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Kennung: 3863

München, 2. November 1908 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Berliner Tageblatt, (Zeitung)
  • Wolff, Theodor

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


An die tit. geehrte Redaktion des Berliner Tageblattes


Sehr geehrter HerrTheodor Wolff – auf dem Titelblatt vermerkt: „Chef-Redakteur: Theodor Wolff in Berlin.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (1)] Der Chefredakteur dürfte der Adressat gewesen sein – nicht Fritz Engel, Feuilletonredakteur des „Berliner Tageblatt“, auf dessen Besprechung der Berliner Premiere von „Musik“ Wedekind sich im vorliegenden Brief zwar bezieht, ohne ihn aber dezidiert als Rezensenten anzusprechen.

in seiner Besprechung vom 1 November 1908Fritz Engel besprach unter Verfassersigle [vgl. F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] die Premiere von Wedekinds „Musik“ am 31.10.1908 im Kleinen Theater in Berlin (Direktion: Victor Barnowsky) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 289] unter der Regie von Victor Barnowsky [vgl. KSA 6, S. 802]. wirfSchreibversehen, statt: wirft. mir das Berliner Tageblatt mein Drama SittengemähldeGattungsbezeichnung im Untertitel der Erstausgabe von Wedekinds Stück: „Musik. Sittengemälde in vier Bildern“ (1907, vordatiert auf 1908).Musikvor die FüßeZitat aus Fritz Engels Besprechung, in der es über „Musik“ heißt: „Es ist ein schlechtes Stück […]. Nein, Herr Frank Wedekind! Wer in Ihnen einen der originalsten Köpfe unserer Zeit, einen Schrittmacher neuer Anschauungen, einen Gestalter kühner Probleme, mit einem Worte den Dichter von ‚Frühlingserwachen‘ sieht, gerade wer Sie größer sieht als die anderen, muß Ihnen dieses Stück und Stücke wie jenes ‚Oaha‘ vor die Füße werfen. Annahme verweigert.“ [F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] Wedekind hat die Formulierung in einer „BT“ überschriebenen Notiz aufgegriffen: „Vor die Füße werfen = eine lausbubenhafte Unverschämtheit.“ [Nb 56, Blatt 65r] Gleich darunter notierte er: „Die Fälschung und Vergiftung der Öffentlichen Meinung.“ [Nb 56, Blatt 65r] In einer anderen „BT“ überschriebenen Notiz [Nb 58, Blatt 65r] aus den „Varianten und Paralipomena“ zur Vorrede von „Oaha“ notierte Wedekind unter anderem das Stichwort: „Ein Stück vor die Füße werfen“ [KSA 5/III, S. 596]. und behauptet, dabei umgekehrt zu verfahren als wie es mit meiner Kindertragödie Frlgs Erw. verfahren ist. Das ist unrichtig. Mein Drama Frlgs Erw. wurde vom Berliner Tageblatt 15 Jahre lang totgeschwiegenWedekind wiederholte diesen Vorwurf [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 4.11.1908], als er im „Berliner Tageblatt“ im Kommentar zu seinem offenen Brief nicht nur las, sein Brief sei „in tiefem Groll“ verfasst ein Ausdruck von „Riesenkatzenjammer“ eines „durchgefallenen Autors“, sondern auch, dem „schönen ‚Frühlingserwachen‘“ sei „in unserem Blatte die wärmste Anerkennung gezollt worden“ [F.E.: Frank Wedekind zürnt. In: Berliner Tageblatt, Berlin, Jg. 37, Nr. 562, 3.11.1908, Abend-Ausgabe, S. (2-3)]. Anerkennung hat „Frühlings Erwachen“ im „Berliner Tageblatt“ erst ab 1906 seit der erfolgreichen Uraufführung gefunden, die Monty Jacobs rezensierte [vgl. Monty Jacobs: „Frühlings Erwachen.“ Zur Aufführung in den Kammerspielen. In: Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 596, 23.11.1906, Abend-Ausgabe, S. (1-2)], die Erstausgabe von 1891 oder spätere Ausgaben des Stücks wurden im „Berliner Tageblatt“ nicht rezensiert.. Eine literarische Arbeit 15 Jahrevon 1891 bis 1906; „Frühlings Erwachen“ (1891) wurde 1906 von Max Reinhard in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin mit großem Erfolg inszeniert und hatte seitdem breite Anerkennung auch bei der Kritik gefunden. lang totzuschweigen ist aber jedenfalls MindestensSchreibversehen, statt: mindestens. ebensowenig liebenswürdig als wie sie dem Verfasser zwei Jahre nach ihrem Erscheinen vor die Füße zu werfen. Nun könnte das B.T. einwenden, daß es sich mit dramatischen Arbeiten nicht eher beschäftigt als bis sie auf der Bühne erschienen sind. Das Das wäre aber wiederum unrichtig. Denn in der Besprechung über Musik schimpftFritz Engel hat „Oaha“ nur an einer Stelle erwähnt, als er schrieb, man müsse Wedekind „Stücke wie jenes ‚Oaha‘ vor die Füße werfen.“ [F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] das B.T. schon in den stärksten Ausdrücken über mein Stück Oaha das noch gar nicht gespielt wurde und in den nächsten Jahren voraussichtlich auch nicht gespielt werden wird. In seiner blinden Wuth | unterschlägt das B.T. seinen Lesern vollständig die AufnahmeDie Theaterkritik äußerte sich über das in Berlin inszenierte Stück „Musik“ überwiegend ablehnend [vgl. KSA 6, S. 803-806]. die mein Stück Musik beim Publikum gefunden hat. Diese Thatsachen zusammengenommen drängen mir die Frage auf ob sich ein Schriftsteller in Deutschland nicht vielleicht auch trotz des Berliner Tageblattes, in vollkommenem Gegensatze zum B. Tageblatt entwickeln kann, eine Frage, die mir wichtig genug scheint, um mit Ernst und Gründlichkeit erwogen zu werden. Gegen eine entstellte wahrheitswidrige oder gekürzte Wiedergabe dieser wenigen Zeilen bin ich bereit mich nachdrücklich zu verwahren.

Hochachtungsvoll ergebenst
FrW.


[2. Druck im „Berliner Tageblatt“:]


Sehr geehrter Herr!

In seiner Besprechung vom 1. November 1908 wirft mir das „Berliner Tageblatt“ mein Sittengemälde „Musik“ vor die Füße und behauptet, dabei umgekehrt zu verfahren, als wie es mit meiner Kindertragödie „Frühlingserwachen“ verfahren ist. Das ist unrichtig. Mein Drama „Frühlingserwachen“ wurde vom „Berliner Tageblatt“ fünfzehn Jahre lang totgeschwiegen. Eine literarische Arbeit fünfzehn Jahre lang totzuschweigen, ist aber jedenfalls mindestens ebensowenig liebenswürdig, als wie sie dem Verfasser zwei Jahre nach ihrem Erscheinen vor die Füße zu werfen. Nun könnte das „Berliner Tageblatt“ einwenden, daß es sich mit dramatischen Arbeiten nicht eher befaßt, als bis sie auf der Bühne erschienen sind. Das wäre aber wiederum unrichtig. Denn in der Besprechung über „Musik“ urteilt das „Berliner Tageblatt“ schon in den schärfsten Ausdrücken über mein Stück „Oaha“, das noch gar nicht gespielt wurde und in den nächsten Jahren voraussichtlich auch nicht gespielt werden wird.

In seiner blinden Wut unterschlägt das „Berliner Tageblatt“ seinen Lesern überdies vollständig die Aufnahme, die mein Stück „Musik“ beim Publikum gefunden hat. Diese Tatsachen zusammen genommen drängen mir die Frage auf, ob sich ein Schriftsteller in Deutschland nicht vielleicht auch trotz des „Berliner Tageblattes“ in vollkommenem Gegensatz zum „Berliner Tageblatt“, entwickeln kann, eine Frage, die mir wichtig genug scheint, um mit Ernst und Gründlichkeit erwogen zu werden. Gegen entstellte oder gekürzte Wiedergabe dieser wenigen Zeilen bin ich bereit, mich ausdrücklich zu verwahren.

Hochachtungsvoll
ergebenst
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchseiten. 10 x 16,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf steht im Notizbuch [Nb 54, Blatt 42v, 42r, 41v] – die Seiten 1 und 2 in umgekehrter Reihenfolge [Blatt 42v, 42r] mit einer Ergänzung [Blatt 41v] geschrieben; Seite 2 ist auf der unteren Blatthälfte notiert, durch einen durchgezogenen Strich von der oberen Blatthälfte getrennt, die Aufzeichnungen in anderem Zusammenhang enthält. Der auf der Grundlage des Briefentwurfs geschriebene abgesandte Brief ist nicht überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 2.11.1908 ist als Ankerdatum gesetzt. Wedekind dürfte den Brief, der auf eine Besprechung reagiert, die das „Berliner Tageblatt“ am 1.11.1908 veröffentlicht hat, entweder gleich oder den Tag darauf verfasst und nach Berlin abgeschickt haben, so dass er am 3.11.1908 als offener Brief in der Abend-Ausgabe erscheinen konnte. Einen Tag nach Erscheinen vermerkte Wedekind: „Eingeschriebener Brief an das Berliner Tageblatt.“ [Tb 4.11.1908] Dieser Vermerk bezog sich wohl kaum auf diesen, sondern auf einen anderen, nicht überlieferten Brief [vgl. dagegen KSA 5/III, S. 368], der lediglich als Briefentwurf erhalten ist [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 4.11.1908].

  • Schreibort

    München
    2. November 1908 (Montag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Berliner Tageblatt

Ort der Herausgabe:
Berlin
Verlag:
Berlin: Mosse
Datum der Zeitung:
1911
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: F.E.: Frank Wedekind zürnt. In: Berliner Tageblatt, Berlin, Jg. 37, Nr. 562, 3.11.1908, Abend-Ausgabe, S. (2-3), hier S. (2). Der von Fritz Engel präsentierte Erstdruck des offenen Briefs ist von ihm eingeleitet – „Der Dichter des Sittengemäldes ‚Musik‘, das hier am Kleinen Theater aufgeführt worden ist, sendet in tiefem Groll an die ‚geehrte Redaktion des Berliner Tageblattes‘ aus München den folgenden Brief, den wir mit besonderem Vergnügen ungekürzt zum Abdruck bringen:“ – und mit einer Nachbemerkung versehen: „Dem Fachgelehrten, der sich dereinst mit einem Buche über ‚Die Psychologie des dramatischen Dichters‘ befassen wird, sei dieses Schreiben als wertvolles Material überwiesen. Es ist typisch für den Gemütszustand eines mit Recht durchgefallenen Autors; solche Briefe werden zu hundert Malen ersonnen, auch wohl aufgeschrieben, aber zumeist nicht abgeschickt. Wir rechten nicht mit Herrn Wedekind, weil wir seinem Riesenkatzenjammer viel zugute halten. Wir können ihn natürlich auch nicht hindern, sich von dem schönen ‚Frühlingserwachen‘, dem in unserem Blatte die wärmste Anerkennung gezollt worden ist, über das scheußliche ‚Oaha‘ und die elende ‚Musik‘ noch weiter zu ‚entwickeln‘. Nur noch eins. Wenn Wedekind glaubt, daß die ‚Musik‘ beim Publikum Erfolg gehabt habe, so haben ihm schlechte Freunde – vielleicht aus Geschäftsrücksichten – falsch berichtet. Nach jedem Akt schlug eine kleine Wedekind-Clique, treu wie ein gut dressierter Hund, lärmenden Beifall an. Das Publikum, auf das Herr Wedekind, der große Einsame, ja besonderen Wert zu legen scheint, wurde jedesmal erst warm, wenn die Schauspieler, besonders Fräulein Somary, sich zeigten. Was der Zuhörerkreis in den Pausen laut und halblaut über Wedekinds Stück urteilte, sei besser verschwiegen. Denn schließlich hat man diesen jetzt so ohnmächtig um sich schlagenden Tollkopf doch immer noch gern.“ – Der offene Brief wurde vom „Leipziger Tageblatt“ nachgedruckt, das ihn in seiner redaktionellen Vorbemerkung mit spöttischen Worten einleitete – „Das folgende Elaborat sandte der nach dem letzten Berliner Mißerfolge wutschnaubende Literat an die Redaktion des ‚Berliner Tageblatt‘:“ und in seiner redaktionellen Nachbemerkung abfällig erklärte: „Fritz Engel, der Kritiker, der die ‚Musik‘ so gründlich abgelehnt hat, gewährt diesen Zeilen lachend Aufnahme in die Spalten des ‚B.T.‘ und wundert sich darüber, daß Wedekind, der ‚Einsame‘, so verbittert um den Beifall des Publikums buhlt. Er brauchte sich weniger zu wundern, wenn er erkannt hätte, daß Wedekind nie ein Einsamer war. sondern die sonderliche Abart eines Schriftstellers darstellt, der nur als Epateur, als berufsmäßiger Verblüffer der Spießer seine Berechtigung hat und hatte. [...] Wedekind [...] ist ein Dichter, sobald ein Publikum ihm Beifall klatscht. Darum steht er würdig neben Oskar Blumenthal.“ [Wedekind als Verehrer des Publikums. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 102, Nr. 305, 4.11.1908, 3. Beilage, S. (2)] – Nachdruck des Erstdrucks des offenen Briefs (ohne die Anrede) unter dem Titel „Frank Wedekind zürnt“: KSA 5/II, S. 285-286.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/54
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an (Zeitung) Berliner Tageblatt, Theodor Wolff, 2.11.1908. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

08.01.2024 14:21
Kennung: 3863

München, 2. November 1908 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Berliner Tageblatt, (Zeitung)
  • Wolff, Theodor
 
 

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


An die tit. geehrte Redaktion des Berliner Tageblattes


Sehr geehrter HerrTheodor Wolff – auf dem Titelblatt vermerkt: „Chef-Redakteur: Theodor Wolff in Berlin.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (1)] Der Chefredakteur dürfte der Adressat gewesen sein – nicht Fritz Engel, Feuilletonredakteur des „Berliner Tageblatt“, auf dessen Besprechung der Berliner Premiere von „Musik“ Wedekind sich im vorliegenden Brief zwar bezieht, ohne ihn aber dezidiert als Rezensenten anzusprechen.

in seiner Besprechung vom 1 November 1908Fritz Engel besprach unter Verfassersigle [vgl. F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] die Premiere von Wedekinds „Musik“ am 31.10.1908 im Kleinen Theater in Berlin (Direktion: Victor Barnowsky) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 289] unter der Regie von Victor Barnowsky [vgl. KSA 6, S. 802]. wirfSchreibversehen, statt: wirft. mir das Berliner Tageblatt mein Drama SittengemähldeGattungsbezeichnung im Untertitel der Erstausgabe von Wedekinds Stück: „Musik. Sittengemälde in vier Bildern“ (1907, vordatiert auf 1908).Musikvor die FüßeZitat aus Fritz Engels Besprechung, in der es über „Musik“ heißt: „Es ist ein schlechtes Stück […]. Nein, Herr Frank Wedekind! Wer in Ihnen einen der originalsten Köpfe unserer Zeit, einen Schrittmacher neuer Anschauungen, einen Gestalter kühner Probleme, mit einem Worte den Dichter von ‚Frühlingserwachen‘ sieht, gerade wer Sie größer sieht als die anderen, muß Ihnen dieses Stück und Stücke wie jenes ‚Oaha‘ vor die Füße werfen. Annahme verweigert.“ [F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] Wedekind hat die Formulierung in einer „BT“ überschriebenen Notiz aufgegriffen: „Vor die Füße werfen = eine lausbubenhafte Unverschämtheit.“ [Nb 56, Blatt 65r] Gleich darunter notierte er: „Die Fälschung und Vergiftung der Öffentlichen Meinung.“ [Nb 56, Blatt 65r] In einer anderen „BT“ überschriebenen Notiz [Nb 58, Blatt 65r] aus den „Varianten und Paralipomena“ zur Vorrede von „Oaha“ notierte Wedekind unter anderem das Stichwort: „Ein Stück vor die Füße werfen“ [KSA 5/III, S. 596]. und behauptet, dabei umgekehrt zu verfahren als wie es mit meiner Kindertragödie Frlgs Erw. verfahren ist. Das ist unrichtig. Mein Drama Frlgs Erw. wurde vom Berliner Tageblatt 15 Jahre lang totgeschwiegenWedekind wiederholte diesen Vorwurf [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 4.11.1908], als er im „Berliner Tageblatt“ im Kommentar zu seinem offenen Brief nicht nur las, sein Brief sei „in tiefem Groll“ verfasst ein Ausdruck von „Riesenkatzenjammer“ eines „durchgefallenen Autors“, sondern auch, dem „schönen ‚Frühlingserwachen‘“ sei „in unserem Blatte die wärmste Anerkennung gezollt worden“ [F.E.: Frank Wedekind zürnt. In: Berliner Tageblatt, Berlin, Jg. 37, Nr. 562, 3.11.1908, Abend-Ausgabe, S. (2-3)]. Anerkennung hat „Frühlings Erwachen“ im „Berliner Tageblatt“ erst ab 1906 seit der erfolgreichen Uraufführung gefunden, die Monty Jacobs rezensierte [vgl. Monty Jacobs: „Frühlings Erwachen.“ Zur Aufführung in den Kammerspielen. In: Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 596, 23.11.1906, Abend-Ausgabe, S. (1-2)], die Erstausgabe von 1891 oder spätere Ausgaben des Stücks wurden im „Berliner Tageblatt“ nicht rezensiert.. Eine literarische Arbeit 15 Jahrevon 1891 bis 1906; „Frühlings Erwachen“ (1891) wurde 1906 von Max Reinhard in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin mit großem Erfolg inszeniert und hatte seitdem breite Anerkennung auch bei der Kritik gefunden. lang totzuschweigen ist aber jedenfalls MindestensSchreibversehen, statt: mindestens. ebensowenig liebenswürdig als wie sie dem Verfasser zwei Jahre nach ihrem Erscheinen vor die Füße zu werfen. Nun könnte das B.T. einwenden, daß es sich mit dramatischen Arbeiten nicht eher beschäftigt als bis sie auf der Bühne erschienen sind. Das Das wäre aber wiederum unrichtig. Denn in der Besprechung über Musik schimpftFritz Engel hat „Oaha“ nur an einer Stelle erwähnt, als er schrieb, man müsse Wedekind „Stücke wie jenes ‚Oaha‘ vor die Füße werfen.“ [F.E.: Wedekinds „Musik“. Erste Aufführung im „Kleinen Theater“. In: Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 558, 1.11.1908, Sonntags-Ausgabe, S. (2)] das B.T. schon in den stärksten Ausdrücken über mein Stück Oaha das noch gar nicht gespielt wurde und in den nächsten Jahren voraussichtlich auch nicht gespielt werden wird. In seiner blinden Wuth | unterschlägt das B.T. seinen Lesern vollständig die AufnahmeDie Theaterkritik äußerte sich über das in Berlin inszenierte Stück „Musik“ überwiegend ablehnend [vgl. KSA 6, S. 803-806]. die mein Stück Musik beim Publikum gefunden hat. Diese Thatsachen zusammengenommen drängen mir die Frage auf ob sich ein Schriftsteller in Deutschland nicht vielleicht auch trotz des Berliner Tageblattes, in vollkommenem Gegensatze zum B. Tageblatt entwickeln kann, eine Frage, die mir wichtig genug scheint, um mit Ernst und Gründlichkeit erwogen zu werden. Gegen eine entstellte wahrheitswidrige oder gekürzte Wiedergabe dieser wenigen Zeilen bin ich bereit mich nachdrücklich zu verwahren.

Hochachtungsvoll ergebenst
FrW.


[2. Druck im „Berliner Tageblatt“:]


Sehr geehrter Herr!

In seiner Besprechung vom 1. November 1908 wirft mir das „Berliner Tageblatt“ mein Sittengemälde „Musik“ vor die Füße und behauptet, dabei umgekehrt zu verfahren, als wie es mit meiner Kindertragödie „Frühlingserwachen“ verfahren ist. Das ist unrichtig. Mein Drama „Frühlingserwachen“ wurde vom „Berliner Tageblatt“ fünfzehn Jahre lang totgeschwiegen. Eine literarische Arbeit fünfzehn Jahre lang totzuschweigen, ist aber jedenfalls mindestens ebensowenig liebenswürdig, als wie sie dem Verfasser zwei Jahre nach ihrem Erscheinen vor die Füße zu werfen. Nun könnte das „Berliner Tageblatt“ einwenden, daß es sich mit dramatischen Arbeiten nicht eher befaßt, als bis sie auf der Bühne erschienen sind. Das wäre aber wiederum unrichtig. Denn in der Besprechung über „Musik“ urteilt das „Berliner Tageblatt“ schon in den schärfsten Ausdrücken über mein Stück „Oaha“, das noch gar nicht gespielt wurde und in den nächsten Jahren voraussichtlich auch nicht gespielt werden wird.

In seiner blinden Wut unterschlägt das „Berliner Tageblatt“ seinen Lesern überdies vollständig die Aufnahme, die mein Stück „Musik“ beim Publikum gefunden hat. Diese Tatsachen zusammen genommen drängen mir die Frage auf, ob sich ein Schriftsteller in Deutschland nicht vielleicht auch trotz des „Berliner Tageblattes“ in vollkommenem Gegensatz zum „Berliner Tageblatt“, entwickeln kann, eine Frage, die mir wichtig genug scheint, um mit Ernst und Gründlichkeit erwogen zu werden. Gegen entstellte oder gekürzte Wiedergabe dieser wenigen Zeilen bin ich bereit, mich ausdrücklich zu verwahren.

Hochachtungsvoll
ergebenst
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchseiten. 10 x 16,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf steht im Notizbuch [Nb 54, Blatt 42v, 42r, 41v] – die Seiten 1 und 2 in umgekehrter Reihenfolge [Blatt 42v, 42r] mit einer Ergänzung [Blatt 41v] geschrieben; Seite 2 ist auf der unteren Blatthälfte notiert, durch einen durchgezogenen Strich von der oberen Blatthälfte getrennt, die Aufzeichnungen in anderem Zusammenhang enthält. Der auf der Grundlage des Briefentwurfs geschriebene abgesandte Brief ist nicht überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 2.11.1908 ist als Ankerdatum gesetzt. Wedekind dürfte den Brief, der auf eine Besprechung reagiert, die das „Berliner Tageblatt“ am 1.11.1908 veröffentlicht hat, entweder gleich oder den Tag darauf verfasst und nach Berlin abgeschickt haben, so dass er am 3.11.1908 als offener Brief in der Abend-Ausgabe erscheinen konnte. Einen Tag nach Erscheinen vermerkte Wedekind: „Eingeschriebener Brief an das Berliner Tageblatt.“ [Tb 4.11.1908] Dieser Vermerk bezog sich wohl kaum auf diesen, sondern auf einen anderen, nicht überlieferten Brief [vgl. dagegen KSA 5/III, S. 368], der lediglich als Briefentwurf erhalten ist [vgl. Wedekind an Berliner Tageblatt, 4.11.1908].

  • Schreibort

    München
    2. November 1908 (Montag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Berliner Tageblatt

Ort der Herausgabe:
Berlin
Verlag:
Berlin: Mosse
Datum der Zeitung:
1911
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: F.E.: Frank Wedekind zürnt. In: Berliner Tageblatt, Berlin, Jg. 37, Nr. 562, 3.11.1908, Abend-Ausgabe, S. (2-3), hier S. (2). Der von Fritz Engel präsentierte Erstdruck des offenen Briefs ist von ihm eingeleitet – „Der Dichter des Sittengemäldes ‚Musik‘, das hier am Kleinen Theater aufgeführt worden ist, sendet in tiefem Groll an die ‚geehrte Redaktion des Berliner Tageblattes‘ aus München den folgenden Brief, den wir mit besonderem Vergnügen ungekürzt zum Abdruck bringen:“ – und mit einer Nachbemerkung versehen: „Dem Fachgelehrten, der sich dereinst mit einem Buche über ‚Die Psychologie des dramatischen Dichters‘ befassen wird, sei dieses Schreiben als wertvolles Material überwiesen. Es ist typisch für den Gemütszustand eines mit Recht durchgefallenen Autors; solche Briefe werden zu hundert Malen ersonnen, auch wohl aufgeschrieben, aber zumeist nicht abgeschickt. Wir rechten nicht mit Herrn Wedekind, weil wir seinem Riesenkatzenjammer viel zugute halten. Wir können ihn natürlich auch nicht hindern, sich von dem schönen ‚Frühlingserwachen‘, dem in unserem Blatte die wärmste Anerkennung gezollt worden ist, über das scheußliche ‚Oaha‘ und die elende ‚Musik‘ noch weiter zu ‚entwickeln‘. Nur noch eins. Wenn Wedekind glaubt, daß die ‚Musik‘ beim Publikum Erfolg gehabt habe, so haben ihm schlechte Freunde – vielleicht aus Geschäftsrücksichten – falsch berichtet. Nach jedem Akt schlug eine kleine Wedekind-Clique, treu wie ein gut dressierter Hund, lärmenden Beifall an. Das Publikum, auf das Herr Wedekind, der große Einsame, ja besonderen Wert zu legen scheint, wurde jedesmal erst warm, wenn die Schauspieler, besonders Fräulein Somary, sich zeigten. Was der Zuhörerkreis in den Pausen laut und halblaut über Wedekinds Stück urteilte, sei besser verschwiegen. Denn schließlich hat man diesen jetzt so ohnmächtig um sich schlagenden Tollkopf doch immer noch gern.“ – Der offene Brief wurde vom „Leipziger Tageblatt“ nachgedruckt, das ihn in seiner redaktionellen Vorbemerkung mit spöttischen Worten einleitete – „Das folgende Elaborat sandte der nach dem letzten Berliner Mißerfolge wutschnaubende Literat an die Redaktion des ‚Berliner Tageblatt‘:“ und in seiner redaktionellen Nachbemerkung abfällig erklärte: „Fritz Engel, der Kritiker, der die ‚Musik‘ so gründlich abgelehnt hat, gewährt diesen Zeilen lachend Aufnahme in die Spalten des ‚B.T.‘ und wundert sich darüber, daß Wedekind, der ‚Einsame‘, so verbittert um den Beifall des Publikums buhlt. Er brauchte sich weniger zu wundern, wenn er erkannt hätte, daß Wedekind nie ein Einsamer war. sondern die sonderliche Abart eines Schriftstellers darstellt, der nur als Epateur, als berufsmäßiger Verblüffer der Spießer seine Berechtigung hat und hatte. [...] Wedekind [...] ist ein Dichter, sobald ein Publikum ihm Beifall klatscht. Darum steht er würdig neben Oskar Blumenthal.“ [Wedekind als Verehrer des Publikums. In: Leipziger Tageblatt, Jg. 102, Nr. 305, 4.11.1908, 3. Beilage, S. (2)] – Nachdruck des Erstdrucks des offenen Briefs (ohne die Anrede) unter dem Titel „Frank Wedekind zürnt“: KSA 5/II, S. 285-286.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/54
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an (Zeitung) Berliner Tageblatt, Theodor Wolff, 2.11.1908. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

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In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

08.01.2024 14:21