Sehr verehrter Herr Wedekind!
Warum die Kritik verärgert ist, fragen Sievgl. Wedekind an Eiserne Maske, 25.3.1909.. Aus zwei Gründen
ist sie verärgert; aus zwei Gründen, die sich anmutig auf die Kritiker
verteilen. Sie ist verärgert, entweder weil sie neidisch auf die Schauspieler
ist, oder weil sie sich ihres negativen Berufes schämt.
Der Neid ist natürlich Sache und Motiv der kleinen Geister.
Und man kann ruhig sagen (es wäre sonst auch nicht zum Weiterleben), daß diese
kleinen Geister in der Minderzahl sind. Aber sie sind da und sie haben gute
Lungen, und so glaubt man manchmal, wenn man mitten im Lärm steckt, es sei
nichts da, als eben diese Jammerkerle. Das sind die Kleinen von den Meinen, denen
es einen Stich ins Herz gibt, wenn der Autor nach dem dritten Akt auf die Bühne
gerufen wird. Die es selbst einmal mit einem Opus versucht haben, das von
sämtlichen Bühnen mit verbindlichem Danke zurückkam und die nun überzeugt sind,
daß da oben eine Clique zusammenhält, die keinen Neuling durchläßt. Man kennt
sie schon, diese Herrschaften, und wer sie mit schrecklich deutlichen Farben
abgemalt sehen will, der lese die EinleitungDas umfangreiche Vorwort zu Théophile Gautiers Briefroman „Mademoiselle de Maupin“ (1835), der die in Künstlerkreisen angesiedelte Geschichte einer jungen Frau erzählt, die als Mann verkleidet durch homo- und heterosexuelle Erfahrungen ihr libertäres Liebesideal zu verwirklichen sucht, gilt gemeinhin als Manifest einer Theorie des ‚l’art pour l’art‘, ist zugleich aber auch eine scharfe Kritikerschelte. zu Theophile Gautiers Mademoiselle
de Maupin. Der platte Vipernkopf der neidischen Kritik wurde da vor jetzt
vierundsiebzig Jahren geschildert, daß nichts neues mehr darüber zu sagen ist.
Neben dieser gemeinen Verärgerung steht die edle Verärgerung
derer, die für den Kritikerberuf zu schade sind. Wissen Sie es denn, sehr
geehrter Herr, was das für ein Beruf ist, der Kritikerberuf? Wie öde, nutzlos
und verbummelt sich so allmählich ein Mensch vorkommen muß, der ein halbes Jahr
hindurch täglich um Mitternacht schreiben muß: „Es war schon wieder nichts“,
„es war schon wieder nichts.fingierte wörtliche Rede, kein Zitat.“ Stellen Sie sich ein medizinisches Genie vom
Kaliber VirchowsAnspielung auf den Weltruhm des Arztes und Wissenschaftlers Rudolf Virchow. vor, das seine Kraft mit dem Ziehen von hohlen Backzähnen
aufreiben müßte, und Sie haben so ungefähr die Qualen und die Scham, die
kultivierte Kritiker durchmachen müssen. Sie sind keine Genies, gewiß nicht.
Aber sie haben mit Genies Umgang gehabt, haben an Genies gelernt und ihre Maße
erprobt. Sie kommen allesamt aus den literarteutonischen Hörsälen her, wo sie
nur das edelste Gedankenwerk toter Jahrhunderte kennen gelernt haben. Und
sollen sich nun mit der Dutzendware abgeben, die leider unsere Bühnen
beherrscht, die Fäden alberner französischer Späße entwirren, der Pointe eines
ekelhaften Ehebruchdramas nachsinnen. Da ist es denn kein Wunder, daß sie
wütend werden, und ächzen, sich in die Verbitterung hineinreden und in dieser
Verbitterung auch das Werk des Genies abtun, weil es so ein Aufwaschen ist.
Haben Sie Umgang mit Theaterkritikern, verehrter Herr? Dann werden Sie wissen,
daß die Kritiker jeden Premierenabend für einen verlorenen Abend halten; daß
sie jauchzen, wenn einmal eine Premiere abgesetzt wird. Kein Kritiker liebt
seinen Beruf.Diesen und den folgenden Satz zitierte Wedekind in der Vorrede zu „Oaha“ (1909), als er im Zusammenhang der als ungerecht empfundenen Kritik an seinem Werk schrieb: „In einem mit wundervoller Herzenswärme geschriebenen Aufsatz der ‚Eisernen Maske‘ über die verärgerte Kritik stehen die schwerwiegenden Worte: ‚Kein Kritiker liebt seinen Beruf. Und es ist ja auch ein Beruf, der schwer zu lieben ist.‘ – Ich halte die beiden Sätze in ihrer Verallgemeinerung entschieden für übertrieben. Aber für eine gewisse Klasse von Kritikern muß die Behauptung mit aller Bestimmtheit zutreffen.“ Wedekind gibt hier irrtümlich an, die Sätze stammten aus dem von der ‚Eisernen Maske‘ verfassten Aufsatz „Wo bist Du Sudermann?“ in der Montagszeitung „Die Standarte“ vom 15.3.1909 [vgl. KSA 5/III, S. 306]. Sie stammen aber aus dem vorliegenden Brief. Wedekind hat die beiden Sätze in der Vorrede zu „Oaha“ umformuliert (um dann seine Kritik an der Kritik weiter auszuführen): „Kein Zuhälter liebt seinen Beruf. Und es ist ja auch ein Beruf, der schwer zu lieben ist.“ [KSA 5/III, S. 311] Und es ist ja auch ein Beruf, der schwer zu lieben ist.
Schwierig wird das Problem, wenn wir uns fragen, warum die
kritische Verärgerung nur bei uns in Deutschland vorkommt. Die Kritik in
Frankreich, England, Italien ist mild und freundlich und läßt ihre Sonne
leuchten über Gerechte und Ungerechte. Sie verlangt nicht von dem Pflaumenbaum,
daß er Bananen trage, im Gegenteil, sie freut sich, wenn die Pflaumen recht
tüchtig pflaumenmäßig geraten. Und nirgendwo in der literarischen Welt gibt es
die schlechten ManierenWedekind zitiert die Stelle in der Vorrede zu „Oaha“ im Anschluss an die Umformulierung (siehe die vorige Erläuterung): „Ohne alle Schwierigkeit erklären sich aus dieser Entwicklungsart die ‚Schlechten Manieren‘, die die ‚Eiserne Maske‘ gewissen Elementen der Berliner Kritik zum Vorwurf macht.“ [KSA 5/III, S. 311]., deren sich ganz im Besonderen die Berliner Kritik
befleißigt. Als der englische Schauspieler Beerbohm-Tree mit seiner TruppeHerbert Beerbohm Tree traf mit seinem Ensemble ‒ His Majesty’s Theatre (London) ‒ am 8.4.1907 in Berlin ein, zu einem englischsprachigen Gastspiel überwiegend mit Stücken Shakespeares vom 12. bis 18.4.1907 am Neuen Königlichen Operntheater. Der Schauspieler hat Wedekind zu einer Gesellschaft eingeladen [vgl. Herbert Beerbohm Tree an Wedekind, 13.4.1907]. im Neuen
Königlichen Operntheater gastierte, da schrieb der Kritiker Hart im „Tag“, man
solle diesen KünstlerWedekind nimmt diese Stelle in der Vorrede zu „Oaha“ als Auftakt zu einem Zitat (im vorliegenden Brief das Referat einer Kritik von Julius Hart in der Berliner Zeitung „Der Tag“), das er nicht als solches markiert, dem vorliegenden Brief aber entnimmt und dessen Quelle einleitend nennt: „Wenn Julius Hart im ‚Tag‘ schreibt, man solle diesen Künstler von rechts und links ohrfeigen und ihm Fausthiebe in den Magen geben, welcher unbefangene Mensch denkt bei diesen Worten nicht unwillkürlich an einen Zuhälter?“ [KSA 5/III, S. 311] rechts und links ohrfeigen und ihm Fausthiebe in den
Magen geben. Haben Sie etwas ähnliches in französischen Blättern gelesen, als
jetzt eine deutsche Truppe in ParisDas „Düsseldorfer Schauspielhaus unter Leitung von Louise Dumont und Gustav Lindemann“ hatte am Pariser Marigny-Theater „ein für eine Woche berechnetes Gastspiel [...]. Als erste Vorstellung wird Grillparzers ‚Medea‘ in Szene gehen. Ferner werden aufgeführt: Goethes ‚Triumph der Empfindsamkeit‘; ‚Das Leben des Menschen‘ von Leonid Andrejew; Ibsens ‚Wenn wir Toten erwachen‘ und ‚Hedda Gabler‘. Die französische Presse begrüßt das Unternehmen mit wohlwollendem Interesse.“ [Düsseldorf in Paris. In: Berliner Tageblatt, Jg. 38, Nr. 101, 25.2.1909, Morgen-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (3)] Die Premierenvorstellung des Gastspiels fand am 27.2.1909 statt, es gab dann insgesamt „acht deutsche Vorstellungen. [...] Paris begrüßte die deutschen Künstler mit Achtung, zum Teil sogar mit ungewöhnlicher Wärme“ [Anläufe. In: Berliner Tageblatt, Jg. 38, Nr. 136, 12.3.1909, Abend-Ausgabe, S. (1)]. gastierte? Schwerlich. Diese Art der
Verärgerung ist etwas rein Deutsches. Aber warum sie nur in Deutschland
vorkommt, darüber denkt jeder bei sich im Kämmerlein nach. Ich persönlich
meine, es kommt von dem übertriebenen literarteutonischen Studium her. In den
germanistischen Seminaren verliert der junge Mann das Augenmaß und kann dann
der Forderung des gegenwärtigen Tages nicht mehr gerecht werden. Unsere Kritik
ist zu stubengelehrt, nicht theaterpraktisch erfahren; daran liegt alles.
Nun haben Sie noch die Güte, sehr geehrter Herr, mich zur
Demaskierung aufzufordern. Erlauben Sie, daß ich Ihre freundliche Aufforderung
nicht befolge und meine eiserne Maske lieber anbehalten möchte. Aus
verschiedenen Gründen möchte ich das; beispielsweise schon aus dem einen
individuellen Grunde, daß ich Sie für ein Genie halte. Und das sagt man lieber
hinter der Maske hervor, als von Gesicht zu Gesicht. Die Maske wurde ja dazu
erfunden, die Passionen unseres Herzens zu verdecken, die guten und die bösen.
Deshalb trug man sie im alten Venedig im Carneval, in der Frühjahrszeit der
Leidenschaften. Außerdem ist man so hübsch unabhängig, wenn man solche eiserne
Larve vor dem Gesicht hat. Wenn ich meine Maske vorhabe, kann ich Ihnen sagen,
daß ich Sie verehre und gleich hinterdrein sagen, daß ich Ihr „Oaha“ für kein
recht gutes Stück halte. Am Caféstammtisch bei der Zigarette wäre das nicht
möglich. Alle Kritiker sollten Masken tragen. Wie die Richter im Rat der Zehnim Jahr 1310 als außerordentlicher Gerichtshof gegründetes Gremium der Republik Venedig, in dem sich dann deren politische Macht konzentrierte..
Mit dem Ausdruck größter Hochachtung
Ihre
„Eiserne Maske.“