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Kennung: 3951

Aarau, 10. November 1881 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar

Inhalt

10.XI.81.


Geliebter!!

Endlich komme ich einmal dazu, Dir mein überströmendes Herz zu ergiessen. Einsam und verlassen steh ich da unter einer Schaar wildfremder MenschenGemeint waren vermutlich die neuen Klassenkameraden. Wedekind, der ein halbes Jahr Privatunterricht auf Schloss Lenzburg erhalten hatte, war nach Ende der Herbstferien an die Kantonsschule Aarau zurückgekehrt, wo er das zweite Schulhalbjahr der II. Gymnasialklasse wiederholen musste. und der Einzige, der mir theuer und lieb ist, weilt fern von mir. Oskar, es ist nicht gut, wenn T dass uns das Schicksal getrennt hatOskar Schibler besuchte seit Ende der Ferien die Kantonsschule Solothurn.. Wir lernen uns entbehren und unsere Freundschaft geht reist ad patres(lat./frz.) zu den Vätern; ins Jenseits.. Darum wollen wir, wenn auch unsere Leiber nicht eodem loca/o/(lat.) an demselben Ort. weilen können, mit dem g Geiste doch recht häufig einander in unseren Briefen nahe treten. Du er|innerst Dich vielleicht noch an jene goldenen Tage, da wir selbandern(schweiz.) zu zweit. in Scherr’s menschlicher Tragiecomoedie lasen. Du erinnerst Dich w vielleicht noch daran, was er bei Anlass von Heloise über die Liebe sagte, dass sie einzig und allein auf GeschlechtstriebScherr schreibt einleitend im Kapitel „Heloise“: „Der [...] Geschlechtstrieb, stirbt beim Erwachen der Liebe keineswegs, im Gegentheil! Er weckt sie ja, er ist die Liebe selber. [...] Auch das Weib sucht in der Liebe zunächst nur die Geschlechtsbefriedigung, weil es muß, weil die Natur sie tyrannisch dazu zwingt.“ [Johannes Scherr: Menschliche Tragikomödie. Gesammelte Studien, Skizzen und Bilder, Bd. 1, Leipzig 1874, S. 155] zurückzuführen sei. Oskar, ich glaube nicht mehr, was Scherr uns vorschwefelte„blauen dunst vormachen, vorlügen“ [DWB, Bd. 26, 1938, Sp. 1539].. Ich erkläre mir die Liebe vielmehr als subjectiven Idealismu„Der Begriff wurde erstmals von Schelling zur Charakterisierung der Philosophie Fichtes verwendet. Er bezeichnet – zumeist mit polemischer Absicht – philosophische Positionen, die den Erkenntnisprozeß stärker von den Vorstellungen des Subjekts beeinflußt sehen als von den Gegenständen selbst, die also unterstellen, daß die Dinge an sich hinter den subjektiven Vorstellungen verborgen bleiben (vgl. Ritter/Gründer 4, S. 43). – Wedekind dürfte die Bezeichnung durch die Vermittlung seines Lehrers Carl Uphues geläufig gewesen sein. Uphues, der bis Herbst 1881 an der Kantonsschule Aarau unterrichtete, hatte in den 70er Jahren selbst erkenntnistheoretische Schriften publiziert (vgl. Uphues 1874 u. Uphues 1876).“ [KSA 1/II, S. 2069]s, indem der Liebhaber in seiner Geliebten die absolute Vollkommenheit erblickt, obschon sie das Kind in unseren Augen sich nicht über Mittelmässigkeit empor heben mag. Diese Anschauung hab’ ich nun in folgende Verse gebracht, deren gnädige Kritik ich in Deinem nächsten Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.11.1881. erwarte: |


Es mussDas Gedicht „Subjectiver Idealismus“ ist in einer späteren, leicht überarbeiteten Fassung erstmals in der Wedekind Werkausgabe publiziert worden [vgl. KSA 1/I, S. 62; Kommentar KSA 1/II, S. 2066-2070]. der Gottheit nicht gefallen haben,
So sprach ich oft zu mir in trüben Stunden,
Die Weisheit mit der Tugend zu vereinen.
Ich suchte einen Freund, doch hab’ ich keinen,
Der meinem Ideale gleicht gefunden.


Ich suchte fort und fort wohl viele Jahre,
Bis ich mich niederliess in diesem Tah/ha/le.
Da sah ich sie, kaum traut’ ich meinen Blicken.
Ich liebt’ – und fand mit freudigem Entzücken
Die w/W/irklichkeit zu meinem Ideale.


Es macht den Menschen doch bedeutend glücklicher, wenn er die Welt mit idealistisch verblendeten Augen ansieht, und E. v. Hartmann hat recht, wenn er behauf/p/tetnicht ermittelt., die Aufklärung sei an dem Unheil unserer Zeit schuld. Mit frommen Kinderglauben betrachteten die m/M/enschen die g/G/es Geschichte Christi. Da kommt dann so ein VogtPapst Gregor I, der vor seiner kirchlichen Karriere Stadtpräfekt (Vogt) von Rom war. und sagtIn seinen Magdalenenpredigten verschmolz Gregor I. Maria Magdalena, die Apostelin der Apostel, mit der namenlosen Sünderin, die Jesus die Füße salbt (Lukas 7,36-50) und mit Maria von Bethanien, der Schwester von Martha und Lazarus von Bethanien. Seine damit verknüpfte Deutung Maria Magdalenas als Prostituierte und Prototyp für die in der Sexualität begründeten Sündhaftigkeit der Frau schlechthin blieb bis 1969 Lehrmeinung der weströmischen Kirche., Maria und Magdalena Martha seien Metzenveraltete Bezeichnung für Prostituierte. | gewesen und alsbald ist die Zufriedenheit, das Glück zum Teufel und frecher Spott tritt an des/r/en Stelle, wie Du aus f/F/olgendem ersehen wirst:


Fernhin, nach dem heil’gen Lande
Lass mich ziehn von diesem Strande,
An den See Genezareth,
Wo mit seiner Martha weiland
Jesus Christus, unser Heiland,
Sich gewälzt in einem Bett.


Wo Maria, S/d/ie gescheidte,
Liebevoll an si/e/iner Seite
Horchte auf sein Christenthum,
Und er selber zwischen beiden
Huldigte des Lebens Freuden
Auf dem weichen Canapum.
Dahin, Alter, lass mich ziehen!

––––– |

„Gräulich, entsetzlich!!“ hör’ ich Dich ausrufen, aber ich weiss noch Entsetzlicheres: – Das Einzige, das Beste, was ich auf dieser Welt mein wähnte, sollte mir entrissen werden. Alle grossen Gefühle, die eine men Menschenbrust bewegen können, stürmten auf mich ein. – Vor mir eine dunkle, unbestimmte, freudlose Zukunft; hinter mir die gold’nen Tage der Vergangenheit, von der ich scheiden sollte. Oskar, ich Tr hätte Thränen heulen mögen über diesen Gedanken, und doch wieder die Wonne, die unbeschreibliche Wonne, Dich noch jetzt zu geniessen, noch diesen Augenblick, kurze Minuten zu sehen – Nein, es war zu viel für mich, ich konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Die Gedanken vergingen mir. Ich fühlte nur, fühlte tief; ich fühlte mich unendlich glücklich. – Sterben, | Dach dacht’ ich; jetzt sterben, in diesem Augenblick seliger Wonne! – Das Leben wäre ein schöner Traum gewa/e/sen und der Tod wäre Göttertrank!

So dachte ich, – und Du? – O, ewige GerectigkeitSchreibversehen, statt: Gerechtigkeit.!! – und Du? – schissest meine ZündhölzerOskar Schibler geht auf die Angelegenheit in seinem Antwortbrief ein [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.11.1881].. –––

Denke Dir einmal, lieber Oskar, d/D/u schwelgtest in süsser Liebe, Dein Blut kocht und Deine Pulse fliegen. Nun giesst man Dir einen Eimer kalten Wassers in Dein warmes Bett über den heissen Leib. So ungefähr wirkte Deine Handlungsweise damals auf meine Gefühle. ––– Ich verzeihe Dir, obschon ich Dich nicht begreife. Behalte die Zündhölzer, es klebt kein Fluch daran. Aber, Oskar, ich appelire an Deine Ehre, an Dein Manneswort und an Deine Freundschaft, Oskar, ich bitte Dich | In inständig, sende mir so schellSchreibversehen, statt: schnell. als möglich meine BucolicaGemeint ist ein (heute verschollenes) blaues Heft betitelt „Bucolica“, in das Wedekind seine von Mai bis Juli 1881 auf Schloss Lenzburg entstandenen Schäferdichtungen schrieb und das ihm im Herbst 1898 während seiner Flucht in die Schweiz abhanden kommen sollte [zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte vgl. KSA 1/II, S. 1538-53]. Einzelne Bucolica hatte Wedekind seinen Dichterfreunden des Senatus poeticus im Frühsommer 1881 zur kritischen Würdigung zugesandt [vgl. die Korrespondenzen mit Walter Laué, Oskar Schibler und Adolph Vögtlin].! – MeinSchreibversehen, statt: Meine. Gründe zu dieser Forderung kennst Du, und es sind noch andere hinzugekommen, die ich hier nicht zu erleutern wage. Oskar, Du würdest durch Zögerung mich unglücklich machen; bitte, säume nicht; brauch’ keine Entschuldigungen, mein Dasein steht auf dem Spiele. – Du sollst noch Alles erfahren, wie es sich zugetragen hat, aber jetzt eile mit der Sendung. Schick Schicke es mir in die Kantonsschule, Aarau; ich wäre ruinirt, wenn es in falsche Hände käme. und Daran will ich Deine wahre Freundschaft erkennen, dass Du mir diesen Bitte sofort erfüllst. Nun ade! Grüsse KunzRichard Kunz hatte im Juli 1880 die Kantonsschule Aarau verlassen und besuchte jetzt die Kantonsschule Solothurn. e. ct. PlüssGottfried Plüß, der ebenfalls die Kantonsschule Solothurn besuchte, war im ersten Halbjahr des Schuljahrs 1879/80 Klassenkamerad von Oskar Schibler und Frank Wedekind gewesen. vor Allen aber Dich selbst von Deinen/m/ treusten Freunde
Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. Doppelblätter. Seitenmaß 13 x 21 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Seiten 2 bis 7 hat Wedekind durchnummeriert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Schreibort ist durch den Briefinhalt belegt.

  • Schreibort

    Aarau
    10. November 1881 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Aarau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Solothurn
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Mappe 6, Sammlung Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

14.02.2023 18:15
Kennung: 3951

Aarau, 10. November 1881 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar
 
 

Inhalt

10.XI.81.


Geliebter!!

Endlich komme ich einmal dazu, Dir mein überströmendes Herz zu ergiessen. Einsam und verlassen steh ich da unter einer Schaar wildfremder MenschenGemeint waren vermutlich die neuen Klassenkameraden. Wedekind, der ein halbes Jahr Privatunterricht auf Schloss Lenzburg erhalten hatte, war nach Ende der Herbstferien an die Kantonsschule Aarau zurückgekehrt, wo er das zweite Schulhalbjahr der II. Gymnasialklasse wiederholen musste. und der Einzige, der mir theuer und lieb ist, weilt fern von mir. Oskar, es ist nicht gut, wenn T dass uns das Schicksal getrennt hatOskar Schibler besuchte seit Ende der Ferien die Kantonsschule Solothurn.. Wir lernen uns entbehren und unsere Freundschaft geht reist ad patres(lat./frz.) zu den Vätern; ins Jenseits.. Darum wollen wir, wenn auch unsere Leiber nicht eodem loca/o/(lat.) an demselben Ort. weilen können, mit dem g Geiste doch recht häufig einander in unseren Briefen nahe treten. Du er|innerst Dich vielleicht noch an jene goldenen Tage, da wir selbandern(schweiz.) zu zweit. in Scherr’s menschlicher Tragiecomoedie lasen. Du erinnerst Dich w vielleicht noch daran, was er bei Anlass von Heloise über die Liebe sagte, dass sie einzig und allein auf GeschlechtstriebScherr schreibt einleitend im Kapitel „Heloise“: „Der [...] Geschlechtstrieb, stirbt beim Erwachen der Liebe keineswegs, im Gegentheil! Er weckt sie ja, er ist die Liebe selber. [...] Auch das Weib sucht in der Liebe zunächst nur die Geschlechtsbefriedigung, weil es muß, weil die Natur sie tyrannisch dazu zwingt.“ [Johannes Scherr: Menschliche Tragikomödie. Gesammelte Studien, Skizzen und Bilder, Bd. 1, Leipzig 1874, S. 155] zurückzuführen sei. Oskar, ich glaube nicht mehr, was Scherr uns vorschwefelte„blauen dunst vormachen, vorlügen“ [DWB, Bd. 26, 1938, Sp. 1539].. Ich erkläre mir die Liebe vielmehr als subjectiven Idealismu„Der Begriff wurde erstmals von Schelling zur Charakterisierung der Philosophie Fichtes verwendet. Er bezeichnet – zumeist mit polemischer Absicht – philosophische Positionen, die den Erkenntnisprozeß stärker von den Vorstellungen des Subjekts beeinflußt sehen als von den Gegenständen selbst, die also unterstellen, daß die Dinge an sich hinter den subjektiven Vorstellungen verborgen bleiben (vgl. Ritter/Gründer 4, S. 43). – Wedekind dürfte die Bezeichnung durch die Vermittlung seines Lehrers Carl Uphues geläufig gewesen sein. Uphues, der bis Herbst 1881 an der Kantonsschule Aarau unterrichtete, hatte in den 70er Jahren selbst erkenntnistheoretische Schriften publiziert (vgl. Uphues 1874 u. Uphues 1876).“ [KSA 1/II, S. 2069]s, indem der Liebhaber in seiner Geliebten die absolute Vollkommenheit erblickt, obschon sie das Kind in unseren Augen sich nicht über Mittelmässigkeit empor heben mag. Diese Anschauung hab’ ich nun in folgende Verse gebracht, deren gnädige Kritik ich in Deinem nächsten Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.11.1881. erwarte: |


Es mussDas Gedicht „Subjectiver Idealismus“ ist in einer späteren, leicht überarbeiteten Fassung erstmals in der Wedekind Werkausgabe publiziert worden [vgl. KSA 1/I, S. 62; Kommentar KSA 1/II, S. 2066-2070]. der Gottheit nicht gefallen haben,
So sprach ich oft zu mir in trüben Stunden,
Die Weisheit mit der Tugend zu vereinen.
Ich suchte einen Freund, doch hab’ ich keinen,
Der meinem Ideale gleicht gefunden.


Ich suchte fort und fort wohl viele Jahre,
Bis ich mich niederliess in diesem Tah/ha/le.
Da sah ich sie, kaum traut’ ich meinen Blicken.
Ich liebt’ – und fand mit freudigem Entzücken
Die w/W/irklichkeit zu meinem Ideale.


Es macht den Menschen doch bedeutend glücklicher, wenn er die Welt mit idealistisch verblendeten Augen ansieht, und E. v. Hartmann hat recht, wenn er behauf/p/tetnicht ermittelt., die Aufklärung sei an dem Unheil unserer Zeit schuld. Mit frommen Kinderglauben betrachteten die m/M/enschen die g/G/es Geschichte Christi. Da kommt dann so ein VogtPapst Gregor I, der vor seiner kirchlichen Karriere Stadtpräfekt (Vogt) von Rom war. und sagtIn seinen Magdalenenpredigten verschmolz Gregor I. Maria Magdalena, die Apostelin der Apostel, mit der namenlosen Sünderin, die Jesus die Füße salbt (Lukas 7,36-50) und mit Maria von Bethanien, der Schwester von Martha und Lazarus von Bethanien. Seine damit verknüpfte Deutung Maria Magdalenas als Prostituierte und Prototyp für die in der Sexualität begründeten Sündhaftigkeit der Frau schlechthin blieb bis 1969 Lehrmeinung der weströmischen Kirche., Maria und Magdalena Martha seien Metzenveraltete Bezeichnung für Prostituierte. | gewesen und alsbald ist die Zufriedenheit, das Glück zum Teufel und frecher Spott tritt an des/r/en Stelle, wie Du aus f/F/olgendem ersehen wirst:


Fernhin, nach dem heil’gen Lande
Lass mich ziehn von diesem Strande,
An den See Genezareth,
Wo mit seiner Martha weiland
Jesus Christus, unser Heiland,
Sich gewälzt in einem Bett.


Wo Maria, S/d/ie gescheidte,
Liebevoll an si/e/iner Seite
Horchte auf sein Christenthum,
Und er selber zwischen beiden
Huldigte des Lebens Freuden
Auf dem weichen Canapum.
Dahin, Alter, lass mich ziehen!

––––– |

„Gräulich, entsetzlich!!“ hör’ ich Dich ausrufen, aber ich weiss noch Entsetzlicheres: – Das Einzige, das Beste, was ich auf dieser Welt mein wähnte, sollte mir entrissen werden. Alle grossen Gefühle, die eine men Menschenbrust bewegen können, stürmten auf mich ein. – Vor mir eine dunkle, unbestimmte, freudlose Zukunft; hinter mir die gold’nen Tage der Vergangenheit, von der ich scheiden sollte. Oskar, ich Tr hätte Thränen heulen mögen über diesen Gedanken, und doch wieder die Wonne, die unbeschreibliche Wonne, Dich noch jetzt zu geniessen, noch diesen Augenblick, kurze Minuten zu sehen – Nein, es war zu viel für mich, ich konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Die Gedanken vergingen mir. Ich fühlte nur, fühlte tief; ich fühlte mich unendlich glücklich. – Sterben, | Dach dacht’ ich; jetzt sterben, in diesem Augenblick seliger Wonne! – Das Leben wäre ein schöner Traum gewa/e/sen und der Tod wäre Göttertrank!

So dachte ich, – und Du? – O, ewige GerectigkeitSchreibversehen, statt: Gerechtigkeit.!! – und Du? – schissest meine ZündhölzerOskar Schibler geht auf die Angelegenheit in seinem Antwortbrief ein [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.11.1881].. –––

Denke Dir einmal, lieber Oskar, d/D/u schwelgtest in süsser Liebe, Dein Blut kocht und Deine Pulse fliegen. Nun giesst man Dir einen Eimer kalten Wassers in Dein warmes Bett über den heissen Leib. So ungefähr wirkte Deine Handlungsweise damals auf meine Gefühle. ––– Ich verzeihe Dir, obschon ich Dich nicht begreife. Behalte die Zündhölzer, es klebt kein Fluch daran. Aber, Oskar, ich appelire an Deine Ehre, an Dein Manneswort und an Deine Freundschaft, Oskar, ich bitte Dich | In inständig, sende mir so schellSchreibversehen, statt: schnell. als möglich meine BucolicaGemeint ist ein (heute verschollenes) blaues Heft betitelt „Bucolica“, in das Wedekind seine von Mai bis Juli 1881 auf Schloss Lenzburg entstandenen Schäferdichtungen schrieb und das ihm im Herbst 1898 während seiner Flucht in die Schweiz abhanden kommen sollte [zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte vgl. KSA 1/II, S. 1538-53]. Einzelne Bucolica hatte Wedekind seinen Dichterfreunden des Senatus poeticus im Frühsommer 1881 zur kritischen Würdigung zugesandt [vgl. die Korrespondenzen mit Walter Laué, Oskar Schibler und Adolph Vögtlin].! – MeinSchreibversehen, statt: Meine. Gründe zu dieser Forderung kennst Du, und es sind noch andere hinzugekommen, die ich hier nicht zu erleutern wage. Oskar, Du würdest durch Zögerung mich unglücklich machen; bitte, säume nicht; brauch’ keine Entschuldigungen, mein Dasein steht auf dem Spiele. – Du sollst noch Alles erfahren, wie es sich zugetragen hat, aber jetzt eile mit der Sendung. Schick Schicke es mir in die Kantonsschule, Aarau; ich wäre ruinirt, wenn es in falsche Hände käme. und Daran will ich Deine wahre Freundschaft erkennen, dass Du mir diesen Bitte sofort erfüllst. Nun ade! Grüsse KunzRichard Kunz hatte im Juli 1880 die Kantonsschule Aarau verlassen und besuchte jetzt die Kantonsschule Solothurn. e. ct. PlüssGottfried Plüß, der ebenfalls die Kantonsschule Solothurn besuchte, war im ersten Halbjahr des Schuljahrs 1879/80 Klassenkamerad von Oskar Schibler und Frank Wedekind gewesen. vor Allen aber Dich selbst von Deinen/m/ treusten Freunde
Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. Doppelblätter. Seitenmaß 13 x 21 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Seiten 2 bis 7 hat Wedekind durchnummeriert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Schreibort ist durch den Briefinhalt belegt.

  • Schreibort

    Aarau
    10. November 1881 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Aarau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Solothurn
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Mappe 6, Sammlung Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

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In Bearbeitung
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Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

14.02.2023 18:15