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Kennung: 2838

Wien, 16. Dezember 1905 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Kraus, Karl

Koautoren*in

  • Denk, Berthe Marie

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


Wien, 14. im Dez. 1905


Lieber, verehrter Fr. W.!

Vielen Dank für Ihre Karte und für Ihre freundliche Kritik der letzten „Fackel“. Wenn die nur bald wieder einen Beitrag von Ihnen hätte! Der „schönen Philosophin“ habe ich soeben Ihre Grüße ausgerichtet. Ihre Frage, mit wem ich in Rom war, wäre besser mündlich – ich erhoffe baldiges Wiedersehen – zu beantworten, denn die Antwort hat eine verwickelte Vorgeschichte. Ich war mit unserer lieben Frau Maria in Rom. Sie erinnern sich, welchen Luftsprung ich that, als Sie mir in Wien erzählten, daß Sie B. B. kennen; ich hatte seit drei Jahren schon für S/s/ie geschwärmt, ihre Spur, die nach Stuttgart führte, verloren, von ihrer Rückkehr nichts gewusst ... Im Herbst, als ich hörte, sie sei eines Tages aus Ihrer Wohnung verschwunden und nach Rom Italien gereist, begann – ich weiß selbst nicht, wie das kam – meine Liebe lichterloh zu brennen; und ich führte nun den alten Plan einer Italienreise aus, als ich mich in den Zug setzte, um auf’s Gerathewohl nachzureisen ... Sie kennen Berthe Maria nicht, da Sie sie nicht im mondbeleuchteten Colosseum gesehen haben, auf | einem Trümmer des Sessels Marmorsitzes der Kaiserin. sitzend. Der ganze Zauber der Vergangenheit, den diese Ruinen einschließen, schien leibhaftig aus ihren schönen Augen zu treten, bis ein Thränenflor ihn verhüllte. Seit damals bete ich sie an ... Ich glaube nicht, daß durch meine Liebe der Ihren ein Leid geschieht, umsoweniger, als ich ja nicht weiß, wie diese Frau mit den zahllosen Seelen ihre Gefühle vertheilt ... Wenn sie – worüber ich ihr schon Vorwürfe gemacht habe – ein wenig schreibfaul ist, so ist sie zur Hälfte dadurch entschuldigt, daß sie ihre freie die Zeit, die sie nicht der Sehnsucht nach dem Colosseum und seiner gewesenen Pracht widmet, mit Strümpfestricken für ihre Großmutter zubringt. Sie kann nämlich auch das. Wenn ihre Sinne schweigen, hat verlangt sie nur mehr das Verlangen nach dem Mann im Mond. Leider kann ich ihr nicht alle ihre Wünsche erfüllen. |

Sollten Sie auch fernerhin durch Proben und Vorstellungen verhindert sein, das schöne Wesen, mit dem ich natürlich kein Verhältnis, nur ein Verhängnis habe, zu heirathen, so werde ich es – Berthe Marias Einverständnis vorausgesetzt – für Sie thun. Ich weiß, daß sie, wer immer von uns sie heirathet, keinem von beiden verloren geht.

In aufrichtiger Herzlichkeit grüßt Sie
Ihr

K. K.


Den beiden Schwestern Männern schwur ich Lieb und Treue.

Welchen nehm’ ich? Einen? Beide? Keinen?“

Edmund in „König Lear.
frei nach Shakespeare.


[2. Abgesandter Brief:]


Wien, im Dezember 1905


Lieber, verehrter Fr. W.!

Vielen Dank für Ihre Kartevgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905. und für Ihre freundliche Kritik der letzten „Fackel“Wedekind hat seine Lektüre des „Fackel“-Hefts vom 11.12.1905 erwähnt [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905] und nannte speziell außer dem Artikel „Geld“ von Lucianus (Karl Hauer) – ein an eine „verehrte Frau“ (sie dürfte von Wedekind als die ‚schöne Philosophin‘ Berthe Marie Denk interpretiert worden sein) gerichteter offener Brief, der als eine „Philosophie des Geldes“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 11] charakterisiert ist – den Artikel „Vorurteile“ von Egon Friedell, der „am Beispiel [...] fremder Länder [...] aus Sekundärurteilen und Phantasie geschöpfte Vorurteile“ [Nottscheid 2008, S. 155] behandelt; Karl Kraus hat hier eine Fußnote gesetzt, die auf seine Italienreise im Herbst 1905 aufmerksam macht (in Italien hat er Berthe Marie Denk getroffen, was Wedekind aus der Anmerkung schließen konnte): „Hier erlaubt sich der Herausgeber zu bemerken, daß er am Ende dieses Sommers mit Italien ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hat.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 7]. Wenn die nur bald wieder einen Beitrag von Ihnen hätte! Der „schönen Philosophin“Zitat aus Wedekinds Postkarte [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905]; gemeint ist Berthe Marie Denk. habe ich Ihre Grüße ausgerichtet. Ihre Frage, mit wem ich in RomBerthe Marie Denk hat Wedekind unmittelbar vor ihrem Aufbruch nach Italien von ihrer anstehende Reise geschrieben [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 5.9.1905] und sich nach ihrer Rückkehr von dieser Reise zurückgemeldet [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 22.9.1905]. war, wäre besser mündlich – ich erhoffe baldiges Wiedersehen – zu beantworten, denn die Antwort hat eine verwickelte Vorgeschichte. Ich war mit unserer lieben Frau MariaBerthe Marie Denk, „für die Kraus hier die in der katholischen Liturgie übliche Anrede für die Heilige Jungfrau Maria benutzt“ [Nottscheid 2008, S. 156]. in Rom. Sie erinnern sich, welchen Luftsprung ich that, als Sie mir in Wien erzählten, daß Sie B. B.gemeint ist „offenbar“ Berthe Marie Denk, auch wenn die „Bedeutung der Chiffre [...] unklar“ [Nottscheid 2008, S. 157] ist. kennen, ich hatte seit drei Jahren schon für sie geschwärmt, ihre Spur, die nach StuttgartWedekind hat Berthe Marie Denk im Frühjahr 1905 in Stuttgart kennengelernt [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 14.4.1905; Wedekind an Berthe Marie Denk, 15.4.1905]. führte, verloren, von ihrer Rückkehr nichts gewußt ... Im Herbst, als ich hörte, sie sei eines Tages aus ihrer Wohnung verschwunden und nach Italien gereist, begann – ich weiß selbst nicht, wie das kam – meine Liebe lichterloh zu brennen; und ich führte nur den alten Plan einer Italienreise aus, als ich mich in den Zug setzte, um auf’s Gerathewohl nachzureisen ... Sie kennen Berthe Maria nicht, da Sie sie nicht im mondbeleuchteten Colosseum gesehen haben, auf einem Trümmer des Marmorsitzes der Kaiserin. Der ganze Zauber des Gewesenen, den diese Ruinen einschließen, schien leibhaftig aus ihren schönen | Augen zu treten, bis ein Tränenflor ihn verhüllte. Seit damals bete ich sie an ... Ich glaube nicht, daß durch meine Liebe der Ihren ein Leid geschieht, umsoweniger, als ich ja nicht weiß, wie diese Frau mit den zahllosen Seelen ihre Gefühle vertheilt ... Wenn sie – worüber ich ihr schon Vorwürfe gemacht habe – ein wenig schreibfaul ist, so ist sie zur Hälfte dadurch entschuldigt, daß sie die Zeit, die sie nicht der Sehnsucht nach dem Colosseum und seiner gewesenen Pracht widmet, mit Strümpfestricken für ihre Großmutterwohl nicht konkret gemeint (Berthe Marie Denks Großmutter mütterlicher- oder väterlicherseits). zubringt. Sie kann nämlich auch das. Wenn ihre Sinne schweigen, verlangt sie nur mehr nach dem Mann im MondKarl Kraus hat aus dieser Briefstelle später einen Aphorismus gemacht: „Wenn die Sinne der Frau schweigen, verlangt sie den Mann im Mond.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 198, 12.3.1906, S. 1]. Leider kann ich ihr nicht alle Wünsche erfüllen. Sollten Sie auch fernerhin durch Proben und VorstellungenWedekind in Berlin stand aktuell im Kleinen Theater in der Titelrolle des „Marquis von Keith“ auf der Bühne (Premiere: 13.12.1905), die Proben dazu hatten am 2.12.1905 begonnen; davor spielte er im Kleinen Theater in „Hidalla“ den Karl Hetmann (Premiere: 26.9.1905). verhindert sein, das schöne Wesen, mit dem ich natürlich kein Verhältnis, nur ein Verhängnis habe, zu heirathen, so werde ich es – Berthe Marias Einverständnis vorausgesetzt – für Sie thun. Ich weiß, daß sie, wer immer von uns sie heirathet, keinem von beiden verloren geht.

In aufrichtiger Herzlichkeit grüßt Sie
Ihr
Karl Kraus |


Den beiden Männern schwur ich Lieb u. Treue ...
Welchen nehm’ ich? Einen? – Beide? Keinen?

(Frei nach Shakespearefrei nach dem Monolog Edmunds in William Shakespeares „König Lear“ (Szene V/1): „Den beiden Schwestern schwur ich meine Liebe, / Und beide hassen sich, wie der Gestochne / Die Natter. Welche soll ich nehmen? Beide? / Ein’ oder Keine?“ [Shakspeare’s dramatische Werke übersetzt von August Wilhelm von Schlegel und Ludwig Tieck. Neue Ausgabe in neun Bänden. Bd. 8. Berlin 1867, S. 367f.] Im Briefentwurf hat Karl Kraus das von ihm als Anspielung auf das Dreiecksverhältnis Wedekind – Denk – Kraus umgeschriebene Shakespeare-Zitat notiert, im abgesandten Brief hat Berthe Marie Denk diese Zitatadaption ihren Zeilen als Motto vorangestellt.)


Geliebter Cäsar, auf jeden Fall bleibe ich mir treu – und sende Dir nebst herzlichen Dank für l. Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Berthe Marie Denk, 13.11.1905. herzlichen Gruss. Ich ersuche Dich die Idee mit den AnsichtskartenBerthe Marie Denk hatte Wedekind ein Foto von sich geschickt [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 12.11.1905] und Wedekind schlug ihr daraufhin offenbar vor, dieses Foto als Bildpostkarte zu reproduzieren [vgl. Wedekind an Berthe Marie Denk, 13.11.1905]. nichtviermal unterstrichen. auszuführen; (es wäre auch zu viel Reclame); (wohin mit all den Heiratsanträgen?) Wann | kommst Du endlich wieder einmal nach WienWedekind war zuletzt die drei Tage vom 14. bis 16.5.1905 in Wien und hat Berthe Marie Denk täglich gesehen [vgl. Tb].? Du weisst sicher gar nicht mehr, wie ich aussehe!

Bertha Maria

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
1. Briefentwurf: Kurrent. 2. Abgesandter Brief: Kurrent und lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
1. Briefentwurf: Papier. Doppelblatt. 3 Seiten beschrieben. Seitenmaß 14,5 x 19 cm. 2. Abgesandter Brief: Papier. Doppelblatt. 4 Seiten beschrieben. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf – er liegt im Carolina Augusteum / Salzburger Museum für Kunst- und Kulturgeschichte (Nachlass Richard und Bertha Maria Mayr, Signatur: BIB NLRM 9997), dem wir für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks danken – ist allein von Karl Kraus geschrieben. Seite 1 und 2 des abgesandten Briefes sind ebenfalls von Karl Kraus geschrieben, Seite 3 und 4 von Berthe Marie Denk. Wedekind hat oben auf Seite 1 des abgesandten Briefs mit blauem Buntstift das Datum „17.12.5.“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 16.12.1905 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum des abgesandten Briefes, einen Tag für den Postweg von Wien nach Berlin gerechnet. Der Briefentwurf (allein von Karl Kraus geschrieben) war zuerst auf den 14.12.1905 datiert (Tagesdatum dann gestrichen), der abgesandter Brief wurde danach geschrieben (nun von Karl Kraus mit einem Zusatz von Berthe Marie Denk). Wedekind notierte das Empfangsdatum 17.12.1905 auf dem Brief und den Empfang des Briefs am 17.12.1905 im Tagebuch: „Brief von Kraus und Bertha Maria.“

Erstdruck

Karl Kraus - Frank Wedekind. Briefwechsel 1903 bis 1917 (= Wedekind-Lektüren. Bd. 5)

Autor:
Karl Kraus, Frank Wedekind
Herausgeber:
Mirko Nottscheid
Verlag:
Würzburg: Königshausen & Neumann
Jahrgang:
2008
Seitenangabe:
53-54, 109-110
Briefnummer:
40, 95
Kommentar:
Im hier als Erstdruck angegebenen vollständigen Erstdruck des von Karl Kraus und Berthe Marie Denk verfassten Briefs, der Briefentwurf und abgesandten Brief bietet, ist der abgesandte Brief unter Vorbehalt – das „vorgeschlagene Datum [...] folgt der Datierung des Konzepts“ [Nottscheid 2008, S. 156] – auf den 14.12.1905 datiert. Der von Berthe Marie Denk geschriebene Briefteil hat einen früheren Erstdruck, der auf „Wien, im Dezember 1905“ [Waldmann 1996, S. 114] datiert ist.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 88
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Karl Kraus, Berthe Marie Denk an Frank Wedekind, 16.12.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

19.08.2023 18:28
Kennung: 2838

Wien, 16. Dezember 1905 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Kraus, Karl

Koautoren*in

  • Denk, Berthe Marie

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


Wien, 14. im Dez. 1905


Lieber, verehrter Fr. W.!

Vielen Dank für Ihre Karte und für Ihre freundliche Kritik der letzten „Fackel“. Wenn die nur bald wieder einen Beitrag von Ihnen hätte! Der „schönen Philosophin“ habe ich soeben Ihre Grüße ausgerichtet. Ihre Frage, mit wem ich in Rom war, wäre besser mündlich – ich erhoffe baldiges Wiedersehen – zu beantworten, denn die Antwort hat eine verwickelte Vorgeschichte. Ich war mit unserer lieben Frau Maria in Rom. Sie erinnern sich, welchen Luftsprung ich that, als Sie mir in Wien erzählten, daß Sie B. B. kennen; ich hatte seit drei Jahren schon für S/s/ie geschwärmt, ihre Spur, die nach Stuttgart führte, verloren, von ihrer Rückkehr nichts gewusst ... Im Herbst, als ich hörte, sie sei eines Tages aus Ihrer Wohnung verschwunden und nach Rom Italien gereist, begann – ich weiß selbst nicht, wie das kam – meine Liebe lichterloh zu brennen; und ich führte nun den alten Plan einer Italienreise aus, als ich mich in den Zug setzte, um auf’s Gerathewohl nachzureisen ... Sie kennen Berthe Maria nicht, da Sie sie nicht im mondbeleuchteten Colosseum gesehen haben, auf | einem Trümmer des Sessels Marmorsitzes der Kaiserin. sitzend. Der ganze Zauber der Vergangenheit, den diese Ruinen einschließen, schien leibhaftig aus ihren schönen Augen zu treten, bis ein Thränenflor ihn verhüllte. Seit damals bete ich sie an ... Ich glaube nicht, daß durch meine Liebe der Ihren ein Leid geschieht, umsoweniger, als ich ja nicht weiß, wie diese Frau mit den zahllosen Seelen ihre Gefühle vertheilt ... Wenn sie – worüber ich ihr schon Vorwürfe gemacht habe – ein wenig schreibfaul ist, so ist sie zur Hälfte dadurch entschuldigt, daß sie ihre freie die Zeit, die sie nicht der Sehnsucht nach dem Colosseum und seiner gewesenen Pracht widmet, mit Strümpfestricken für ihre Großmutter zubringt. Sie kann nämlich auch das. Wenn ihre Sinne schweigen, hat verlangt sie nur mehr das Verlangen nach dem Mann im Mond. Leider kann ich ihr nicht alle ihre Wünsche erfüllen. |

Sollten Sie auch fernerhin durch Proben und Vorstellungen verhindert sein, das schöne Wesen, mit dem ich natürlich kein Verhältnis, nur ein Verhängnis habe, zu heirathen, so werde ich es – Berthe Marias Einverständnis vorausgesetzt – für Sie thun. Ich weiß, daß sie, wer immer von uns sie heirathet, keinem von beiden verloren geht.

In aufrichtiger Herzlichkeit grüßt Sie
Ihr

K. K.


Den beiden Schwestern Männern schwur ich Lieb und Treue.

Welchen nehm’ ich? Einen? Beide? Keinen?“

Edmund in „König Lear.
frei nach Shakespeare.


[2. Abgesandter Brief:]


Wien, im Dezember 1905


Lieber, verehrter Fr. W.!

Vielen Dank für Ihre Kartevgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905. und für Ihre freundliche Kritik der letzten „Fackel“Wedekind hat seine Lektüre des „Fackel“-Hefts vom 11.12.1905 erwähnt [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905] und nannte speziell außer dem Artikel „Geld“ von Lucianus (Karl Hauer) – ein an eine „verehrte Frau“ (sie dürfte von Wedekind als die ‚schöne Philosophin‘ Berthe Marie Denk interpretiert worden sein) gerichteter offener Brief, der als eine „Philosophie des Geldes“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 11] charakterisiert ist – den Artikel „Vorurteile“ von Egon Friedell, der „am Beispiel [...] fremder Länder [...] aus Sekundärurteilen und Phantasie geschöpfte Vorurteile“ [Nottscheid 2008, S. 155] behandelt; Karl Kraus hat hier eine Fußnote gesetzt, die auf seine Italienreise im Herbst 1905 aufmerksam macht (in Italien hat er Berthe Marie Denk getroffen, was Wedekind aus der Anmerkung schließen konnte): „Hier erlaubt sich der Herausgeber zu bemerken, daß er am Ende dieses Sommers mit Italien ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hat.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 7]. Wenn die nur bald wieder einen Beitrag von Ihnen hätte! Der „schönen Philosophin“Zitat aus Wedekinds Postkarte [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 13.12.1905]; gemeint ist Berthe Marie Denk. habe ich Ihre Grüße ausgerichtet. Ihre Frage, mit wem ich in RomBerthe Marie Denk hat Wedekind unmittelbar vor ihrem Aufbruch nach Italien von ihrer anstehende Reise geschrieben [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 5.9.1905] und sich nach ihrer Rückkehr von dieser Reise zurückgemeldet [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 22.9.1905]. war, wäre besser mündlich – ich erhoffe baldiges Wiedersehen – zu beantworten, denn die Antwort hat eine verwickelte Vorgeschichte. Ich war mit unserer lieben Frau MariaBerthe Marie Denk, „für die Kraus hier die in der katholischen Liturgie übliche Anrede für die Heilige Jungfrau Maria benutzt“ [Nottscheid 2008, S. 156]. in Rom. Sie erinnern sich, welchen Luftsprung ich that, als Sie mir in Wien erzählten, daß Sie B. B.gemeint ist „offenbar“ Berthe Marie Denk, auch wenn die „Bedeutung der Chiffre [...] unklar“ [Nottscheid 2008, S. 157] ist. kennen, ich hatte seit drei Jahren schon für sie geschwärmt, ihre Spur, die nach StuttgartWedekind hat Berthe Marie Denk im Frühjahr 1905 in Stuttgart kennengelernt [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 14.4.1905; Wedekind an Berthe Marie Denk, 15.4.1905]. führte, verloren, von ihrer Rückkehr nichts gewußt ... Im Herbst, als ich hörte, sie sei eines Tages aus ihrer Wohnung verschwunden und nach Italien gereist, begann – ich weiß selbst nicht, wie das kam – meine Liebe lichterloh zu brennen; und ich führte nur den alten Plan einer Italienreise aus, als ich mich in den Zug setzte, um auf’s Gerathewohl nachzureisen ... Sie kennen Berthe Maria nicht, da Sie sie nicht im mondbeleuchteten Colosseum gesehen haben, auf einem Trümmer des Marmorsitzes der Kaiserin. Der ganze Zauber des Gewesenen, den diese Ruinen einschließen, schien leibhaftig aus ihren schönen | Augen zu treten, bis ein Tränenflor ihn verhüllte. Seit damals bete ich sie an ... Ich glaube nicht, daß durch meine Liebe der Ihren ein Leid geschieht, umsoweniger, als ich ja nicht weiß, wie diese Frau mit den zahllosen Seelen ihre Gefühle vertheilt ... Wenn sie – worüber ich ihr schon Vorwürfe gemacht habe – ein wenig schreibfaul ist, so ist sie zur Hälfte dadurch entschuldigt, daß sie die Zeit, die sie nicht der Sehnsucht nach dem Colosseum und seiner gewesenen Pracht widmet, mit Strümpfestricken für ihre Großmutterwohl nicht konkret gemeint (Berthe Marie Denks Großmutter mütterlicher- oder väterlicherseits). zubringt. Sie kann nämlich auch das. Wenn ihre Sinne schweigen, verlangt sie nur mehr nach dem Mann im MondKarl Kraus hat aus dieser Briefstelle später einen Aphorismus gemacht: „Wenn die Sinne der Frau schweigen, verlangt sie den Mann im Mond.“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 198, 12.3.1906, S. 1]. Leider kann ich ihr nicht alle Wünsche erfüllen. Sollten Sie auch fernerhin durch Proben und VorstellungenWedekind in Berlin stand aktuell im Kleinen Theater in der Titelrolle des „Marquis von Keith“ auf der Bühne (Premiere: 13.12.1905), die Proben dazu hatten am 2.12.1905 begonnen; davor spielte er im Kleinen Theater in „Hidalla“ den Karl Hetmann (Premiere: 26.9.1905). verhindert sein, das schöne Wesen, mit dem ich natürlich kein Verhältnis, nur ein Verhängnis habe, zu heirathen, so werde ich es – Berthe Marias Einverständnis vorausgesetzt – für Sie thun. Ich weiß, daß sie, wer immer von uns sie heirathet, keinem von beiden verloren geht.

In aufrichtiger Herzlichkeit grüßt Sie
Ihr
Karl Kraus |


Den beiden Männern schwur ich Lieb u. Treue ...
Welchen nehm’ ich? Einen? – Beide? Keinen?

(Frei nach Shakespearefrei nach dem Monolog Edmunds in William Shakespeares „König Lear“ (Szene V/1): „Den beiden Schwestern schwur ich meine Liebe, / Und beide hassen sich, wie der Gestochne / Die Natter. Welche soll ich nehmen? Beide? / Ein’ oder Keine?“ [Shakspeare’s dramatische Werke übersetzt von August Wilhelm von Schlegel und Ludwig Tieck. Neue Ausgabe in neun Bänden. Bd. 8. Berlin 1867, S. 367f.] Im Briefentwurf hat Karl Kraus das von ihm als Anspielung auf das Dreiecksverhältnis Wedekind – Denk – Kraus umgeschriebene Shakespeare-Zitat notiert, im abgesandten Brief hat Berthe Marie Denk diese Zitatadaption ihren Zeilen als Motto vorangestellt.)


Geliebter Cäsar, auf jeden Fall bleibe ich mir treu – und sende Dir nebst herzlichen Dank für l. Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Berthe Marie Denk, 13.11.1905. herzlichen Gruss. Ich ersuche Dich die Idee mit den AnsichtskartenBerthe Marie Denk hatte Wedekind ein Foto von sich geschickt [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 12.11.1905] und Wedekind schlug ihr daraufhin offenbar vor, dieses Foto als Bildpostkarte zu reproduzieren [vgl. Wedekind an Berthe Marie Denk, 13.11.1905]. nichtviermal unterstrichen. auszuführen; (es wäre auch zu viel Reclame); (wohin mit all den Heiratsanträgen?) Wann | kommst Du endlich wieder einmal nach WienWedekind war zuletzt die drei Tage vom 14. bis 16.5.1905 in Wien und hat Berthe Marie Denk täglich gesehen [vgl. Tb].? Du weisst sicher gar nicht mehr, wie ich aussehe!

Bertha Maria

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
1. Briefentwurf: Kurrent. 2. Abgesandter Brief: Kurrent und lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
1. Briefentwurf: Papier. Doppelblatt. 3 Seiten beschrieben. Seitenmaß 14,5 x 19 cm. 2. Abgesandter Brief: Papier. Doppelblatt. 4 Seiten beschrieben. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf – er liegt im Carolina Augusteum / Salzburger Museum für Kunst- und Kulturgeschichte (Nachlass Richard und Bertha Maria Mayr, Signatur: BIB NLRM 9997), dem wir für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks danken – ist allein von Karl Kraus geschrieben. Seite 1 und 2 des abgesandten Briefes sind ebenfalls von Karl Kraus geschrieben, Seite 3 und 4 von Berthe Marie Denk. Wedekind hat oben auf Seite 1 des abgesandten Briefs mit blauem Buntstift das Datum „17.12.5.“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 16.12.1905 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum des abgesandten Briefes, einen Tag für den Postweg von Wien nach Berlin gerechnet. Der Briefentwurf (allein von Karl Kraus geschrieben) war zuerst auf den 14.12.1905 datiert (Tagesdatum dann gestrichen), der abgesandter Brief wurde danach geschrieben (nun von Karl Kraus mit einem Zusatz von Berthe Marie Denk). Wedekind notierte das Empfangsdatum 17.12.1905 auf dem Brief und den Empfang des Briefs am 17.12.1905 im Tagebuch: „Brief von Kraus und Bertha Maria.“

Erstdruck

Karl Kraus - Frank Wedekind. Briefwechsel 1903 bis 1917 (= Wedekind-Lektüren. Bd. 5)

Autor:
Karl Kraus, Frank Wedekind
Herausgeber:
Mirko Nottscheid
Verlag:
Würzburg: Königshausen & Neumann
Jahrgang:
2008
Seitenangabe:
53-54, 109-110
Briefnummer:
40, 95
Kommentar:
Im hier als Erstdruck angegebenen vollständigen Erstdruck des von Karl Kraus und Berthe Marie Denk verfassten Briefs, der Briefentwurf und abgesandten Brief bietet, ist der abgesandte Brief unter Vorbehalt – das „vorgeschlagene Datum [...] folgt der Datierung des Konzepts“ [Nottscheid 2008, S. 156] – auf den 14.12.1905 datiert. Der von Berthe Marie Denk geschriebene Briefteil hat einen früheren Erstdruck, der auf „Wien, im Dezember 1905“ [Waldmann 1996, S. 114] datiert ist.
Status:
Sicher

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Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

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Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 88
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Karl Kraus, Berthe Marie Denk an Frank Wedekind, 16.12.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

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In Bearbeitung
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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

19.08.2023 18:28