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Kennung: 3481

München, 3. Juli 1912 (Mittwoch), Postkarte

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly

Inhalt

Königreich Bayern
Postkarte


Frau Tilly Wedekind
im Steinbrüchli
Lenzburg
Ct. Aargau Schweiz


Geliebteste Tilly! Das Geld250 Franken per Postüberweisung [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 3.7.1912]. habe ich abgeschickt. Hier regnet es seit Montag ununterbrochen. In Lenzburg wird es wol auch nicht besser sein. Wenn Du dann nach dem Jugendfestnach dem 5.7.1912, wenn das Jugendfest in Lenzburg vorüber ist. herkommen willst wird es mich sehr freuen. Hetz Dich | nur nicht ab mit der Reise. Montagdem 1.7.1912, an dem Wedekind notierte: „Dann im Krokodil. Nachher mit Kutscher Halbe e.ct. in der T.St.“ [Tb] Wedekind besuchte die Stammtischrunde Krokodil (siehe unten) und war dann mit Artur Kutscher, Max Halbe und anderen in der Torggelstube. Abend war ich im Krokodil1911 haben Artur Kutscher, Karl Henckell und Hubert Wilm die Stammtischrunde „das ‚Junge Krokodil‘“ gegründet, „das ein künstlerisch bedeutendes Zentrum wurde. Wir suchten eine harmlose Gelegenheit zu regelmäßigen, ungezwungenen Zusammenkünften mit Gleichgesinnten“; man traf sich im Münchner Ratskeller, „dienstags, später montags von 8½ bis mindestens zur letzten Trambahn“, also von 20.30 Uhr bis tief in die Nacht; Frauen waren im Grunde ausgeschlossen: „Damen waren nur ausnahmsweise geduldet, etwa nach einem Theaterabend“ [Kutscher 1960, S. 67-69]. nachher in der Torggelstube mit Kutscher Halbe und anderen Herren. Gesternam 2.7.1912, an dem Wedekind notierte: „Die ersten Menschen von Borngräber nachher H.T.R und T.St.“ [Tb] Er sah im Münchner Schauspielhaus Otto Borngräbers Stück „Die ersten Menschen. Erotisches Mysterium in zwei Aufzügen“ (1908), das seiner Inzestthematik wegen in München jahrelang verboten war, und zwar die zweite Vorstellung (Beginn 20 Uhr, Ende gegen 22 Uhr), wie die Premiere am Vorabend mit dem Hinweis versehen: „Von der Zensur freigegeben!“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 65, Nr. 332, 2.7.1912, General-Anzeiger, S. 2] Wedekind war anschließend im Hoftheater-Restaurant und in der Torggelstube, der vorliegenden Postkarte zufolge allein, wohl das erwähnte Buch lesend (siehe unten). war ich in Borngräbers ersten Menschen die mir weit besser gefielen als ich erwartet hatte. Ich hoffe nur daß Du und die Kinder euch wohl befindet. Du schreibst nichts darüber in den letzten Tagen. Augenblicklich lese ich ein politisches BuchWedekind notierte am 3.7.1912 seine Lektüre: „Ich lese H.T.R und T.St. Christensen Politik und Massenmoral.“ [Tb] Er las im Hoftheater-Restaurant und in der Torggelstube das Buch „Politik und Massenmoral. Zum Verständnis psychologisch-historischer Grundfragen der modernen Politik“ (1912) des dänischen Orientalisten Arthur Christensen. Die wenige Monate zuvor im Verlag B. G. Teubner in Leipzig erschienene Schrift [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 79, Nr. 98, 29.4.1912, S. 6277] griff den zeitgenössischen Diskurs über Massenpsychologie auf. Der Verfasser sah eine „Strömung von Überdruß“ an der Politik, „die politische Moral, sowohl innerhalb des einzelnen Staates als in den Beziehungen der Staaten untereinander“, sei auf einer „niedrigen Stufe“, was er damit erklärte: „Ich sehe die Ursache des niedrigen Standes der politischen Moral in der Tatsache, daß die Politik überall und zu allen Zeiten [...] mit der Masse operiert, und die ethische Entwicklung der Masse muß, infolge des besonderen psychischen Habitus derselben, unendlich langsamer fortschreiten als diejenige des Individuums.“ [Arthur Christensen: Politik und Massenmoral. Zum Verständnis psychologisch-historischer Grundfragen der modernen Politik. Leipzig, Berlin 1912, S. IIIf.] daßSchreibversehen, statt: das. mich so interressirtSchreibversehen, statt: interessiert. daß ich den Abend wol wieder allein bleiben werde wie gestern nach der Vorstellung. Grüße Mama herzlichst, küsse die Kinder und sei innigst umarmt
von Deinem
Frank

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Papier. 14 x 9 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Postkarte ist mit einer aufgedruckten und einer aufgeklebten Briefmarke von je 5 Pfennig frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Schreibdatum ist durch den Inhalt der Postkarte belegt.

Uhrzeit im Postausgangsstempel München: „9 – 10 N“ (= 21 bis 22 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Lenzburg: „XI“ (= 11 Uhr).

  • Schreibort

    München
    3. Juli 1912 (Mittwoch)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    3. Juli 1912 (Mittwoch)
    Ermittelt (sicher)

  • Empfangsort

    Lenzburg
    4. Juli 1912 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

Erstdruck

Briefwechsel 1905‒1918. Band 1: Briefe

Autor:
Frank Wedekind, Tilly Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2018
Seitenangabe:
223
Briefnummer:
340
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 320
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 3.7.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

03.01.2024 16:30
Kennung: 3481

München, 3. Juli 1912 (Mittwoch), Postkarte

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Tilly
 
 

Inhalt

Königreich Bayern
Postkarte


Frau Tilly Wedekind
im Steinbrüchli
Lenzburg
Ct. Aargau Schweiz


Geliebteste Tilly! Das Geld250 Franken per Postüberweisung [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 3.7.1912]. habe ich abgeschickt. Hier regnet es seit Montag ununterbrochen. In Lenzburg wird es wol auch nicht besser sein. Wenn Du dann nach dem Jugendfestnach dem 5.7.1912, wenn das Jugendfest in Lenzburg vorüber ist. herkommen willst wird es mich sehr freuen. Hetz Dich | nur nicht ab mit der Reise. Montagdem 1.7.1912, an dem Wedekind notierte: „Dann im Krokodil. Nachher mit Kutscher Halbe e.ct. in der T.St.“ [Tb] Wedekind besuchte die Stammtischrunde Krokodil (siehe unten) und war dann mit Artur Kutscher, Max Halbe und anderen in der Torggelstube. Abend war ich im Krokodil1911 haben Artur Kutscher, Karl Henckell und Hubert Wilm die Stammtischrunde „das ‚Junge Krokodil‘“ gegründet, „das ein künstlerisch bedeutendes Zentrum wurde. Wir suchten eine harmlose Gelegenheit zu regelmäßigen, ungezwungenen Zusammenkünften mit Gleichgesinnten“; man traf sich im Münchner Ratskeller, „dienstags, später montags von 8½ bis mindestens zur letzten Trambahn“, also von 20.30 Uhr bis tief in die Nacht; Frauen waren im Grunde ausgeschlossen: „Damen waren nur ausnahmsweise geduldet, etwa nach einem Theaterabend“ [Kutscher 1960, S. 67-69]. nachher in der Torggelstube mit Kutscher Halbe und anderen Herren. Gesternam 2.7.1912, an dem Wedekind notierte: „Die ersten Menschen von Borngräber nachher H.T.R und T.St.“ [Tb] Er sah im Münchner Schauspielhaus Otto Borngräbers Stück „Die ersten Menschen. Erotisches Mysterium in zwei Aufzügen“ (1908), das seiner Inzestthematik wegen in München jahrelang verboten war, und zwar die zweite Vorstellung (Beginn 20 Uhr, Ende gegen 22 Uhr), wie die Premiere am Vorabend mit dem Hinweis versehen: „Von der Zensur freigegeben!“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 65, Nr. 332, 2.7.1912, General-Anzeiger, S. 2] Wedekind war anschließend im Hoftheater-Restaurant und in der Torggelstube, der vorliegenden Postkarte zufolge allein, wohl das erwähnte Buch lesend (siehe unten). war ich in Borngräbers ersten Menschen die mir weit besser gefielen als ich erwartet hatte. Ich hoffe nur daß Du und die Kinder euch wohl befindet. Du schreibst nichts darüber in den letzten Tagen. Augenblicklich lese ich ein politisches BuchWedekind notierte am 3.7.1912 seine Lektüre: „Ich lese H.T.R und T.St. Christensen Politik und Massenmoral.“ [Tb] Er las im Hoftheater-Restaurant und in der Torggelstube das Buch „Politik und Massenmoral. Zum Verständnis psychologisch-historischer Grundfragen der modernen Politik“ (1912) des dänischen Orientalisten Arthur Christensen. Die wenige Monate zuvor im Verlag B. G. Teubner in Leipzig erschienene Schrift [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 79, Nr. 98, 29.4.1912, S. 6277] griff den zeitgenössischen Diskurs über Massenpsychologie auf. Der Verfasser sah eine „Strömung von Überdruß“ an der Politik, „die politische Moral, sowohl innerhalb des einzelnen Staates als in den Beziehungen der Staaten untereinander“, sei auf einer „niedrigen Stufe“, was er damit erklärte: „Ich sehe die Ursache des niedrigen Standes der politischen Moral in der Tatsache, daß die Politik überall und zu allen Zeiten [...] mit der Masse operiert, und die ethische Entwicklung der Masse muß, infolge des besonderen psychischen Habitus derselben, unendlich langsamer fortschreiten als diejenige des Individuums.“ [Arthur Christensen: Politik und Massenmoral. Zum Verständnis psychologisch-historischer Grundfragen der modernen Politik. Leipzig, Berlin 1912, S. IIIf.] daßSchreibversehen, statt: das. mich so interressirtSchreibversehen, statt: interessiert. daß ich den Abend wol wieder allein bleiben werde wie gestern nach der Vorstellung. Grüße Mama herzlichst, küsse die Kinder und sei innigst umarmt
von Deinem
Frank

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Papier. 14 x 9 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Postkarte ist mit einer aufgedruckten und einer aufgeklebten Briefmarke von je 5 Pfennig frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Schreibdatum ist durch den Inhalt der Postkarte belegt.

Uhrzeit im Postausgangsstempel München: „9 – 10 N“ (= 21 bis 22 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Lenzburg: „XI“ (= 11 Uhr).

  • Schreibort

    München
    3. Juli 1912 (Mittwoch)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    3. Juli 1912 (Mittwoch)
    Ermittelt (sicher)

  • Empfangsort

    Lenzburg
    4. Juli 1912 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

Erstdruck

Briefwechsel 1905‒1918. Band 1: Briefe

Autor:
Frank Wedekind, Tilly Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2018
Seitenangabe:
223
Briefnummer:
340
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 320
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 3.7.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

03.01.2024 16:30