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Kennung: 4154

Solothurn, 31. Januar 1883 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Solothurn 31 Jan. 82Schreibversehen, statt: 31 Jan. 83..

Lieber, werther Franklin!

Dein Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück Wedekind an Oskar Schibler 24.1.1883. enthielt wenig. Es ist noch das einzige Band, welches uns zusammenhält, behalte dies in Ehren & heg & pfleg dasselbe. Es soll uns gegenseitig verbinden, geistig denn dies überdauert Zeit & Umstände. Allerdings kann ich begreifen, dass man nicht immer disponirt ist neues, überraschendes zu bieten, aber warte bissSchreibversehen, statt: bis. du passenden Stoff zur Hand hast & nur dann schreibe. Ich hatte offengestanden mehr erwartet von unserSchreibversehen, statt: unsrer. letzten ZusammenkunftEs dürfte sich um ein Treffen der Freunde zwischen 30.12.1882 und 2.1.1883 handeln, wo Oskar Schibler bei seinen Eltern in Aarau wohnte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 28.12.1882]. sowohl in Hinsicht gegenseitigen, fruchtbaren Gedankenaustausches als auch im Interesse unserer Freundschaft. Es scheint mir das Gespenst der ruchlosengewissenlosen, niederträchtigen; die Verletzung dürfte im Zusammenhang mit der Affäre Oskar Schiblers zu einer nicht identifizierten verheirateten Frau („E.v.B.“) stehen, die seit Herbst 1882 Thema der Korrespondenz war. Verletzung steht noch immer im Hintergrund & schiebt eine gewisse Scheidewand zwischen uns, verscheuchen wir dasselbe durch un/da/s aufrichtige Bestreben in Zukunft sowohl in Wort als Schrift (Brief) jegliche | Andeutung an solche Dinge zu vermeiden. Die gegenseitige Achtung leidet & dann leb wohl, Freundschaft. Wir sind keine Griechen, unsere Ansichten über solche Sachen sind zu sehr von unser/der/ Erziehung verändert worden & ich finde zu Gunsten des Individus(frz.) des Individuums.. Also in Zukunft nur Objektives oder Subjektives in soweit es frei von Obscönitäten ist. Entschuldige meine Freiheit, die Liebe & Aufrichtigkeit gegen dich dictirt mir dies.

Dies/ein/e Poesiendarunter vermutlich die Gedichte „Ein Lebenslauf“ (siehe unten) und „Jubilate!“, von dem Oskar Schibler ein auf den 27.1.1883 datiertes Manuskript besaß [vgl. KSA 1/I, S. 1420]. habe ich schon einigemale mit Freude & Genuss durchlesen. Manch trefflicher Gedanke wurde angeregt & oft fand ich mein eigenes Selbst in ihnen. Ich brauche irgend eine äussere Veranlassung um etwas lyrisches hervorzubringen, es ist wie eine Feuersprih/tz/e, die mit dem Strahl die Gefühle schwächt. In der Prosa glaube ich mehr leisten zu können. Das ist mein Feld auf dem vielleicht später noch etwas gedeihen kann. –

Ich war in der letzten Zeit in einem eigenthümlich unzufriedenen, weltzerfallenen Zustande. Alles ekelte mich an & warum weil ich auch angesteckt war von de++/n/ weltschmerzlichen Ideen„eine auf den Grundgedanken der pessimistischen Philosophie basierende, von Enttäuschung, Abscheu und Lebensüberdruß geprägte Stimmungslage, die sich als ‚weltschmerzlicher Ton‘ v.a. in der Dichtung der Romantik – u.a. Byrons, Lenaus und Jean Pauls – niederschlug“ [KSA 1/II, S. 2170]. Wedekind, der im Freundeskreis für seine resignative Lebensanschauung bekannt war, identifizierte sich zwischen Winter 1880/81 und Winter 1882/83 mit den Ideen des Pessimismus und verfaßte eine Reihe von ‚Weltschmerzliedern‘ [vgl. ebd.; vgl. auch die Wedekinds Korrespondenz mit Adolf Vögtlin].. Wie | gross & erhaben & unbegreiflich ist dies Weltall & wie klein & nichtig der Mensch mit seinen Leidenschaften & dann der Tod. Was soll mein Streben & R+/i/ingen wenn dies das Endziel ist. Oft hohnlachteichSchreibversehen, statt: hohnlachte ich. & wünschte nie geboren zu sein & dennoch taucht nach & nach der Gedanke auf, fasse dich errtragsSchreibversehen, statt: ertrag’s. nimm die Welt wie sie ist, bilde dir selbst eine neue & passe sie wenn möglich der äussern an. Man kann ohne glücklich zu leben, interessant leben, vieles Hohe geniessen & so innerlich Genugthuung finden. Ich fand die Menschen verstehen mich nicht, können nicht mit mir fühlen, gut so gebrauche ich sie zur Unterhaltung zum Studium. Ich will versuchen mich ganz in diese Idee hinzuleben; man wird nicht glücklich, vergisst aber doch die andern uns alles zum Ekel machenden Gedanken. Ich bin Mensch & will die Menschheit ertragen. Das „greise KindVermutlich in Anspielung auf Wedekinds Gedicht „Ein Lebenslauf“: „Früh schwand mein Seelenfried. / Ach, ich genoß zu heiß! / Und ward des Lebens müde, – / Ein jugendlicher Greis. // So sah ich die Zeit verfließen. / Was gleitest du jetzt so geschwind? / O, könnt’ ich wieder genießen, – Ich greises Kind!“ [KSA 1/I, S. 74] Das Gedicht befindet sich als Reinschrift auch im Heft „Memorabilia“ (S. 10v), das durch einen Briefentwurf (S. 3) [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882] und einen Eintrag vom 18.5.1883 (S. 65) datiert ist. ist nur durch Gefühle alt geworden hat sich nicht hineinfinden können, hat geglaubt schon alles durchkostet zu haben. Mit Gefühlen wird man unglücklich. Wende man seine Gefühle andern Gegenständen zu so wird man wenn nicht glücklich so doch zufrieden. Glücklich ist ja nur der Thor & zufrieden der sich beschränkende Mensch. | Glücklich ist nur der fühlende Mensch der denkende nicht mehr. Mensch im vulgären, fühlen & denken im extremsten Sinne genommen.

Noch fehlt es viel bis diese auftauchenden Gedanken mein Denken leiten werden, aber die Zeit & die Menschen helfen wacker mit.

Theilen wir uns in der Weise unsere Gedanken mit: Unser Briefwechsel wird dann eine Quelle reichen & nutzbringenden & uns selber eng verbindenSchreibversehen, statt: verbindenden. Ideenaustausches sein. Nur dann fühlen wir dass wir zusammengehören & uns gegenseitig, geneinschaftlichSchreibversehen, statt: gemeinschaftlich. leiten. Eine ideale Freundschaft wird uns verbinden, in der wir den grössten Genuss finden werden.

Leb wohl Franklin, in treuer Freundschaft
Dein O.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
: Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Tag („31.“) und Monat („1.“) des genannten Schreibdatums sind unstrittig. Das korrigierte Schreibjahr 1883 (statt 1882) ist durch den Kontext belegt [vgl. auch KSA 1/II, S. 1418].

  • Schreibort

    Solothurn
    31. Januar 1883 (Mittwoch)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Solothurn
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Aarau
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 31.1.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

19.11.2024 12:53
Kennung: 4154

Solothurn, 31. Januar 1883 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Solothurn 31 Jan. 82Schreibversehen, statt: 31 Jan. 83..

Lieber, werther Franklin!

Dein Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück Wedekind an Oskar Schibler 24.1.1883. enthielt wenig. Es ist noch das einzige Band, welches uns zusammenhält, behalte dies in Ehren & heg & pfleg dasselbe. Es soll uns gegenseitig verbinden, geistig denn dies überdauert Zeit & Umstände. Allerdings kann ich begreifen, dass man nicht immer disponirt ist neues, überraschendes zu bieten, aber warte bissSchreibversehen, statt: bis. du passenden Stoff zur Hand hast & nur dann schreibe. Ich hatte offengestanden mehr erwartet von unserSchreibversehen, statt: unsrer. letzten ZusammenkunftEs dürfte sich um ein Treffen der Freunde zwischen 30.12.1882 und 2.1.1883 handeln, wo Oskar Schibler bei seinen Eltern in Aarau wohnte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 28.12.1882]. sowohl in Hinsicht gegenseitigen, fruchtbaren Gedankenaustausches als auch im Interesse unserer Freundschaft. Es scheint mir das Gespenst der ruchlosengewissenlosen, niederträchtigen; die Verletzung dürfte im Zusammenhang mit der Affäre Oskar Schiblers zu einer nicht identifizierten verheirateten Frau („E.v.B.“) stehen, die seit Herbst 1882 Thema der Korrespondenz war. Verletzung steht noch immer im Hintergrund & schiebt eine gewisse Scheidewand zwischen uns, verscheuchen wir dasselbe durch un/da/s aufrichtige Bestreben in Zukunft sowohl in Wort als Schrift (Brief) jegliche | Andeutung an solche Dinge zu vermeiden. Die gegenseitige Achtung leidet & dann leb wohl, Freundschaft. Wir sind keine Griechen, unsere Ansichten über solche Sachen sind zu sehr von unser/der/ Erziehung verändert worden & ich finde zu Gunsten des Individus(frz.) des Individuums.. Also in Zukunft nur Objektives oder Subjektives in soweit es frei von Obscönitäten ist. Entschuldige meine Freiheit, die Liebe & Aufrichtigkeit gegen dich dictirt mir dies.

Dies/ein/e Poesiendarunter vermutlich die Gedichte „Ein Lebenslauf“ (siehe unten) und „Jubilate!“, von dem Oskar Schibler ein auf den 27.1.1883 datiertes Manuskript besaß [vgl. KSA 1/I, S. 1420]. habe ich schon einigemale mit Freude & Genuss durchlesen. Manch trefflicher Gedanke wurde angeregt & oft fand ich mein eigenes Selbst in ihnen. Ich brauche irgend eine äussere Veranlassung um etwas lyrisches hervorzubringen, es ist wie eine Feuersprih/tz/e, die mit dem Strahl die Gefühle schwächt. In der Prosa glaube ich mehr leisten zu können. Das ist mein Feld auf dem vielleicht später noch etwas gedeihen kann. –

Ich war in der letzten Zeit in einem eigenthümlich unzufriedenen, weltzerfallenen Zustande. Alles ekelte mich an & warum weil ich auch angesteckt war von de++/n/ weltschmerzlichen Ideen„eine auf den Grundgedanken der pessimistischen Philosophie basierende, von Enttäuschung, Abscheu und Lebensüberdruß geprägte Stimmungslage, die sich als ‚weltschmerzlicher Ton‘ v.a. in der Dichtung der Romantik – u.a. Byrons, Lenaus und Jean Pauls – niederschlug“ [KSA 1/II, S. 2170]. Wedekind, der im Freundeskreis für seine resignative Lebensanschauung bekannt war, identifizierte sich zwischen Winter 1880/81 und Winter 1882/83 mit den Ideen des Pessimismus und verfaßte eine Reihe von ‚Weltschmerzliedern‘ [vgl. ebd.; vgl. auch die Wedekinds Korrespondenz mit Adolf Vögtlin].. Wie | gross & erhaben & unbegreiflich ist dies Weltall & wie klein & nichtig der Mensch mit seinen Leidenschaften & dann der Tod. Was soll mein Streben & R+/i/ingen wenn dies das Endziel ist. Oft hohnlachteichSchreibversehen, statt: hohnlachte ich. & wünschte nie geboren zu sein & dennoch taucht nach & nach der Gedanke auf, fasse dich errtragsSchreibversehen, statt: ertrag’s. nimm die Welt wie sie ist, bilde dir selbst eine neue & passe sie wenn möglich der äussern an. Man kann ohne glücklich zu leben, interessant leben, vieles Hohe geniessen & so innerlich Genugthuung finden. Ich fand die Menschen verstehen mich nicht, können nicht mit mir fühlen, gut so gebrauche ich sie zur Unterhaltung zum Studium. Ich will versuchen mich ganz in diese Idee hinzuleben; man wird nicht glücklich, vergisst aber doch die andern uns alles zum Ekel machenden Gedanken. Ich bin Mensch & will die Menschheit ertragen. Das „greise KindVermutlich in Anspielung auf Wedekinds Gedicht „Ein Lebenslauf“: „Früh schwand mein Seelenfried. / Ach, ich genoß zu heiß! / Und ward des Lebens müde, – / Ein jugendlicher Greis. // So sah ich die Zeit verfließen. / Was gleitest du jetzt so geschwind? / O, könnt’ ich wieder genießen, – Ich greises Kind!“ [KSA 1/I, S. 74] Das Gedicht befindet sich als Reinschrift auch im Heft „Memorabilia“ (S. 10v), das durch einen Briefentwurf (S. 3) [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882] und einen Eintrag vom 18.5.1883 (S. 65) datiert ist. ist nur durch Gefühle alt geworden hat sich nicht hineinfinden können, hat geglaubt schon alles durchkostet zu haben. Mit Gefühlen wird man unglücklich. Wende man seine Gefühle andern Gegenständen zu so wird man wenn nicht glücklich so doch zufrieden. Glücklich ist ja nur der Thor & zufrieden der sich beschränkende Mensch. | Glücklich ist nur der fühlende Mensch der denkende nicht mehr. Mensch im vulgären, fühlen & denken im extremsten Sinne genommen.

Noch fehlt es viel bis diese auftauchenden Gedanken mein Denken leiten werden, aber die Zeit & die Menschen helfen wacker mit.

Theilen wir uns in der Weise unsere Gedanken mit: Unser Briefwechsel wird dann eine Quelle reichen & nutzbringenden & uns selber eng verbindenSchreibversehen, statt: verbindenden. Ideenaustausches sein. Nur dann fühlen wir dass wir zusammengehören & uns gegenseitig, geneinschaftlichSchreibversehen, statt: gemeinschaftlich. leiten. Eine ideale Freundschaft wird uns verbinden, in der wir den grössten Genuss finden werden.

Leb wohl Franklin, in treuer Freundschaft
Dein O.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
: Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Tag („31.“) und Monat („1.“) des genannten Schreibdatums sind unstrittig. Das korrigierte Schreibjahr 1883 (statt 1882) ist durch den Kontext belegt [vgl. auch KSA 1/II, S. 1418].

  • Schreibort

    Solothurn
    31. Januar 1883 (Mittwoch)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Solothurn
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Aarau
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 31.1.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

19.11.2024 12:53