München, 4. XI. 1889.
Lieber Bruder,
würdest Du so gut sein und mich so bald es Dir
möglich wieder mit etwas Mammon versehenFrank Wedekind bat seinen Bruder aufgrund fehlender Einkünfte regelmäßig um Geld aus dem Erbe, das ihm nach dem Tod des Vaters zustand. Das Vermögen wurde von Armin Wedekind verwaltet. Im Tagebuch vermerkte Frank Wedekind den Betrag von 200 Mark für den 6.11.1889 [vgl. Tb, Übersicht, S. 116].. Meine Arbeitam Lustspiel „Kinder und Narren“ [vgl. KSA 2, S. 636]. Eine erste Fassung des Stücks lag vermutlich erst im April 1890 vor [vgl. KSA 2, S. 629]. Am 10.11.1889 notierte Wedekind im Tagebuch: „Seit dem 9. September arbeite ich am zweiten Akt und bin noch immer nicht damit zu Ende. Es fehlen noch 3 Scenen und meine Schaffenskraft ist erschüttert.“ neigt sich ihrem Ende
zu. Ich bin gespannt, was dann wird. Wie ich von zu Hause erfahre, steht Dir
noch im Laufe des Winters eine freudige Ueberraschungdie bevorstehende Geburt von Armin und Emma Wedekinds Sohn; Armin Wilhelm Gottlieb wird am 9.1.1890 geboren. bevor. Ich gratulire Dir
im Voraus und wünsche, daß alles glücklich von statten geht. Ich wäre Dir dankbar,
wenn Du vielleicht diesmal Gelegenheit fändest, ein wenig ausführlicher in
Deinem Begleitschreibenzu der erbetenen Geldsendung [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 6.11.1889]. zu werden. Ich bin hier gewissermaßen abgeschlossen von
der Welt. Seit 3 Monaten hab ich keinen Menschen mehr per Du angeredet,
höchstens mich selbst. Meine Gesellschaft theilt sich in Maler und MusikerEin Verzeichnis seiner Bekannten im Münchner Tagebuch ordnete Wedekind grob nach Berufen, beginnend mit den Malern und endend mit den Musikern [vgl. Tb, Übersicht, S. 53-58].. Die
Musiker kenn ich von früher her. Mit den Malern wohn ich zusammenWedekinds Liste seiner Münchner Bekannten beginnt unter seiner Adresse „Akademiestr. 21. III“ mit den Einträgen der drei „Maler“: „Heinrich Lefler […] / Rudolph Frische […] / Ragan“ [Tb, Übersicht, S. 53]. Am 10.11.1889 notierte Wedekind: „Gegen Ende vorigen Monats zogen zwei Herren bei meiner Wirthin ein, beides Maler der eine Wiener, der andere Hannoveraner. Der Hannoveraner, Herr Frische“ [Tb]., einen zur
Rechten, einen zur Linken, und einen hinten im Haus. Sie machten mir ihre
Aufwartung und jeder führte mich in sein Atelier. Der zur RechtenRudolf Frische stammte aus Osnabrück und studierte an der Münchner Akademie der Bildenden Künste [vgl. https://matrikel.adbk.de/matrikel/mb_1841-1884/jahr_1882/matrikel-04217 (Zugriff vom 21/02/23)]., ein
Hannoveraner, gehört der alten Schule an. Er malt eine Madonna auf einem Löwen
sitzend im Renaissancestyl. Er schwärmt für die alten Meister und führt einen
sittlichen Lebenswandel. Der zur LinkenHeinrich Lefler aus Wien studierte seit 1884 an der Münchner Akademie der Bildenden Künste [vgl. https://matrikel.adbk.de/matrikel/mb_1884-1920/jahr_1884/matrikel-00084 (Zugriff vom 21/02/23)]. ist ein Wiener, der sich eine Sängerinim Tagebuch unter der Adresse „Akademiestr. 21. III“ als „Nina-Nino“ verzeichnet [vgl. Tb, Übersicht, S. 53].
hält, ebenfalls eine Wienerin mit böhmischer Stumpfnase, seinem Bekenntniß nach
Plainairistrecte: Pleinairist; Freilichtmaler, von frz. ‚en plein air‘ (= im Freien)., sehr begabt und verhältnißmäßig liederlich. Der dritteim Tagebuch unter der Adresse „Akademiestr. 21. III“ als „Ragan“ verzeichnet [vgl. Tb, Überischt, S. 53]. ist ein
Russe, ein feiner Herr mit Pelzkragen und einem Violoncell. Er trinkt Abends,
wenn er aus dem Atelier kommt, einen großen HafenTopf, Schüssel. voll Thee aus und legt sich
um 9 Uhr21 Uhr. zu Bett. Und nun leb wohl, lieber Bruder. Ein andermal mehr von meinen
Zimmernachbarn. Besonders von der Sängerin wäre noch manches interessante zu
berichten. Sie wohnt in der Augustenstraße bei einer Blumenverkäuferinwahrscheinlich Margarethe Deiß, Wohnung: Augustenstraße 3, 4. Stock; Geschäft: Augustenstraße 50) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1889, Teil I, S. 51; Teil II, S. 28]; verzeichnet ist dort außerdem: Margaretha Linder, Blumenmacherin (Augustenstraße 11, Mittelgebäude, 2. Stock rechts).. Diese
Blumenverkäuferin hat ein zwölfjähriges Töchterchen, das nun auch schon zur
Sängerin ausgebildet wird. Ihre Lehrmeisterin tritt in der ItaliaCafé-Restaurant mit Weinkeller bei St. Peter (Victualienmarkt 13), im März 1887 von Josef Gianna übernommen [vgl. Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 40, Nr. 61, 2.3.1887, 1. Blatt, S. 6]. Seit dem 1.2.1889 veranstaltete der neue Pächter Emil Reichel dort regelmäßig „Specialitäten-Konzerte“ und Varieté-Veranstaltungen [vgl. Bayerischer Kurier, Jg. 33, Nr. 31, 31.1.1889, S. 5]. Eine Schließung ist nicht belegt, das Lokal ist auch nach 1889 noch in den einschlägigen Reiseführern verzeichnet [vgl. München. Neuester Illustrirter Führer für Fremde und Einheimische […]. München 1890, S. 19]. auf, einem
sehr feinen Local am Petersplatz, wo P. F.Leopold Frölich aus Brugg, ein ehemaliger Mitschüler Armin Wedekinds, machte 1881 Abitur an der Kantonsschule Aarau, studierte anschließend Medizin in Genf und wurde Psychiater. Er hatte Frank Wedekind 1886 in München besucht [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 25.1.1886]. Am 21.7.1889 notierte Wedekind im Tagebuch: „Abends im Caffe Italia dem alten St. Peter, wo sich seiner Zeit Poldi Fröhlichs Münchner Novelette abgespielt mit dem hübschen Gretchen“. seiner Zeit so elegisch
verknallt war in das hübsche Gretchen. Aber am 15. ds. wird das Local geschlossen. Und nun noch
einmal lebe wohl. Auf heute Abend steht mir eine musikalische Delicatesse
bevor. Eine Quartettsoirée im MuseumEine Quartett-Soirée im großen Saal des Museums (Promenadestraße 12) ist für den 4.11.1889 nicht belegt. Die Veranstaltungen des Walter Quartetts, mit dessen Cellist Franz Bennat Wedekind befreundet war, fanden dort am 28.10.1889, 2.12.1889 und 19.12.1889 statt. , zu der mich gestern einer der
Mitspielenden einlud. Auf meine eigenen Kosten mach ich keine großen Sprünge,
da mir immer noch das Anschaffen eines Winterpaletotswarmer Überrock, Wintermantel. bevorsteht. – – – – – – –
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