Teil getrennt. brachte ich sie glücklich über die Grenze,
indem ich die verschiedenen Schachteln in meine Taschen vertheilte, that sie
dann aber gleich wieder in den Koffer, der im Pariser BahnhofZüge aus Deutschland kamen am Gare de l’est an. auf mein
verdutztes Gesicht hin vom Zollbeamten geöffnet wurde. Meine Cigaretten
erregten einen Auflauf. Sie wurden bei Seite gelegt und alles durchwühlt.
Nachdem aber der Menschenandrang zu kolossal wurde und jeder seine Glossen
machte„In der Umgangssprache [...] spöttische, tadelnde Bemerkungen (daher Glossen machen).“ [Meyers Konversationslexikon. 4., gänzl. umgearb. Aufl. Bd. 7. Leipzig 1887, S. 443], packte sie mir der Chef des Bureausnicht identifiziert. eigenhändig wieder ein und sagte,
ich solle machen daß ich weiterkomme. Das war mein erstes glücklich
überstandenes Abentheuer in Paris.