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Kennung: 4223

Lenzburg, 1. März 1883 (Donnerstag), Briefgedicht

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar

Inhalt

Meinem geliebten Oskar.


Verlaß der Sterblichen nüchterne Spur! –
Weh dem, den Menschen gemeistert! –
Sie wissen nichts von der edlen Natur;
Die unsere Seele begeistert.
Sie kleben am staubigen Boden der Welt
Und suchen im Irdischen Klarheit.
Doch was sie dort unten gefesselt hält,
Das führet uns aufwärts zum Sternenzelt,
Das zeigt uns die ewige Wahrheit.


Verachte, was der Philisterin der Studentensprache Bezeichnung für pedantische Menschen oder Spießbürger. liebt,
Ein stilles, beschauliches Leben!
Du weißt, daß es höhere Ziele giebt,
Dem klaren Geist zu erstreben.
Vor deinen Augen das Ideal,
Es soll dich schützen und lenken. –
Der Menschen Treiben ist matt und schaal.
Du aber bleib’ ein Original
In Handeln, Reden und Denken! |


Es wachsen die Erdensöhne so dicht
Allüberall, wo ich wand’re.
Jedoch betracht’ ich sie näher beim Licht,
Ist einer genau, wie der andre.
Man malte sie hin, weder gut noch schlecht,
In graulich wässrigem Tone.
Dabei – versteh’ ich die BibelDie Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz. recht –
War Gott im Himmel dem ganzen Geschlecht
Die allgemeine Schablone.


„Er eine Schablone!“ – Das nennst du Spott? –
Nun wol! Was ist dran gelegen? –
Sei du dir selber der höchste GottIn einer Atheismus-Diskussion mit dem Freund schreibt Wedekind schon zwei Jahre früher: „Wer ist nun aber noch das höchste Wesen in der Schöpfung? – Das bist Du“ [Wedekind an Oskar Schibler, 24.6.1881].
Und geh auf eigenen Wegen!
Die Welt ist dein auf geraume Zeit;
Entschliesse dich, sie zu nützen:
Erwähle die Sonne zu deinem Geleit
Und donn’re hinab in die Nichtigkeit
Mit hell aufleuchtenden Blitzen! |


Dann sieh, wie ob deinem gewaltigen Ton
Die armen Würmer erstaunen.
Sie fahren zusammen, als hörten sie schon
Die Klänge der jüngsten Posaunendas siebte Siegel der Apokalypse – mit den Klängen jeder einzelnen von sieben Posaunen, die von sieben Engeln geblasen werden, wird der Untergang der Welt in sieben Schritten beschrieben [vgl. Offenbarung des Johannes, 8-11].. –––
Dann laß uns ewigen FreundschaftsbundDie Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz.Die Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz.
Hoch über den Sterblichen schließen. –––
Sie werden geboren, sie wachsen und
Dann zeugen sie Kinder und gehen zu Grund.
Wir aber wollen genießen!


März 1883.


Dein Franklin.


Odi profanum vulgus et arceo.(lat.) Ich hasse das gewöhnliche Volk und meide es. [Horaz: Oden III,1,1].

Horaz.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 22,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Unter das Datum hat Wedekind mit Tinte ein umgekehrtes Pentagramm mit oben geöffnetem Umkreis gezeichnet.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 1.3.1883 ist als Ankerdatum gesetzt – das früheste mögliche Schreibdatum, von dem Monat („März“) und Jahr („1883“) gegeben sind. Möglicherweise ist er Reaktion auf Oskar Schiblers Ausführungen zu seinem Gottesbegriff [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 28.2.1883].

  • Schreibort

    Lenzburg
    1. März 1883 (Donnerstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort


    Datum unbekannt

  • Empfangsort


    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
S. 340f.
Kommentar:
Das Briefgedicht ist 2007 nach einer handschriftlichen Reinschrift im Heft „Poesie“ (Aa B, Nr. 44), S. 7v-8v als Gedicht ediert [vgl. KSA 1/I, S. 69f.], die Abweichungen sind im Kommentar mitgeteilt [vgl. KSA 1/II, S. 1876].
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler.
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 1.3.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

12.11.2024 16:40
Kennung: 4223

Lenzburg, 1. März 1883 (Donnerstag), Briefgedicht

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar
 
 

Inhalt

Meinem geliebten Oskar.


Verlaß der Sterblichen nüchterne Spur! –
Weh dem, den Menschen gemeistert! –
Sie wissen nichts von der edlen Natur;
Die unsere Seele begeistert.
Sie kleben am staubigen Boden der Welt
Und suchen im Irdischen Klarheit.
Doch was sie dort unten gefesselt hält,
Das führet uns aufwärts zum Sternenzelt,
Das zeigt uns die ewige Wahrheit.


Verachte, was der Philisterin der Studentensprache Bezeichnung für pedantische Menschen oder Spießbürger. liebt,
Ein stilles, beschauliches Leben!
Du weißt, daß es höhere Ziele giebt,
Dem klaren Geist zu erstreben.
Vor deinen Augen das Ideal,
Es soll dich schützen und lenken. –
Der Menschen Treiben ist matt und schaal.
Du aber bleib’ ein Original
In Handeln, Reden und Denken! |


Es wachsen die Erdensöhne so dicht
Allüberall, wo ich wand’re.
Jedoch betracht’ ich sie näher beim Licht,
Ist einer genau, wie der andre.
Man malte sie hin, weder gut noch schlecht,
In graulich wässrigem Tone.
Dabei – versteh’ ich die BibelDie Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz. recht –
War Gott im Himmel dem ganzen Geschlecht
Die allgemeine Schablone.


„Er eine Schablone!“ – Das nennst du Spott? –
Nun wol! Was ist dran gelegen? –
Sei du dir selber der höchste GottIn einer Atheismus-Diskussion mit dem Freund schreibt Wedekind schon zwei Jahre früher: „Wer ist nun aber noch das höchste Wesen in der Schöpfung? – Das bist Du“ [Wedekind an Oskar Schibler, 24.6.1881].
Und geh auf eigenen Wegen!
Die Welt ist dein auf geraume Zeit;
Entschliesse dich, sie zu nützen:
Erwähle die Sonne zu deinem Geleit
Und donn’re hinab in die Nichtigkeit
Mit hell aufleuchtenden Blitzen! |


Dann sieh, wie ob deinem gewaltigen Ton
Die armen Würmer erstaunen.
Sie fahren zusammen, als hörten sie schon
Die Klänge der jüngsten Posaunendas siebte Siegel der Apokalypse – mit den Klängen jeder einzelnen von sieben Posaunen, die von sieben Engeln geblasen werden, wird der Untergang der Welt in sieben Schritten beschrieben [vgl. Offenbarung des Johannes, 8-11].. –––
Dann laß uns ewigen FreundschaftsbundDie Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz.Die Freundschaft zwischen Wedekind und Oskar Schibler ist seit Oktober 1882 ein relevantes Thema der Korrespondenz.
Hoch über den Sterblichen schließen. –––
Sie werden geboren, sie wachsen und
Dann zeugen sie Kinder und gehen zu Grund.
Wir aber wollen genießen!


März 1883.


Dein Franklin.


Odi profanum vulgus et arceo.(lat.) Ich hasse das gewöhnliche Volk und meide es. [Horaz: Oden III,1,1].

Horaz.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 22,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Unter das Datum hat Wedekind mit Tinte ein umgekehrtes Pentagramm mit oben geöffnetem Umkreis gezeichnet.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 1.3.1883 ist als Ankerdatum gesetzt – das früheste mögliche Schreibdatum, von dem Monat („März“) und Jahr („1883“) gegeben sind. Möglicherweise ist er Reaktion auf Oskar Schiblers Ausführungen zu seinem Gottesbegriff [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 28.2.1883].

  • Schreibort

    Lenzburg
    1. März 1883 (Donnerstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort


    Datum unbekannt

  • Empfangsort


    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
S. 340f.
Kommentar:
Das Briefgedicht ist 2007 nach einer handschriftlichen Reinschrift im Heft „Poesie“ (Aa B, Nr. 44), S. 7v-8v als Gedicht ediert [vgl. KSA 1/I, S. 69f.], die Abweichungen sind im Kommentar mitgeteilt [vgl. KSA 1/II, S. 1876].
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler.
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 1.3.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

12.11.2024 16:40