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Kennung: 308

München, 30. Juli 1912 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Oesterheld, Erich
 
 

Inhalt

Sehr geehrter HerrErich Oesterheld, Verlagsbuchhändler in Berlin-Wilmersdorf (Aachener Straße 39), zusammen mit Siegbert Cohn Inhaber des Verlags Oesterheld & Co. in Berlin (Lietzenburger Straße 48) [vgl. Berliner Adreßbuch 1912, Teil I, S. 2198] und engagiert für den Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) und sein Verbandsorgan „Der Schriftsteller“ – die „beiden ersten Jahrgänge erschienen im Verlag Erich Oesterheld und Co., der dem SDS auch sein erstes Büro zur Verfügung stellte.“ [Fischer 1980, Sp. 141]. „Geschäftsstelle“ des SDS war „Oesterheld & Co., Berlin“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 79, Nr. 214, 13.9.1912, S. 10613].!

Wollen Sie mir erlauben, beiliegenden AufsatzWedekind hat seinen Aufsatz „Die Macht der Presse“ [KSA 5/II, S. 463-465] – verfasst am 2.4.1912: „Schreibe Die Macht der Presse“ [Tb] – zuerst dem „Neuen Wiener Tagblatt“ angeboten [vgl. Wedekind an Neues Wiener Tagblatt, 3.4.1912], das die Veröffentlichung ablehnte [vgl. Neues Wiener Tagblatt an Wedekind, 5.4.1912]; er bot ihn dann mit dem vorliegenden Brief dem Verbandsorgan des SDS (siehe oben) an, das ihn publizierte [vgl. Frank Wedekind: Die Macht der Presse. In: Der Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, Jg. 2, Nr. 10, August/September 1912, S. 85-87]. Die Drucklegung besprach Wedekind allerdings nicht mit Erich Oesterheld, sondern mit Hans Landsberg [vgl. Wedekind an Hans Landsberg, 7.8.1912]. dem „Schriftsteller“ zur Verfügung zu stellen. Sollten Sie keine Verwendung dafür haben, dann darf ich Sie wohl um möglichst umgehende Rücksendung ersuchen
Mit hochachtungsvollem Gruß
Ihr ergebener

Frank Wedekind.


München, Prinzregentenstraße 50

30.12/7/.12. |


[Beilage:]


Die Macht der Presse
von
Frank Wedekind.

Meine geehrten Herrn Kollegen!
Das Reich Israel, dem die Welt die Hälfte ihrer moralischen Normen verdankt, wurde bekanntlich von seinen Schriftstellern regiert. Im alten Testament heißen sie Richter und Propheten, im neuen heißen sie Pharisäer und Schriftgelehrte. Eine Zeitlang regierte sogar eine Schriftstellerin namens Deborahalttestamentarische Figur [vgl. Buch der Richter 4,4-24 und 5,1-31], die „Prophetin und Richterin Deborah, die ‚Mutter Israels‘, […] welche siegreich einen Feldzug beendet, worüber ihr berühmtes Siegeslied berichtet.“ [KSA 5/III, S. 258f.]. Von den Propheten mußten sich die gekrönten Häupter den Standpunkt klar machen lassen. Wenn man jene Zeiten mit den unseren vergleicht, dann dürfen wir nicht behaupten daß wir es in unserem Beruf gerade besonders weit | gebracht haben. Allerdings wäre Lamartine einmal beinahe Präsident von FrankreichAlphonse de Lamartine, französischer Schriftsteller, war nach Juli-Revolution 1830 „Abgeordneter im frz. Parlament und stieg nach der Februarrevolution 1848 zum Außenminister und Chef der Provisorischen Regierung der Zweiten Republik auf. Bei der Wahl zum Staatspräsidenten unterlag er jedoch Louis Napoléon Bonaparte.“ [KSA 5/III, S. 259] geworden und Björnson konnte als WeltberühmtheitBjörnstjerne Björnson, norwegischer Schriftsteller, Schwiegervater von Wedekinds langjährigem Verleger Albert Langen, Verfasser der norwegischen Nationalhymne, 1903 Literaturnobelpreisträger. „Politisch engagiert, setzte er sich für die nationale Selbständigkeit Norwegens sowie die Lösung sozialer Probleme seines Landes ein“ [KSA 5/III, S. 259]. dem König seines kleinen Heimatlandes unbequem werden. Aber was besagt das wenn man es Beispiels weise der unerschütterlichen Passivität und Einflußlosigkeit gegenüberhält, deren sich seit Jahrzehnten die größten Geister deutscher Stammesangehörigkeit erfreuen. Für mich besteht kein Zweifel darüber, daß wir uns im Lauf der Jahrhunderte die Musik sowohl wie die Malerei über den Kopf wachsen ließen. Unter uns steht nur noch die Tanzkunst und die Akrobatik. Ich habe oft darüber nachgedacht, was an diesem Niedergang die Schuld tragen mag.
Sind wir in unserem Beruf nicht vielleicht zu vornehm | geworden? – Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts schlugen in der Welt die Schriftsteller aufeinander ein wie zur Zeit des Faustrechts die Raubritter. Dafür gab es aber auch Schriftstellerfreundschaften und -Parteigängerschaften, die der Masse des Volkes Achtung abnötigten. Vor allem aber glaube ich, wenn ich unsere gesellschaftliche Stellung und Würdigung mit derjenigen der Musiker und der Maler vergleiche, wir verstehen uns nicht genügend darauf mit der Feder umzugehen, wir lassen die Macht der Presse außer acht. Wenn irgendwo einem Maler ein Bild oder einem Musiker eine Oper zurückgewiesen wird, dann greift sofort einer seiner Kollegen zur Feder und schreibt einen geharnischten Artikel in dem er Max Liebermann oder Richard Strauß als olympischen | Zeugen zitiert beschwört. Widerfährt dieselbe Schmach einem Schriftsteller, dann geht ein Engel durchs Zimmerdann herrscht Stille (Redewendung).. Der Schriftsteller schreibt gegen Schauspielerelend, gegen Malerelend, gegen Musikerelend. Und wird ihm selber elend, dann entsinkt die Waffe seiner Hand und er sagt: sagt er: Es geschieht meinem Vater ganz recht, wenn ich mir die Finger abfriere. Warum kauft er mir keine Handschuhe!
Dazu kommt freilich noch etwas anderes, was im Lauf der letzten drei oder vier DezenienSchreibversehen, statt: Dezennien. dazu beitrug, das Ansehen der Schriftstellerei in den Augen der Nation zu erschüttern. Das sind die guten Geschäfte, die einzelne auserwählte Glückskinder mit Bühnenstücken oder Romanen gemacht haben. Die Nation will ihre Märtyrer, ihrer Gesinnungshelden haben, die für ihre Überzeugung leiden d.h. hungern. und Die Nation glaubt ein Recht darauf zu haben, diese Märtyrer | unter ihren Schriftstellern zu finden. Aus alter Gewohnheit wird es der ihr Nation Menschheit schwer, die Größe eines nichthungernden Schriftstellers für echt zu halten. Dabei glaubt sie man täglich in Dramatik und Kritik einen, wenn er wirklich bestände, allerdings nicht erfreulichen Gegensatz von gewissenlosen Spekulanten und neidischen M hämischen Moralisten vor sich zu sehen. An diesem Gegensatz, meine verehrten Herren, ist aber nur die Gesetzgebung schuld die uns im Urheberrecht ein halbes, unfertiges Werk beschert hat. In dem Augenblick, wo der Mitarbeiter einer Zeitung ebenso am Gewinn seines Blattes beteiligt ist, wie der Bühnenschriftsteller am Gewinn des Theaters, ist dieser häßliche Gegensatz so im großen Ganzen aus der Welt geschafft. Allerdings müßte sich die Nation dann endgültig mit der Thatsache aus|söhnen, daß ein Schriftsteller überhaupt nicht die Verpflichtung hat, in erster Linie Hungerkünstler zu sein.
Der Weg, um zu diesem Ziele zu gelangen ist bei durch der/ie/ tatsächlichen Macht der Presse ein so einfacher, daß man sich bei der ihrer umfassenden Organisation der Presse nur wundern kann, daß er nicht längst eingeschlagen wurde. In jedem Zeitungskatalog ist von mindestens dreiviertel sämmtlicher aufgeführten Blätter die Abonnentenzahl angegeben. Diese Angaben sind völlig zuverlässig, denn wenn das Geschäft gebietet, sie möglichst hoch zu greifen so hindert das Gesetz über den Wettbewerb daß sie zu hoch gegriffen werden. Multipliziert mann diese Abonnentenziffer mit dem Abonnementspreis und das daraus gewonnene Produkt mit der durchschnittlichen Zeilenanzahl der/s/ | und dividiert das so gewonnene Produkt durch eine bestimmte Zahl die, einmal festgestellt für alle Fälle gleichbleibt, so erhält man das normale Zeilenhonorar für die in Frage kommende Zeitung. Dieses Normalhonorar representiertSchreibversehen, statt: repräsentiert. dann den prozentualen Gewinnantheil des Autors am/n/ Ent Gewinn seines Blattes der Bruttoeinnahme seines Blattes.
Die Vorteile dieses Systems liegen auf der Hand. Der Schriftsteller braucht sich den Lohn seiner Arbeit nicht mehr bewilligen zu lassen, sondern er kann ihn im Voraus selber berechnen. Die Ehre, höhere Honorare zu bewilligen, bleibt natürlich keinem/r/ Zeitung vorenthalten. Dagegen ist es dem Schriftsteller von standesSchreibversehen, statt: Standes. wegen nicht | gestattet, unter dem für seine Zeitung gültigen Preis zu arbeiten.
Die heikle Aufgabe, die heilige Zahl zu berechnen, durch die bei sämmtlichen Blättern das Produkt aus Abonnentenziffer und Abonnementspreis zu dividieren ist dividiert wird, wird von einer Kommission von Schriftstellern gelöst/st/. Zur Einbürgerung des Systems empfieltSchreibversehen, statt: empfiehlt. es sich, die Zahl zu Anfang nicht zu niedrig zu normieren. In dem Maße wie die Lebensmittelpreise und Wohnungsmieten steigen wird die heilige Zahl dann im Lauf der Jahre stetig sinken. In ihrem Tiefstand hat der Schriftsteller ein untrügliches lebendiges Zeichen für das Gedeihen und die hohe Bedeutung seines Berufes vor Augen. |
Der prinzipielle Unterschied in der Honorierung von Originalbeiträgen und Nachdrucken fällt damit fort. Sind doch auch am Theater bei Wiederholungen die gleichen Prozentsätze maßgebend wie bei Premieren. Nur der Abnehmerpreis der gebotenen Leistung kann die Einkünfte ihres Autors beeinflussen.
Ob durch dies System der Idealzustand wieder erobert wird, von dem zu Anfang die Rede war, möchte ich nicht näher erörtern. Sicherlich kann seine Einführung dem Journalismus nur Ehre und Unabhängigkeit einbringen. Auf den Einwand, daß ich mich von einer seichten Utopie | habe blenden lassen, von einer schillernden Theorie, die sich mit der Wirklichkeit nicht deckt, wäre zu entgegnen:/,/ daß dann die Theorie eben so lange vervollkommnet werden muß, bis sie sich mit der Praxis in Einklang bringen läßt.
Das schwierigste an der Sache ist, daß es sich hier um die Interessen von Schriftstellern handelt, einem Beruf, dem Ma/ä/rtyrertum und, Selbstlosigkeit und Objektivität als Alpha und Ω Omega zur Pflicht gemacht wird. Aber wo die Macht ist, da ist das Recht, sagt ein gutes Sprichwort. Wird das erörterte System in der Theorie als richtig anerkannt und läßt es si sich praktisch trotzdem nicht durchführen, dann ist es wol nur eine schöne Redewendung, wenn die Presse sich selbst als Großmacht bezeichnet.


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 11 Blatt, davon 11 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. 14 x 22,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat die Seiten der Beilage jeweils oben rechts paginiert („1.“, „2.“, „3“, „4“, „5“, „6.“, „7.“, „8“, „9.“, „10.“); von fremder Hand sind – vermutlich im Zuge der Redaktion für die Drucklegung in der Zeitschrift „Der Schriftsteller“ – in der Beilage die genannten Namen sowie nicht gut leserliche Stellen nochmals mit Bleistift darüber notiert, außerdem an einer Stelle auf Seite 2 der Beilage eine Variante („los“ statt „ein“) formuliert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    30. Juli 1912 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Literaturvermittlung. Zeugnisse aus einer Sammlung zur Geschichte des Buchwesens

Herausgeber:
Herbert G. Göpfert; Mark Lehmstedt
Verlag:
Wiesbaden: Harrassowitz
Jahrgang:
1992
Seitenangabe:
185-188
Briefnummer:
74
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief mit Beilage abgedruckt; in der Vorbemerkung heißt es zunächst über das Publikationsorgan des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) „Der Schriftsteller“ (Berlin): „Redakteur der ersten beiden Jahrgänge war ihr Verleger Erich Oesterheld in Berlin. An ihn wandte sich Frank Wedekind […], um seinen […] Aufsatz ‚Die Macht der Presse‘ zur Veröffentlichung anzubieten. In Anbetracht des ungenügend ausgearbeiteten Urheberrechts schlug er hier die Einführung einer Honorar-Norm für Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften in Abhängigkeit von deren Auflagenhöhe vor. Oesterheld lehnte die Publikation […] ab […]; der Text erschien erst postum 1921 innerhalb der Werkausgabe.“ Wedekinds Aufsatz ist zwar ohne Quellenangabe datiert auf 1912 in der Werkausgabe gedruckt [vgl. GW 9, S. 396-399], allerdings erschien er bereits zeitgenössisch in „Der Schriftsteller“ (siehe Erläuterungen), der Erstdruck der Beilage, die neu ediert wurde [vgl. KSA 5/II, S. 463-465].
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Goethe- und Schiller-Archiv ‒ Klassik Stiftung Weimar

Jenaer Straße 1
99425 Weimar
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Bestand Autographensammlung
Signatur des Dokuments:
GSA 96/4533
Standort:
Goethe- und Schiller-Archiv ‒ Klassik Stiftung Weimar (Weimar)

Danksagung

Wir danken dem Goethe- und Schiller-Archiv ‒ Klassik Stiftung Weimar für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Erich Oesterheld, 30.7.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

16.01.2024 15:52
Kennung: 308

München, 30. Juli 1912 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Oesterheld, Erich
 
 

Inhalt

Sehr geehrter HerrErich Oesterheld, Verlagsbuchhändler in Berlin-Wilmersdorf (Aachener Straße 39), zusammen mit Siegbert Cohn Inhaber des Verlags Oesterheld & Co. in Berlin (Lietzenburger Straße 48) [vgl. Berliner Adreßbuch 1912, Teil I, S. 2198] und engagiert für den Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) und sein Verbandsorgan „Der Schriftsteller“ – die „beiden ersten Jahrgänge erschienen im Verlag Erich Oesterheld und Co., der dem SDS auch sein erstes Büro zur Verfügung stellte.“ [Fischer 1980, Sp. 141]. „Geschäftsstelle“ des SDS war „Oesterheld & Co., Berlin“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 79, Nr. 214, 13.9.1912, S. 10613].!

Wollen Sie mir erlauben, beiliegenden AufsatzWedekind hat seinen Aufsatz „Die Macht der Presse“ [KSA 5/II, S. 463-465] – verfasst am 2.4.1912: „Schreibe Die Macht der Presse“ [Tb] – zuerst dem „Neuen Wiener Tagblatt“ angeboten [vgl. Wedekind an Neues Wiener Tagblatt, 3.4.1912], das die Veröffentlichung ablehnte [vgl. Neues Wiener Tagblatt an Wedekind, 5.4.1912]; er bot ihn dann mit dem vorliegenden Brief dem Verbandsorgan des SDS (siehe oben) an, das ihn publizierte [vgl. Frank Wedekind: Die Macht der Presse. In: Der Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, Jg. 2, Nr. 10, August/September 1912, S. 85-87]. Die Drucklegung besprach Wedekind allerdings nicht mit Erich Oesterheld, sondern mit Hans Landsberg [vgl. Wedekind an Hans Landsberg, 7.8.1912]. dem „Schriftsteller“ zur Verfügung zu stellen. Sollten Sie keine Verwendung dafür haben, dann darf ich Sie wohl um möglichst umgehende Rücksendung ersuchen
Mit hochachtungsvollem Gruß
Ihr ergebener

Frank Wedekind.


München, Prinzregentenstraße 50

30.12/7/.12. |


[Beilage:]


Die Macht der Presse
von
Frank Wedekind.

Meine geehrten Herrn Kollegen!
Das Reich Israel, dem die Welt die Hälfte ihrer moralischen Normen verdankt, wurde bekanntlich von seinen Schriftstellern regiert. Im alten Testament heißen sie Richter und Propheten, im neuen heißen sie Pharisäer und Schriftgelehrte. Eine Zeitlang regierte sogar eine Schriftstellerin namens Deborahalttestamentarische Figur [vgl. Buch der Richter 4,4-24 und 5,1-31], die „Prophetin und Richterin Deborah, die ‚Mutter Israels‘, […] welche siegreich einen Feldzug beendet, worüber ihr berühmtes Siegeslied berichtet.“ [KSA 5/III, S. 258f.]. Von den Propheten mußten sich die gekrönten Häupter den Standpunkt klar machen lassen. Wenn man jene Zeiten mit den unseren vergleicht, dann dürfen wir nicht behaupten daß wir es in unserem Beruf gerade besonders weit | gebracht haben. Allerdings wäre Lamartine einmal beinahe Präsident von FrankreichAlphonse de Lamartine, französischer Schriftsteller, war nach Juli-Revolution 1830 „Abgeordneter im frz. Parlament und stieg nach der Februarrevolution 1848 zum Außenminister und Chef der Provisorischen Regierung der Zweiten Republik auf. Bei der Wahl zum Staatspräsidenten unterlag er jedoch Louis Napoléon Bonaparte.“ [KSA 5/III, S. 259] geworden und Björnson konnte als WeltberühmtheitBjörnstjerne Björnson, norwegischer Schriftsteller, Schwiegervater von Wedekinds langjährigem Verleger Albert Langen, Verfasser der norwegischen Nationalhymne, 1903 Literaturnobelpreisträger. „Politisch engagiert, setzte er sich für die nationale Selbständigkeit Norwegens sowie die Lösung sozialer Probleme seines Landes ein“ [KSA 5/III, S. 259]. dem König seines kleinen Heimatlandes unbequem werden. Aber was besagt das wenn man es Beispiels weise der unerschütterlichen Passivität und Einflußlosigkeit gegenüberhält, deren sich seit Jahrzehnten die größten Geister deutscher Stammesangehörigkeit erfreuen. Für mich besteht kein Zweifel darüber, daß wir uns im Lauf der Jahrhunderte die Musik sowohl wie die Malerei über den Kopf wachsen ließen. Unter uns steht nur noch die Tanzkunst und die Akrobatik. Ich habe oft darüber nachgedacht, was an diesem Niedergang die Schuld tragen mag.
Sind wir in unserem Beruf nicht vielleicht zu vornehm | geworden? – Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts schlugen in der Welt die Schriftsteller aufeinander ein wie zur Zeit des Faustrechts die Raubritter. Dafür gab es aber auch Schriftstellerfreundschaften und -Parteigängerschaften, die der Masse des Volkes Achtung abnötigten. Vor allem aber glaube ich, wenn ich unsere gesellschaftliche Stellung und Würdigung mit derjenigen der Musiker und der Maler vergleiche, wir verstehen uns nicht genügend darauf mit der Feder umzugehen, wir lassen die Macht der Presse außer acht. Wenn irgendwo einem Maler ein Bild oder einem Musiker eine Oper zurückgewiesen wird, dann greift sofort einer seiner Kollegen zur Feder und schreibt einen geharnischten Artikel in dem er Max Liebermann oder Richard Strauß als olympischen | Zeugen zitiert beschwört. Widerfährt dieselbe Schmach einem Schriftsteller, dann geht ein Engel durchs Zimmerdann herrscht Stille (Redewendung).. Der Schriftsteller schreibt gegen Schauspielerelend, gegen Malerelend, gegen Musikerelend. Und wird ihm selber elend, dann entsinkt die Waffe seiner Hand und er sagt: sagt er: Es geschieht meinem Vater ganz recht, wenn ich mir die Finger abfriere. Warum kauft er mir keine Handschuhe!
Dazu kommt freilich noch etwas anderes, was im Lauf der letzten drei oder vier DezenienSchreibversehen, statt: Dezennien. dazu beitrug, das Ansehen der Schriftstellerei in den Augen der Nation zu erschüttern. Das sind die guten Geschäfte, die einzelne auserwählte Glückskinder mit Bühnenstücken oder Romanen gemacht haben. Die Nation will ihre Märtyrer, ihrer Gesinnungshelden haben, die für ihre Überzeugung leiden d.h. hungern. und Die Nation glaubt ein Recht darauf zu haben, diese Märtyrer | unter ihren Schriftstellern zu finden. Aus alter Gewohnheit wird es der ihr Nation Menschheit schwer, die Größe eines nichthungernden Schriftstellers für echt zu halten. Dabei glaubt sie man täglich in Dramatik und Kritik einen, wenn er wirklich bestände, allerdings nicht erfreulichen Gegensatz von gewissenlosen Spekulanten und neidischen M hämischen Moralisten vor sich zu sehen. An diesem Gegensatz, meine verehrten Herren, ist aber nur die Gesetzgebung schuld die uns im Urheberrecht ein halbes, unfertiges Werk beschert hat. In dem Augenblick, wo der Mitarbeiter einer Zeitung ebenso am Gewinn seines Blattes beteiligt ist, wie der Bühnenschriftsteller am Gewinn des Theaters, ist dieser häßliche Gegensatz so im großen Ganzen aus der Welt geschafft. Allerdings müßte sich die Nation dann endgültig mit der Thatsache aus|söhnen, daß ein Schriftsteller überhaupt nicht die Verpflichtung hat, in erster Linie Hungerkünstler zu sein.
Der Weg, um zu diesem Ziele zu gelangen ist bei durch der/ie/ tatsächlichen Macht der Presse ein so einfacher, daß man sich bei der ihrer umfassenden Organisation der Presse nur wundern kann, daß er nicht längst eingeschlagen wurde. In jedem Zeitungskatalog ist von mindestens dreiviertel sämmtlicher aufgeführten Blätter die Abonnentenzahl angegeben. Diese Angaben sind völlig zuverlässig, denn wenn das Geschäft gebietet, sie möglichst hoch zu greifen so hindert das Gesetz über den Wettbewerb daß sie zu hoch gegriffen werden. Multipliziert mann diese Abonnentenziffer mit dem Abonnementspreis und das daraus gewonnene Produkt mit der durchschnittlichen Zeilenanzahl der/s/ | und dividiert das so gewonnene Produkt durch eine bestimmte Zahl die, einmal festgestellt für alle Fälle gleichbleibt, so erhält man das normale Zeilenhonorar für die in Frage kommende Zeitung. Dieses Normalhonorar representiertSchreibversehen, statt: repräsentiert. dann den prozentualen Gewinnantheil des Autors am/n/ Ent Gewinn seines Blattes der Bruttoeinnahme seines Blattes.
Die Vorteile dieses Systems liegen auf der Hand. Der Schriftsteller braucht sich den Lohn seiner Arbeit nicht mehr bewilligen zu lassen, sondern er kann ihn im Voraus selber berechnen. Die Ehre, höhere Honorare zu bewilligen, bleibt natürlich keinem/r/ Zeitung vorenthalten. Dagegen ist es dem Schriftsteller von standesSchreibversehen, statt: Standes. wegen nicht | gestattet, unter dem für seine Zeitung gültigen Preis zu arbeiten.
Die heikle Aufgabe, die heilige Zahl zu berechnen, durch die bei sämmtlichen Blättern das Produkt aus Abonnentenziffer und Abonnementspreis zu dividieren ist dividiert wird, wird von einer Kommission von Schriftstellern gelöst/st/. Zur Einbürgerung des Systems empfieltSchreibversehen, statt: empfiehlt. es sich, die Zahl zu Anfang nicht zu niedrig zu normieren. In dem Maße wie die Lebensmittelpreise und Wohnungsmieten steigen wird die heilige Zahl dann im Lauf der Jahre stetig sinken. In ihrem Tiefstand hat der Schriftsteller ein untrügliches lebendiges Zeichen für das Gedeihen und die hohe Bedeutung seines Berufes vor Augen. |
Der prinzipielle Unterschied in der Honorierung von Originalbeiträgen und Nachdrucken fällt damit fort. Sind doch auch am Theater bei Wiederholungen die gleichen Prozentsätze maßgebend wie bei Premieren. Nur der Abnehmerpreis der gebotenen Leistung kann die Einkünfte ihres Autors beeinflussen.
Ob durch dies System der Idealzustand wieder erobert wird, von dem zu Anfang die Rede war, möchte ich nicht näher erörtern. Sicherlich kann seine Einführung dem Journalismus nur Ehre und Unabhängigkeit einbringen. Auf den Einwand, daß ich mich von einer seichten Utopie | habe blenden lassen, von einer schillernden Theorie, die sich mit der Wirklichkeit nicht deckt, wäre zu entgegnen:/,/ daß dann die Theorie eben so lange vervollkommnet werden muß, bis sie sich mit der Praxis in Einklang bringen läßt.
Das schwierigste an der Sache ist, daß es sich hier um die Interessen von Schriftstellern handelt, einem Beruf, dem Ma/ä/rtyrertum und, Selbstlosigkeit und Objektivität als Alpha und Ω Omega zur Pflicht gemacht wird. Aber wo die Macht ist, da ist das Recht, sagt ein gutes Sprichwort. Wird das erörterte System in der Theorie als richtig anerkannt und läßt es si sich praktisch trotzdem nicht durchführen, dann ist es wol nur eine schöne Redewendung, wenn die Presse sich selbst als Großmacht bezeichnet.


Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 11 Blatt, davon 11 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. 14 x 22,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat die Seiten der Beilage jeweils oben rechts paginiert („1.“, „2.“, „3“, „4“, „5“, „6.“, „7.“, „8“, „9.“, „10.“); von fremder Hand sind – vermutlich im Zuge der Redaktion für die Drucklegung in der Zeitschrift „Der Schriftsteller“ – in der Beilage die genannten Namen sowie nicht gut leserliche Stellen nochmals mit Bleistift darüber notiert, außerdem an einer Stelle auf Seite 2 der Beilage eine Variante („los“ statt „ein“) formuliert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    30. Juli 1912 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Literaturvermittlung. Zeugnisse aus einer Sammlung zur Geschichte des Buchwesens

Herausgeber:
Herbert G. Göpfert; Mark Lehmstedt
Verlag:
Wiesbaden: Harrassowitz
Jahrgang:
1992
Seitenangabe:
185-188
Briefnummer:
74
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief mit Beilage abgedruckt; in der Vorbemerkung heißt es zunächst über das Publikationsorgan des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) „Der Schriftsteller“ (Berlin): „Redakteur der ersten beiden Jahrgänge war ihr Verleger Erich Oesterheld in Berlin. An ihn wandte sich Frank Wedekind […], um seinen […] Aufsatz ‚Die Macht der Presse‘ zur Veröffentlichung anzubieten. In Anbetracht des ungenügend ausgearbeiteten Urheberrechts schlug er hier die Einführung einer Honorar-Norm für Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften in Abhängigkeit von deren Auflagenhöhe vor. Oesterheld lehnte die Publikation […] ab […]; der Text erschien erst postum 1921 innerhalb der Werkausgabe.“ Wedekinds Aufsatz ist zwar ohne Quellenangabe datiert auf 1912 in der Werkausgabe gedruckt [vgl. GW 9, S. 396-399], allerdings erschien er bereits zeitgenössisch in „Der Schriftsteller“ (siehe Erläuterungen), der Erstdruck der Beilage, die neu ediert wurde [vgl. KSA 5/II, S. 463-465].
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Goethe- und Schiller-Archiv ‒ Klassik Stiftung Weimar

Jenaer Straße 1
99425 Weimar
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Bestand Autographensammlung
Signatur des Dokuments:
GSA 96/4533
Standort:
Goethe- und Schiller-Archiv ‒ Klassik Stiftung Weimar (Weimar)

Danksagung

Wir danken dem Goethe- und Schiller-Archiv ‒ Klassik Stiftung Weimar für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Erich Oesterheld, 30.7.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

16.01.2024 15:52