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Kennung: 3241

Straßburg, 30. April 1883 (Montag), Brief

Autor*in

  • Huber, Hermann

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

I


Strassburg, 30ten April 1883


Lieber Freund!

Das war eine Nacht! Von Lilienarmenblendend weiße Arme. umschlungen zu ruhen bei einem noch so rosigen Mädchen! Sie schläft ein an meiner Brust, Busen an Busen gedrückt, das Herz dem Herzen entgegenklopfend, Lippe von Lippe den süssen Lebenssaft einsaugend, den Körper nachlässig bedeckt von den aufgelösten, wallenden Haaren – ein Kreuz an einer Sammetschnur um den Hals gebunden – oh mit welch’ wonniger Lust betrachtete ich dieses Leben! Da erwacht sie, ein unbeschreiblich lieblicher Zug umspielt ihren Mund, die reinste Göttin! Wahrlich ich bin auch den Weg des HerculesHerakles am Scheideweg, Mythos der griech. Mythologie: der junge Herakles begegnet auf seinem Lebensweg zwei Frauen, die die Glückseligkeit (auch Lasterhaftigkeit) und die Tugendhaftigkeit verkörpern; nach einer Debatte der beiden Frauen über ihre Vorzüge, entscheidet sich Herakles für den beschwerlichen Weg der Tugendhaftigkeit, dessen Lohn Ehre und Bewunderung sei. gwandeltDialekt für: gewandelt., mich erfasst ein gewaltiger Drang, sie fühlt meine wogende Brust, sichSchreibversehen, statt: sie. hörte das sich überstürzende Pochen meines Herzens und lächelt mir zu: O monsieur, vous avez beaucoup de chaleur!(frz.) O mein Herr, Sie haben viel Hitze! Ja, ich brannte, stürmische Leidenschaft durchzuckte meinen Leib, die Glut war zur Flamme geworden, ich antworte: O mademoiselle, il faut savoir ce que c’est l’amour!(frz.) O mein Fräulein, man muss wissen, was Liebe ist! glühende
.//. |

gl Küsse drücke ich auf ihre Rosenwangen, sie zieht mich an ihre Brust und umklammert mich fest, küssend und geküsst – ich verliere die Sinne, ich sch glaube nicht mehr auf dieser Welt zu sein! Fürwahr! ich habe den Himmel in meinen Armen und das Paradies gefunden. Was willst Du mehr?

– – – – – –

Du kannst Dir ungefähr einen Begriff von meiner/m/ Seelenzustand machen, wenn Du siehst, dass ich die Antwort nicht abwarten kann. Ja, so eine ganze Nacht, das nenne ich geniessen! Das Andere ist nichts. Nun aber ist die Fröhlichkeit zu Ende, jetzt werde ich stramm arbeiten und habe es auch bereits gethan. – Ein solches Vergnügen ist mehr werth als ein Commers auf der Wangenburg, der viel Geld kostet und den hominem(lat.) den Menschen. nur beschwert. Das rathe ich auch Dir! – –

Seltsam! In hierhier. hat mich noch kein Mensch für einen Schweizer gehalten, bald gelte ich für einen Norddeutschen, bald für einen Franzosen | sogar Italiener! So ist es recht! Aber doch ist eine Veränderung bei mir in dieser kürzesten Zeit vorgekommen. Ich trage nämlich immer – – – Glacéhandschuhe und gebe es überhaupt etwas nobel. Dass ich ja galant bin, habe ich schon 3 mal bewiesen. – Doch die Erklärung will ich gleich auch beifügen. Ich spreche immer französisch mit den Strassburgern und als étudiant comme(frz.) als Student, wie es sich gehört, und natürlich Franzose muss ich immer Handschuhe tragen. il faut et naturellement française il me faut toujours porter des gants. Noch mehr (De plus) ich bin bereits ein angehender Hausfreund und Eingeladener bei 3 franz. Familien. und ich darf ja Dir gegenüber offen sprechen, Du wirst es nicht unrichtig auffassen, man hält mich für ein originales, gescheidtes Haupt, was mir gestern ein Herr ganz unumwunden erklärt hat (Hierauf gieng ich sofort zu meinem Mädchen, das Genie darf nicht belastet sein! Am Tag den Corpus im Kothe, n/N/achts bei der Dirne, aber der Geist auf dem Münsterdome.) | „Es glänzt in Ihren Augen ein brennendes Feuer“. – O möchte dieses Feuer einmal zünden! Möchte es einst leuchten! Aber ach, es sind Philister, auf Dich, Franklin, traue ich, Du sagst mir die Wahrheit, nicht wahr? In der That hast bekömmst Du gerade durch diesen Brief Anlass, mir Deine Aufrichtigkeit wieder zu beweisen. Ich füge Dir den Plan zu ArabiWedekind hatte in einem nicht überlieferten Brief die Ausarbeitung des Dramas angemahnt, vgl. Hermann Huber an Wedekind, 28.4.1883. bei; die Fabel, die Scenerie, die Grundidee.

Neben HeineHeinrich Heines „Reisebilder“ und „Shakspeares Mädchen und Frauen“, vgl. Hermann Huber an Wedekind, 28.4.1883. studire ich Grabbe, dessen Napoleon gefällt mir als Drama durchaus nicht, als Charakteristik und gedankentiefes Werk verehre ich’s. Die ganze Woche (heute ist Montag) habe ich kein Colleg mehr, da kann ich etwas lesen & arbeiten.

Nun hoffe ich, sofort Antwort auf die beiden Briefeder vorliegende Brief und der vorangegangene: Hermann Huber an Wedekind, 28.4.1883. zu erhalten, wenigstens die Kritik & guten Rathschläge zu Arabi.

Lebewohl
Dein
H.H.


P.S. Den Brief betr. die Germaniadie Beilage zu Hermann Huber an Wedekind, 24.4.1883. verbrenne.


[Beilage:]


II.


Expositio(lat.) Darlegung; erster Teil einer dramatischen Handlung. – Hermann Huber schildert die Handlungsidee von Arabi, seinem Geschichtsdrama in 4 Akten über Achmed Arabi, den Anführer der Arabi-Bewegung, und den Anglo-Ägyptischen Krieg 1882.

A. I. Der KhediveMuhammad Tawfik Pascha, seit 15.11.1879 Vizekönig der osmanischen Provinz Ägypten (Khedivat). Sohn des Ismail Pascha, der von 1867 bis 26.6.1879 als Khedive Ägypten modernisierte und in den finanziellen Ruin stürzte., ein Freudenmensch, der sich um die Staatsgeschäfte nichts bekümmert, sondern nur seinem Vergnügen fröhnt, übergibt die Note der Fremdmächte, die von ihm europ. Finanzverwaltung verlangt, seinem MinisterRiad Pascha (Riaz Pasha) war vom 21.9.1879 bis 10.9.1881 Premier- und zugleich Finanzminister Ägyptens; mit der Regierungsbildung des überschuldeten Landes hatten ihn die Gläubiger Großbritannien und Frankreich betraut. Riaz. Dieser, ein durchtriebener Höfling, anerbietet sich dem Verlangen des Khedives, Rezia, die Geliebte Arabis zu rauben, behülflich zu sein. Arabi soll zum Khedive berufen werden und für seiner dem Vaterland treu geleisteten Dienste mit dem höchsten Orden beehrt werden. Eine solche Ehre werde Arabi seinen Verlust schon verscherzengessen lassen – meint Riaz.

A. II. Arabi offenbart Rezia, dass er den Krieg wünsche, Aegypten soll frei von den Langfingereuropäern werden und unabhängig vom alten kranken Mann in Stambulauch ‚kranker Mann am Bosporus‘; Spruch für das geschwächte, zerfallende Osmanische Reich, aus dem später die Türkei hervorging.. Er drückt ihr seinen Schmerz aus über die Aussaugerei des Landes, er – ein FellacheAckerbau treibende Bevölkerungsgruppe in arabischen Ländern; unter der Herrschaft des Khedives Ismail Pascha besonders mit Steuern belegt. – weiss noch, dass er von niederer Geburt ist, seine Pflicht gebeut, das Volk zu retten u weiss kommt es bloss einmal zum Bewusstsein, dass ein Fellah auch ein Mensch ist, dann wü/i/rden/ es/ gewiss an den Fesseln rütteln. Erreicht er auch nicht mehr, das ist ihm genug, er opfert sich gern für sein Volk. Rezia, ein hochsinniges Weib, ermuntert ihn. Voll der kühnsten Hoffnungen trennen sie sich, Arabi zum Khedive; Rezia wird entführt. | Arabi, beehrt mit Orden, wird Oberbefehlshaber. Morgen geht er zu den Truppen. Noch einmal will er Rezia sehen, er durchschaut die Hinterlist & nun beschliesst er den Krieg gegen den Khedive zu führen & ihn in’s Lager der Engländer zu drängen.

Act III. Arabi ist bei seinem Heere, die Anordnungen zur Schlacht sind getroffen, das Ultimatum der Engländer abgewiesen. Die E. beschiessen die Stadt.Vom 11. bis 13.7.1882 wurde Alexandria von britischen Kriegsschiffen beschossen. Ein Monat zuvor war, von der Arabi-Bewegung initiiert, in der Stadt ein Volksaufstand gegen Briten und Franzosen ausgebrochen. Arabi versammelt das Heer, hält vor den Soldaten eine Rede, worin er die Schmächlichkeit des Khediv’s darthut, (während seiner Rede hört man Kanonendonner, er hebt den Vorhang des Lagerzeltes weg, und weist auf die brennende Stadt): Wessen Werk ist das? Des Khedivs im Bunde mit den Gidurs. Arabi gewinnt das Militair, aber auch Syrien’s & der Türkei Gesandte versprechen ihm unter der Hand Hilfe zu senden, von den Derwischen wird das Volk gehetzt gegen den Khedive & für den SultanAbdülhamid II., seit 1876 Sultan des Osmanischen Reichs., dessen Sache Arabi verficht; im Lager werden die Soldaten ebenfalls fanatisirt. Durch abendländische Officire bewogen (die ihm die Symp. des freien Abendlandes offenbaren) | zieht er sich nach Tel el Kebir„Tell el Kebir, Dorf in der ägypt. Provinz Scharkieh, an der Bahn Kairo-Ismailia und am Süßwasserkanal im Tal des Wadi Tumilat, wo die Ägypter unter Arabi Pascha durch die Engländer unter Wolseley 13. Sept. 1882 eine entscheidende Niederlage erlitten.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 397] zurück.

Act IV. Der Khedive betheiligt sich nicht an diesem Kampfe, er geniesst und durch Gewalt ist auch Rezia seiner Lust zum Opfer gefallen. Sie zeigt sich nun ergeben, lockt ihn nach einem entlegenen Orte des Serails, schläfert ihn ein, jedoch so, dass er nicht schlafen kann (durch was für ein Mittel, ist Sache der Chemiker!!) und schleudert ihm seine ganze Verworfenheit in’s Gesicht. Er kann nichts thun, seine Diener sind bestochen & führen Rezia hinaus, wo ihrer der Wagen wartet, der sie zu Arabi führen soll.

Arabi’s Glück ist bis zum Gipfel gestiegen, er hat eine Schlacht gewonnenam 5.8.1882 die Schlacht von Kafr El Dawwar, die die ägyptische Armee Achmed Arabi Paschas gegen die britischen Truppen gewann., da, wie ein böses Omen! tritt Rezia nicht mehr eine Lilie! auf; durch ihre Bitten bewogen, erdolcht er sie. Wie ein Schimmer eines verborgenen Stern’s leuchtete sie ihm in den Schlachten, überall, nun ist sie hin – was kann er noch verlieren? |

Sein Verderben naht; denn die E., den Schleichweg des Sultans erkennend, zwingen diesen unter Drohungen, Arabi zum Rebellen zu erklärenIn einem Tagesbericht über den Anglo-Ägyptischen Krieg hatte die Presse im Vorjahr gemeldet: „Alexandrien, 23. Juli. Ein Dekret des Khedive setzt Arabi Pascha ab und erklärt ihn für einen Rebellen. Eine Proklamation verbietet der Armee, den Befehlen Arabi’s zu gehorchen, und eine andere befiehlt dem Volke, die von Arabi verlangte Kriegssteuer nicht zu zahlen.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 173, 24.7.1882, S. (2)]; sie bestechen seinen Mitfeldherrn, die Wachtposten. –

Die Proclamation des Vertreters des Propheten ist im Lager verlesen. Alles fällt ab, die Engl er hört den KanondonnerSchreibversehen, statt: Kanonendonner., er kennt das Gaukelspiel, er geht nicht mehr in die Schlacht, dem Pöbel zum Frasse, für das Volk, dem er sein Leben geweiht, doch es wird eine Zeit kommen, da man wieder wünschen wird diesen Ersten Mann aus der Nation der Aegypter.

–––

Arabi geht nicht nur aus äußerlichen Gründen:
Erkl. zum Rebellen
Abfall der Soldaten
Verrath seines Mitfeldherrn zu Grunde, sondern auch aus einem innerlichen, dass er seinen Plan, Aeg. von der Fremdherrschaft zu befreien aus persönlicher Rachesucht ändert. |


III.


Die AchillesferseDer Schwachpunkt. möchte zu suchen sein in der Verbindung zweier Handlungen; aber ich glaube, dass sie eben durch den Wechsel der Tendenz Arabis beseitigt worden und auf diese Weise beide Handlungen in ein harmonisches Ganzes verwoben worden.

Ohne Weibsbild würde das Stück wohl zu fade werden.

Bitte, übe unbarmherzig Kritik, sage mir, was Du gut, was schlecht findest, gib mir Rathschläge &. B/b/evor ich nämlich das Stück beginne, will ich mir ganz klar sein, wie es durchgeführt werden soll.

Für Deine Mühe danke ich Dir zum Voraus. Noch eine Bitte. Lass Dir von Herr Prof. Dr Frey meine Aufsatzhefte gelegentlich gebenAdolf Frey unterrichtete seit Januar 1882 die Schüler am Gymnasium der Kantonsschule Aarau in Deutscher Sprache und Literatur [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule 1882/83, S. 10].! |

Nachdem ich Deine Kritik gehört, will ich Dir mittheilen, welche Scenen ich für am Wirkungsvollsten halte.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Brief: Papier. 1 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht. Beilage: Papier. 1 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. 1 Blatt. 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die beiden Doppelblätter und das Einzelblatt hat Hermann Huber mit den römischen Ziffern „I.“ bis „III.“ nummeriert. Auf den Seiten 1 und 9 unten befinden sich Fortsetzungszeichen. Auf Seite 5 oben (Seite 1 der Beilage) hat Wedekind „Huber 30. April 1883“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Straßburg
    30. April 1883 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Straßburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Aarau
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 75
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hermann Huber an Frank Wedekind, 30.4.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

16.09.2022 16:38
Kennung: 3241

Straßburg, 30. April 1883 (Montag), Brief

Autor*in

  • Huber, Hermann

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

I


Strassburg, 30ten April 1883


Lieber Freund!

Das war eine Nacht! Von Lilienarmenblendend weiße Arme. umschlungen zu ruhen bei einem noch so rosigen Mädchen! Sie schläft ein an meiner Brust, Busen an Busen gedrückt, das Herz dem Herzen entgegenklopfend, Lippe von Lippe den süssen Lebenssaft einsaugend, den Körper nachlässig bedeckt von den aufgelösten, wallenden Haaren – ein Kreuz an einer Sammetschnur um den Hals gebunden – oh mit welch’ wonniger Lust betrachtete ich dieses Leben! Da erwacht sie, ein unbeschreiblich lieblicher Zug umspielt ihren Mund, die reinste Göttin! Wahrlich ich bin auch den Weg des HerculesHerakles am Scheideweg, Mythos der griech. Mythologie: der junge Herakles begegnet auf seinem Lebensweg zwei Frauen, die die Glückseligkeit (auch Lasterhaftigkeit) und die Tugendhaftigkeit verkörpern; nach einer Debatte der beiden Frauen über ihre Vorzüge, entscheidet sich Herakles für den beschwerlichen Weg der Tugendhaftigkeit, dessen Lohn Ehre und Bewunderung sei. gwandeltDialekt für: gewandelt., mich erfasst ein gewaltiger Drang, sie fühlt meine wogende Brust, sichSchreibversehen, statt: sie. hörte das sich überstürzende Pochen meines Herzens und lächelt mir zu: O monsieur, vous avez beaucoup de chaleur!(frz.) O mein Herr, Sie haben viel Hitze! Ja, ich brannte, stürmische Leidenschaft durchzuckte meinen Leib, die Glut war zur Flamme geworden, ich antworte: O mademoiselle, il faut savoir ce que c’est l’amour!(frz.) O mein Fräulein, man muss wissen, was Liebe ist! glühende
.//. |

gl Küsse drücke ich auf ihre Rosenwangen, sie zieht mich an ihre Brust und umklammert mich fest, küssend und geküsst – ich verliere die Sinne, ich sch glaube nicht mehr auf dieser Welt zu sein! Fürwahr! ich habe den Himmel in meinen Armen und das Paradies gefunden. Was willst Du mehr?

– – – – – –

Du kannst Dir ungefähr einen Begriff von meiner/m/ Seelenzustand machen, wenn Du siehst, dass ich die Antwort nicht abwarten kann. Ja, so eine ganze Nacht, das nenne ich geniessen! Das Andere ist nichts. Nun aber ist die Fröhlichkeit zu Ende, jetzt werde ich stramm arbeiten und habe es auch bereits gethan. – Ein solches Vergnügen ist mehr werth als ein Commers auf der Wangenburg, der viel Geld kostet und den hominem(lat.) den Menschen. nur beschwert. Das rathe ich auch Dir! – –

Seltsam! In hierhier. hat mich noch kein Mensch für einen Schweizer gehalten, bald gelte ich für einen Norddeutschen, bald für einen Franzosen | sogar Italiener! So ist es recht! Aber doch ist eine Veränderung bei mir in dieser kürzesten Zeit vorgekommen. Ich trage nämlich immer – – – Glacéhandschuhe und gebe es überhaupt etwas nobel. Dass ich ja galant bin, habe ich schon 3 mal bewiesen. – Doch die Erklärung will ich gleich auch beifügen. Ich spreche immer französisch mit den Strassburgern und als étudiant comme(frz.) als Student, wie es sich gehört, und natürlich Franzose muss ich immer Handschuhe tragen. il faut et naturellement française il me faut toujours porter des gants. Noch mehr (De plus) ich bin bereits ein angehender Hausfreund und Eingeladener bei 3 franz. Familien. und ich darf ja Dir gegenüber offen sprechen, Du wirst es nicht unrichtig auffassen, man hält mich für ein originales, gescheidtes Haupt, was mir gestern ein Herr ganz unumwunden erklärt hat (Hierauf gieng ich sofort zu meinem Mädchen, das Genie darf nicht belastet sein! Am Tag den Corpus im Kothe, n/N/achts bei der Dirne, aber der Geist auf dem Münsterdome.) | „Es glänzt in Ihren Augen ein brennendes Feuer“. – O möchte dieses Feuer einmal zünden! Möchte es einst leuchten! Aber ach, es sind Philister, auf Dich, Franklin, traue ich, Du sagst mir die Wahrheit, nicht wahr? In der That hast bekömmst Du gerade durch diesen Brief Anlass, mir Deine Aufrichtigkeit wieder zu beweisen. Ich füge Dir den Plan zu ArabiWedekind hatte in einem nicht überlieferten Brief die Ausarbeitung des Dramas angemahnt, vgl. Hermann Huber an Wedekind, 28.4.1883. bei; die Fabel, die Scenerie, die Grundidee.

Neben HeineHeinrich Heines „Reisebilder“ und „Shakspeares Mädchen und Frauen“, vgl. Hermann Huber an Wedekind, 28.4.1883. studire ich Grabbe, dessen Napoleon gefällt mir als Drama durchaus nicht, als Charakteristik und gedankentiefes Werk verehre ich’s. Die ganze Woche (heute ist Montag) habe ich kein Colleg mehr, da kann ich etwas lesen & arbeiten.

Nun hoffe ich, sofort Antwort auf die beiden Briefeder vorliegende Brief und der vorangegangene: Hermann Huber an Wedekind, 28.4.1883. zu erhalten, wenigstens die Kritik & guten Rathschläge zu Arabi.

Lebewohl
Dein
H.H.


P.S. Den Brief betr. die Germaniadie Beilage zu Hermann Huber an Wedekind, 24.4.1883. verbrenne.


[Beilage:]


II.


Expositio(lat.) Darlegung; erster Teil einer dramatischen Handlung. – Hermann Huber schildert die Handlungsidee von Arabi, seinem Geschichtsdrama in 4 Akten über Achmed Arabi, den Anführer der Arabi-Bewegung, und den Anglo-Ägyptischen Krieg 1882.

A. I. Der KhediveMuhammad Tawfik Pascha, seit 15.11.1879 Vizekönig der osmanischen Provinz Ägypten (Khedivat). Sohn des Ismail Pascha, der von 1867 bis 26.6.1879 als Khedive Ägypten modernisierte und in den finanziellen Ruin stürzte., ein Freudenmensch, der sich um die Staatsgeschäfte nichts bekümmert, sondern nur seinem Vergnügen fröhnt, übergibt die Note der Fremdmächte, die von ihm europ. Finanzverwaltung verlangt, seinem MinisterRiad Pascha (Riaz Pasha) war vom 21.9.1879 bis 10.9.1881 Premier- und zugleich Finanzminister Ägyptens; mit der Regierungsbildung des überschuldeten Landes hatten ihn die Gläubiger Großbritannien und Frankreich betraut. Riaz. Dieser, ein durchtriebener Höfling, anerbietet sich dem Verlangen des Khedives, Rezia, die Geliebte Arabis zu rauben, behülflich zu sein. Arabi soll zum Khedive berufen werden und für seiner dem Vaterland treu geleisteten Dienste mit dem höchsten Orden beehrt werden. Eine solche Ehre werde Arabi seinen Verlust schon verscherzengessen lassen – meint Riaz.

A. II. Arabi offenbart Rezia, dass er den Krieg wünsche, Aegypten soll frei von den Langfingereuropäern werden und unabhängig vom alten kranken Mann in Stambulauch ‚kranker Mann am Bosporus‘; Spruch für das geschwächte, zerfallende Osmanische Reich, aus dem später die Türkei hervorging.. Er drückt ihr seinen Schmerz aus über die Aussaugerei des Landes, er – ein FellacheAckerbau treibende Bevölkerungsgruppe in arabischen Ländern; unter der Herrschaft des Khedives Ismail Pascha besonders mit Steuern belegt. – weiss noch, dass er von niederer Geburt ist, seine Pflicht gebeut, das Volk zu retten u weiss kommt es bloss einmal zum Bewusstsein, dass ein Fellah auch ein Mensch ist, dann wü/i/rden/ es/ gewiss an den Fesseln rütteln. Erreicht er auch nicht mehr, das ist ihm genug, er opfert sich gern für sein Volk. Rezia, ein hochsinniges Weib, ermuntert ihn. Voll der kühnsten Hoffnungen trennen sie sich, Arabi zum Khedive; Rezia wird entführt. | Arabi, beehrt mit Orden, wird Oberbefehlshaber. Morgen geht er zu den Truppen. Noch einmal will er Rezia sehen, er durchschaut die Hinterlist & nun beschliesst er den Krieg gegen den Khedive zu führen & ihn in’s Lager der Engländer zu drängen.

Act III. Arabi ist bei seinem Heere, die Anordnungen zur Schlacht sind getroffen, das Ultimatum der Engländer abgewiesen. Die E. beschiessen die Stadt.Vom 11. bis 13.7.1882 wurde Alexandria von britischen Kriegsschiffen beschossen. Ein Monat zuvor war, von der Arabi-Bewegung initiiert, in der Stadt ein Volksaufstand gegen Briten und Franzosen ausgebrochen. Arabi versammelt das Heer, hält vor den Soldaten eine Rede, worin er die Schmächlichkeit des Khediv’s darthut, (während seiner Rede hört man Kanonendonner, er hebt den Vorhang des Lagerzeltes weg, und weist auf die brennende Stadt): Wessen Werk ist das? Des Khedivs im Bunde mit den Gidurs. Arabi gewinnt das Militair, aber auch Syrien’s & der Türkei Gesandte versprechen ihm unter der Hand Hilfe zu senden, von den Derwischen wird das Volk gehetzt gegen den Khedive & für den SultanAbdülhamid II., seit 1876 Sultan des Osmanischen Reichs., dessen Sache Arabi verficht; im Lager werden die Soldaten ebenfalls fanatisirt. Durch abendländische Officire bewogen (die ihm die Symp. des freien Abendlandes offenbaren) | zieht er sich nach Tel el Kebir„Tell el Kebir, Dorf in der ägypt. Provinz Scharkieh, an der Bahn Kairo-Ismailia und am Süßwasserkanal im Tal des Wadi Tumilat, wo die Ägypter unter Arabi Pascha durch die Engländer unter Wolseley 13. Sept. 1882 eine entscheidende Niederlage erlitten.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 397] zurück.

Act IV. Der Khedive betheiligt sich nicht an diesem Kampfe, er geniesst und durch Gewalt ist auch Rezia seiner Lust zum Opfer gefallen. Sie zeigt sich nun ergeben, lockt ihn nach einem entlegenen Orte des Serails, schläfert ihn ein, jedoch so, dass er nicht schlafen kann (durch was für ein Mittel, ist Sache der Chemiker!!) und schleudert ihm seine ganze Verworfenheit in’s Gesicht. Er kann nichts thun, seine Diener sind bestochen & führen Rezia hinaus, wo ihrer der Wagen wartet, der sie zu Arabi führen soll.

Arabi’s Glück ist bis zum Gipfel gestiegen, er hat eine Schlacht gewonnenam 5.8.1882 die Schlacht von Kafr El Dawwar, die die ägyptische Armee Achmed Arabi Paschas gegen die britischen Truppen gewann., da, wie ein böses Omen! tritt Rezia nicht mehr eine Lilie! auf; durch ihre Bitten bewogen, erdolcht er sie. Wie ein Schimmer eines verborgenen Stern’s leuchtete sie ihm in den Schlachten, überall, nun ist sie hin – was kann er noch verlieren? |

Sein Verderben naht; denn die E., den Schleichweg des Sultans erkennend, zwingen diesen unter Drohungen, Arabi zum Rebellen zu erklärenIn einem Tagesbericht über den Anglo-Ägyptischen Krieg hatte die Presse im Vorjahr gemeldet: „Alexandrien, 23. Juli. Ein Dekret des Khedive setzt Arabi Pascha ab und erklärt ihn für einen Rebellen. Eine Proklamation verbietet der Armee, den Befehlen Arabi’s zu gehorchen, und eine andere befiehlt dem Volke, die von Arabi verlangte Kriegssteuer nicht zu zahlen.“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 173, 24.7.1882, S. (2)]; sie bestechen seinen Mitfeldherrn, die Wachtposten. –

Die Proclamation des Vertreters des Propheten ist im Lager verlesen. Alles fällt ab, die Engl er hört den KanondonnerSchreibversehen, statt: Kanonendonner., er kennt das Gaukelspiel, er geht nicht mehr in die Schlacht, dem Pöbel zum Frasse, für das Volk, dem er sein Leben geweiht, doch es wird eine Zeit kommen, da man wieder wünschen wird diesen Ersten Mann aus der Nation der Aegypter.

–––

Arabi geht nicht nur aus äußerlichen Gründen:
Erkl. zum Rebellen
Abfall der Soldaten
Verrath seines Mitfeldherrn zu Grunde, sondern auch aus einem innerlichen, dass er seinen Plan, Aeg. von der Fremdherrschaft zu befreien aus persönlicher Rachesucht ändert. |


III.


Die AchillesferseDer Schwachpunkt. möchte zu suchen sein in der Verbindung zweier Handlungen; aber ich glaube, dass sie eben durch den Wechsel der Tendenz Arabis beseitigt worden und auf diese Weise beide Handlungen in ein harmonisches Ganzes verwoben worden.

Ohne Weibsbild würde das Stück wohl zu fade werden.

Bitte, übe unbarmherzig Kritik, sage mir, was Du gut, was schlecht findest, gib mir Rathschläge &. B/b/evor ich nämlich das Stück beginne, will ich mir ganz klar sein, wie es durchgeführt werden soll.

Für Deine Mühe danke ich Dir zum Voraus. Noch eine Bitte. Lass Dir von Herr Prof. Dr Frey meine Aufsatzhefte gelegentlich gebenAdolf Frey unterrichtete seit Januar 1882 die Schüler am Gymnasium der Kantonsschule Aarau in Deutscher Sprache und Literatur [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule 1882/83, S. 10].! |

Nachdem ich Deine Kritik gehört, will ich Dir mittheilen, welche Scenen ich für am Wirkungsvollsten halte.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 10 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Brief: Papier. 1 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht. Beilage: Papier. 1 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. 1 Blatt. 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die beiden Doppelblätter und das Einzelblatt hat Hermann Huber mit den römischen Ziffern „I.“ bis „III.“ nummeriert. Auf den Seiten 1 und 9 unten befinden sich Fortsetzungszeichen. Auf Seite 5 oben (Seite 1 der Beilage) hat Wedekind „Huber 30. April 1883“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Straßburg
    30. April 1883 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Straßburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Aarau
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 75
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hermann Huber an Frank Wedekind, 30.4.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

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In Bearbeitung
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Anke Lindemann

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