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Kennung: 2689

Berlin, 30. November 1905 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Sandrock, Adele

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Berlin. Central Hotel.
482.

Donnerstagder 30.11.1905. Adele Sandrock resümiert abends ihr tagsüber am 30.11.1905 mit Wedekind geführtes Gespräch, das Wedekind im Tagebuch nicht vermerkt hat, sondern lediglich sein Abendprogramm (seinen Besuch der Uraufführung der Tragikomödie „Der Feiertag“ von Richard Fellinger im Kleinen Theater von 19.30 bis 21.45 Uhr, anschließend seine Vorbereitung auf einen Vortrag). Ein Treffen Wedekinds mit Adele Sandrock tagsüber am 30.11.1905 ist auch durch einen gemeinsamen versandten Kartenbrief belegt, dessen Postausgangsstempel die Uhrzeit 19 bis 20 Uhr dokumentiert, also davor geschrieben worden sein muss [vgl. Adele Sandrock, Wedekind an Karl Kraus, 30.11.1905]. Abend.


Werthe Seele!

Sie sagten mir heute so wiederlicheSchreibversehen, statt: widerliche. Dinge, daß ich gezwungen werde Sie zum MittelpunckteSchreibversehen, statt: Mittelpunkte. all meiner Gedanken zu machen, die mich diesen Abend so sehr beschäftigen. Fast möchte ich Ihre krausen Reden als eine neue Epoche in meinem Dasein aufnehmen aber hoffentlich sind diese höchst anregenden Vorläufern nur todte Ziele! So weit wäre mir ja alles erklärlich, was in Ihnen tobt, aber das Rätselhafte der Sache liegt für mich darin, „warum“ Sie sich gedrungen fühlten mich, armen Hund, durch sehr geschickt in Scene gesetzte Reden derart aufzuwühlen dasSchreibversehen, statt: daß. ich fort und fort an Siefünfmal unterstrichen. denken muß! ‒. |

Mir ist das nicht angenehm ‒ Sie waren mir durch unseren kleinen KraussKarl Kraus hat Adele Sandrock in Berlin an Wedekind empfohlen [vgl. Adele Sandrock an Wedekind, 16.11.1905]. seelisch verwandt und als ich Sie das erste Mal bei mirWedekind hat Adele Sandrock erstmals am 19.11.1905 besucht: „Abends besuche ich Adele Sandrock“ [Tb]. hatte sprach ich zu Ihnen, rund von der Leber weg, wie man zu einem guten Freunde spricht. Sie haben mir nun eine Rüge ertheilt (mit Recht) dasSchreibversehen, statt: daß. ich wohl zu offen und frei sprach!! ‒ Diese Rüge sitzt und ich hasse sie darob! Wenn ich aber einen Menschen hasse, scheint die nächste Zukunft für mich gefährlich!! Aber die Zukunft kann ja nur durch einen übereiligen Schritt der Gegenwart entstehen und darum will ich von einer Gegenwart mit Ihnen, liebe werthe Seele, Nichts wissen!

Warum? ‒ Sie haben es heute selbst in der wüsten Kneipenicht ermittelt. gesagt ‒ vielleicht | hatten Sie, ohne es zu ahnen, recht! In ruhigen Momenten sprachen Sie auch vernünftig, so theilten Sie mir mit, das O. E. H. von Ihnen ein Stück „FrühlingstraumAdele Sandrock dürfte hier entweder „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“ (1891) gemeint haben, ein Stück, das Wedekinds im Frühjahr verstorbener Freund nachweislich schätzte [vgl. Otto Erich Hartleben an Wedekind, 25.4.1894] und das zuletzt in 3. Auflage 1903 im Verlag Albert Langen erschienen ist [vgl. KSA 2, S. 772], oder „Frühlingsstürme. Eine Exekution“ [KSA 3/I, S. 617-637], 1902 in einer Zeitschrift abgedruckt [vgl. Neue Deutsche Rundschau, Jg. 13, Nr. 8, August 1902, S. 845-858], eine Umarbeitung des 1. Akts von „Der Erdgeist“ zu einer „Parodie naturalistischen Theaters à la Ibsen und Hauptmann fürs Kabarett“ [KSA 3/II, S. 861], die 1902 zum Programm der Elf Scharfrichter gehört hat und Wedekinds Freund aus diesem Zusammenhang bekannt gewesen sein könnte. so sehr lobte. Ich will dieses Stück lesen. Wenn Sie es haben ‒ bringen Sie es mir ‒ bringen Sie mir auch noch Andere Sachen die Sie geschrieben, ich möchte alle Erscheinungen Ihrer geistigen Natur studiren! Aber, hassen thue ich Sie doch! Sie sagten heute, der Tag ist ja noch so lang! ‒ Ich fühle das intensiver als je! Ich möchte mit Ihnendreimal unterstrichen. plaudern bis zum frühen Morgen ‒ aber ich hasse Sie doch! ‒ Ich werde Sie Freitag im TheaterAdele Sandrock besuchte am 1.12.1905 eine Vorstellung der „Hidalla“-Inszenierung (Wedekind spielte seit der Premiere am 26.9.1905 die Rolle des Karl Hetmann) am Kleinen Theater in Berlin (Unter den Linden 44) und wollte sich anschließend mit Wedekind treffen, wie sie ihm dann nochmals nahelegte [vgl. Adele Sandrock an Wedekind, 1.12.1905]. seh’n! ‒ Nach der Vorstellung werde ich auf Sie warten | beim Ausgang des Theaters Unter den Linden! Kommen Sie bitte ohne Frauen und ohne „Kerle“ ‒ ich will Sie alleindreimal unterstrichen. haben ‒ ‒ weil ich Sie hasse. ‒

Ihre Bücher bringen Sie mir Samstagder 2.12.1905. Wedekind hat im Tagebuch keinen Besuch bei Adele Sandrock im Central-Hotel vermerkt. um 5 Uhr Nachmittags bitte hinauf Zimmer 482. ‒

Ich hasse Sie und dochdreimal unterstrichen. gedenke ich Ihrer in großen herrlichen Zügen! Gott gab uns doch etwas wunderbares ‒ ein Herz, ein schwer zu behandelndes vorsichtig zu gebrauchendes Herz und zwar lediglich für die Tragödie der großen Gemüthsroheit„Gemüths“ dreimal unterstrichen, „roheit“ Schreibversehen (statt „rohheit“).!!! Leben Sie wohl, Frank Wedekind! ‒ Der Gedanke dasSchreibversehen, statt: daß. ich Sie wiedersehe schlägt wie ein Blitz in die Seele der Schreiberin dieser
Zeilen!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 22 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat oben auf Seite 1 mit Bleistift das Datum „1.12.5“ notiert. Ebenfalls oben auf Seite 1 ist von fremder Hand mit Bleistift „Adele Sandrock“ vermerkt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 30.11.1905 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum, wie sich aus dem Briefinhalt und seinen Kontexten ergibt.

Das Empfangsdatum 1.12.1905 ist durch Wedekinds Datumsnotiz auf dem Brief belegt.

  • Schreibort

    Berlin
    30. November 1905 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    1. Dezember 1905 (Freitag)
    Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 153
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Adele Sandrock an Frank Wedekind, 30.11.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (25.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

28.10.2024 13:16
Kennung: 2689

Berlin, 30. November 1905 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Sandrock, Adele

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Berlin. Central Hotel.
482.

Donnerstagder 30.11.1905. Adele Sandrock resümiert abends ihr tagsüber am 30.11.1905 mit Wedekind geführtes Gespräch, das Wedekind im Tagebuch nicht vermerkt hat, sondern lediglich sein Abendprogramm (seinen Besuch der Uraufführung der Tragikomödie „Der Feiertag“ von Richard Fellinger im Kleinen Theater von 19.30 bis 21.45 Uhr, anschließend seine Vorbereitung auf einen Vortrag). Ein Treffen Wedekinds mit Adele Sandrock tagsüber am 30.11.1905 ist auch durch einen gemeinsamen versandten Kartenbrief belegt, dessen Postausgangsstempel die Uhrzeit 19 bis 20 Uhr dokumentiert, also davor geschrieben worden sein muss [vgl. Adele Sandrock, Wedekind an Karl Kraus, 30.11.1905]. Abend.


Werthe Seele!

Sie sagten mir heute so wiederlicheSchreibversehen, statt: widerliche. Dinge, daß ich gezwungen werde Sie zum MittelpunckteSchreibversehen, statt: Mittelpunkte. all meiner Gedanken zu machen, die mich diesen Abend so sehr beschäftigen. Fast möchte ich Ihre krausen Reden als eine neue Epoche in meinem Dasein aufnehmen aber hoffentlich sind diese höchst anregenden Vorläufern nur todte Ziele! So weit wäre mir ja alles erklärlich, was in Ihnen tobt, aber das Rätselhafte der Sache liegt für mich darin, „warum“ Sie sich gedrungen fühlten mich, armen Hund, durch sehr geschickt in Scene gesetzte Reden derart aufzuwühlen dasSchreibversehen, statt: daß. ich fort und fort an Siefünfmal unterstrichen. denken muß! ‒. |

Mir ist das nicht angenehm ‒ Sie waren mir durch unseren kleinen KraussKarl Kraus hat Adele Sandrock in Berlin an Wedekind empfohlen [vgl. Adele Sandrock an Wedekind, 16.11.1905]. seelisch verwandt und als ich Sie das erste Mal bei mirWedekind hat Adele Sandrock erstmals am 19.11.1905 besucht: „Abends besuche ich Adele Sandrock“ [Tb]. hatte sprach ich zu Ihnen, rund von der Leber weg, wie man zu einem guten Freunde spricht. Sie haben mir nun eine Rüge ertheilt (mit Recht) dasSchreibversehen, statt: daß. ich wohl zu offen und frei sprach!! ‒ Diese Rüge sitzt und ich hasse sie darob! Wenn ich aber einen Menschen hasse, scheint die nächste Zukunft für mich gefährlich!! Aber die Zukunft kann ja nur durch einen übereiligen Schritt der Gegenwart entstehen und darum will ich von einer Gegenwart mit Ihnen, liebe werthe Seele, Nichts wissen!

Warum? ‒ Sie haben es heute selbst in der wüsten Kneipenicht ermittelt. gesagt ‒ vielleicht | hatten Sie, ohne es zu ahnen, recht! In ruhigen Momenten sprachen Sie auch vernünftig, so theilten Sie mir mit, das O. E. H. von Ihnen ein Stück „FrühlingstraumAdele Sandrock dürfte hier entweder „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“ (1891) gemeint haben, ein Stück, das Wedekinds im Frühjahr verstorbener Freund nachweislich schätzte [vgl. Otto Erich Hartleben an Wedekind, 25.4.1894] und das zuletzt in 3. Auflage 1903 im Verlag Albert Langen erschienen ist [vgl. KSA 2, S. 772], oder „Frühlingsstürme. Eine Exekution“ [KSA 3/I, S. 617-637], 1902 in einer Zeitschrift abgedruckt [vgl. Neue Deutsche Rundschau, Jg. 13, Nr. 8, August 1902, S. 845-858], eine Umarbeitung des 1. Akts von „Der Erdgeist“ zu einer „Parodie naturalistischen Theaters à la Ibsen und Hauptmann fürs Kabarett“ [KSA 3/II, S. 861], die 1902 zum Programm der Elf Scharfrichter gehört hat und Wedekinds Freund aus diesem Zusammenhang bekannt gewesen sein könnte. so sehr lobte. Ich will dieses Stück lesen. Wenn Sie es haben ‒ bringen Sie es mir ‒ bringen Sie mir auch noch Andere Sachen die Sie geschrieben, ich möchte alle Erscheinungen Ihrer geistigen Natur studiren! Aber, hassen thue ich Sie doch! Sie sagten heute, der Tag ist ja noch so lang! ‒ Ich fühle das intensiver als je! Ich möchte mit Ihnendreimal unterstrichen. plaudern bis zum frühen Morgen ‒ aber ich hasse Sie doch! ‒ Ich werde Sie Freitag im TheaterAdele Sandrock besuchte am 1.12.1905 eine Vorstellung der „Hidalla“-Inszenierung (Wedekind spielte seit der Premiere am 26.9.1905 die Rolle des Karl Hetmann) am Kleinen Theater in Berlin (Unter den Linden 44) und wollte sich anschließend mit Wedekind treffen, wie sie ihm dann nochmals nahelegte [vgl. Adele Sandrock an Wedekind, 1.12.1905]. seh’n! ‒ Nach der Vorstellung werde ich auf Sie warten | beim Ausgang des Theaters Unter den Linden! Kommen Sie bitte ohne Frauen und ohne „Kerle“ ‒ ich will Sie alleindreimal unterstrichen. haben ‒ ‒ weil ich Sie hasse. ‒

Ihre Bücher bringen Sie mir Samstagder 2.12.1905. Wedekind hat im Tagebuch keinen Besuch bei Adele Sandrock im Central-Hotel vermerkt. um 5 Uhr Nachmittags bitte hinauf Zimmer 482. ‒

Ich hasse Sie und dochdreimal unterstrichen. gedenke ich Ihrer in großen herrlichen Zügen! Gott gab uns doch etwas wunderbares ‒ ein Herz, ein schwer zu behandelndes vorsichtig zu gebrauchendes Herz und zwar lediglich für die Tragödie der großen Gemüthsroheit„Gemüths“ dreimal unterstrichen, „roheit“ Schreibversehen (statt „rohheit“).!!! Leben Sie wohl, Frank Wedekind! ‒ Der Gedanke dasSchreibversehen, statt: daß. ich Sie wiedersehe schlägt wie ein Blitz in die Seele der Schreiberin dieser
Zeilen!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 22 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat oben auf Seite 1 mit Bleistift das Datum „1.12.5“ notiert. Ebenfalls oben auf Seite 1 ist von fremder Hand mit Bleistift „Adele Sandrock“ vermerkt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 30.11.1905 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum, wie sich aus dem Briefinhalt und seinen Kontexten ergibt.

Das Empfangsdatum 1.12.1905 ist durch Wedekinds Datumsnotiz auf dem Brief belegt.

  • Schreibort

    Berlin
    30. November 1905 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    1. Dezember 1905 (Freitag)
    Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 153
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Adele Sandrock an Frank Wedekind, 30.11.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (25.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

28.10.2024 13:16