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Kennung: 2348

München, 8. September 1912 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Stöcker, Helene

Inhalt

Sehr geehrte gnädige Frau DoctorDr. phil. Helene Stöcker in Friedenau (Sentastraße 5) [vgl. Berliner Adreßbuch 1912, Teil I, 3029], die bekannte Frauenrechtlerin, hat am 18.6.1912 an dem zu Ehren Wedekinds veranstalteten Bankett im Hotel Esplanade in Berlin teilgenommen [vgl. Frank Wedekinds Brief an Tilly Wedekind, 19.6.1912], die einzige nachgewiesene Begegnung.!

Empfangen Sie meinen ergebensten Dank für Ihre ehrenvolle Aufforderungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Helene Stöcker an Wedekind, 6.9.1912. Helene Stöcker dürfte Wedekind zu einem Vortrag für den Bund für Mutterschutz, dessen Vorsitzende sie war, eingeladen haben, möglicherweise auch nur als einen der Vortragenden für einen Diskussionsabend. So sprachen an einem solchen Abend am 12.11.1912 mehrere Personen: „Am Dienstag, abends 8 Uhr, Architektenhaus, sprechen im Bund für Mutterschutz über das Thema: ‚Geburtenrückgang ‒ eine Gefahr?‘ Dr. phil. Helene Stöcker, Reichstagsabgeordneter Dr. Eduard David, Dr. med. Julian Marcuse‒München.“ [Vorwärts, Jg. 29, Nr. 264, 10.11.1912, 4. Beilage, S. (2)]. Vor zwanzig Jahren hätte ich mit beiden Händen zugegriffen. Meine Arbeit gehört seit 25 Jahren der Frauenbewegung und wird ihr bis an mein Lebensende gehören weil ich in ihr das SacramentSakrament, in der christlichen Kultur eine gottesdienstliche Handlung, hier als Metapher. unserer KulturentwicklungWedekind hat in seiner am 21.6.1907 in der Zeitschrift „Morgen“ abgedruckten Einführung „Mutter und Kind“ zu seinem Schauspiel „Musik“ über sein „Sittengemälde“ gesagt, es behandle mit dem Abtreibungsparagraphen 218 „eine der ernstesten Fragen [...], die unsere Kulturentwicklung gezeitigt hat“ [KSA 5/II, S. 248]; er habe zugleich „den modernen Frauenrechtlerinnen über ihre Untätigkeit auf diesem wichtigen Gebiete“ Vorwürfe gemacht, die Helene Stöcker „als unbegründet“ [Kutscher 2, S. 252] zurückwies [vgl. KSA 5/III, S. 582-584] und Wedekind zugleich als „Kampfgenossen“ [Helene Stöcker: Wedekind und die Frauenbewegung. In: Morgen, Jg. 1, Nr. 8, 2.8.1907, S. 250-251, hier S. 251] begrüßte. sehe. Heute habe ich leider in erster Linie für meine seit zwanzig Jahren verlästerten, in Verunstaltungen auf die Bühne gebrachten oder polizeilich verbotenen Dramen einzustehen. Diese Aufgabe kann ich durch einen VortragWedekind hat den Vortrag, zu dem Helene Stöcker ihn nach Berlin eingeladen hat, nicht gehalten; sie veröffentlichte den gewünschten Text allerdings in ihrer Zeitschrift (siehe unten)., den ich in Berlin halte nur beeinträchtigen. Denn unsere literarischen Koryphäen halten keine Vorträge. Sie betrachten das als unter ihrer Würde. Wenn ich es thue, macht sich die Presse, die den Koryphäen ihre | Reserven zum höchsten Verdienst anrechnet über mich lustig und giebt mich, wie ich das erst vor einem JahrWedekind hat seinen Vortrag „Aufklärungen aus: ‚Feuerwerk‘“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 177, 14.4.1911, General-Anzeiger, S. 2] zuletzt am 18. und 19.4.1911 im Rahmen eines Wedekind-Abends am Kleinen Theater in München gehalten [vgl. KSA 5/III, S. 65]. erfahren mußte, dem Gespött des Publikums preis. Darf ich mir also den Vorschlag erlauben unsere Koryphäen, die Inhaber aller Ehrenauszeichnungen die seit zwanzig Jahren verliehen werden, auf dem mir von Ihnen gütigst vorgeschlagenen Wege vorangehen zu lassen.

Mit der Bitte, den Ausdruck meiner allergrößten Hochschätzung entgegen nehmen zu wollen
Ihr ergebener
FrW.


Nachher werde ich Ihnen für die freundlich gebotene Gelegenheit, meine Ansichten öffentlich zu äußern zu dürfenWedekinds 1910 als Vortrag entstandener Essay „Aufklärungen“ [KSA 5/II, S. 389-393] lag im Erstdruck am 1.11.1910 in der von Wilhelm Herzog und Paul Cassirer herausgegebenen Zeitschrift „Pan“ vor, im deutlich überarbeiteten Zweitdruck unter dem Titel „Über Erotik“ [KSA 5/I, S. 200-205] als Einleitung zu dem 1911 im Verlag Georg Müller herausgekommenen und 1912 in Band 1 der „Gesammelten Werke“ aufgenommenen Sammelband „Feuerwerk“ [vgl. KSA 5/I, S. 604f.; KSA 5/III, S. 62-65]. Der Essay wurde in der letzten Fassung unter dem Titel „Erotik“ in der von Helene Stöcker herausgegebenen Berliner Monatsschrift „Die neue Generation“ (das Publikationsorgan des Deutschen Bundes für Mutterschutz, der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform und des Deutschen Neumalthusianer-Komitees) erneut veröffentlicht [vgl. Frank Wedekind: Erotik. In: Die neue Generation, Jg. 8, Nr. 10, 14.10.1912, S. 515-522; in KSA nicht nachgewiesen]; die Anmerkung der Redaktion (= Helene Stöcker) am Schluss lautet: „Wir entnehmen diese klassischen Ausführungen des Dichters, dessen großen Intentionen man jetzt endlich auch in weiteren Kreisen gerecht zu werden beginnt, mit freundlicher Erlaubnis des Verlages Georg Müller, München, der soeben erscheinenden Gesamtausgabe seiner Werke, auf die wir noch eingehender zurückkommen.“, nicht genug danken können.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Ringbuchblätter. 8,5 x 14,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Es handelt sich um einen Briefentwurf, auf dessen Grundlage ein Brief geschrieben und abgesandt worden sein dürfte.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 8.9.1912 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum, belegt durch Wedekinds Notiz vom 8.9.1912 in München: „Abends mit Tilly geübt. Dann allein zu Hause Brief an Helene Stöcker.“ [Tb]

  • Schreibort

    München
    8. September 1912 (Sonntag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Friedenau
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Nr. 171
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Helene Stöcker, 8.9.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

26.06.2024 14:45
Kennung: 2348

München, 8. September 1912 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Stöcker, Helene
 
 

Inhalt

Sehr geehrte gnädige Frau DoctorDr. phil. Helene Stöcker in Friedenau (Sentastraße 5) [vgl. Berliner Adreßbuch 1912, Teil I, 3029], die bekannte Frauenrechtlerin, hat am 18.6.1912 an dem zu Ehren Wedekinds veranstalteten Bankett im Hotel Esplanade in Berlin teilgenommen [vgl. Frank Wedekinds Brief an Tilly Wedekind, 19.6.1912], die einzige nachgewiesene Begegnung.!

Empfangen Sie meinen ergebensten Dank für Ihre ehrenvolle Aufforderungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Helene Stöcker an Wedekind, 6.9.1912. Helene Stöcker dürfte Wedekind zu einem Vortrag für den Bund für Mutterschutz, dessen Vorsitzende sie war, eingeladen haben, möglicherweise auch nur als einen der Vortragenden für einen Diskussionsabend. So sprachen an einem solchen Abend am 12.11.1912 mehrere Personen: „Am Dienstag, abends 8 Uhr, Architektenhaus, sprechen im Bund für Mutterschutz über das Thema: ‚Geburtenrückgang ‒ eine Gefahr?‘ Dr. phil. Helene Stöcker, Reichstagsabgeordneter Dr. Eduard David, Dr. med. Julian Marcuse‒München.“ [Vorwärts, Jg. 29, Nr. 264, 10.11.1912, 4. Beilage, S. (2)]. Vor zwanzig Jahren hätte ich mit beiden Händen zugegriffen. Meine Arbeit gehört seit 25 Jahren der Frauenbewegung und wird ihr bis an mein Lebensende gehören weil ich in ihr das SacramentSakrament, in der christlichen Kultur eine gottesdienstliche Handlung, hier als Metapher. unserer KulturentwicklungWedekind hat in seiner am 21.6.1907 in der Zeitschrift „Morgen“ abgedruckten Einführung „Mutter und Kind“ zu seinem Schauspiel „Musik“ über sein „Sittengemälde“ gesagt, es behandle mit dem Abtreibungsparagraphen 218 „eine der ernstesten Fragen [...], die unsere Kulturentwicklung gezeitigt hat“ [KSA 5/II, S. 248]; er habe zugleich „den modernen Frauenrechtlerinnen über ihre Untätigkeit auf diesem wichtigen Gebiete“ Vorwürfe gemacht, die Helene Stöcker „als unbegründet“ [Kutscher 2, S. 252] zurückwies [vgl. KSA 5/III, S. 582-584] und Wedekind zugleich als „Kampfgenossen“ [Helene Stöcker: Wedekind und die Frauenbewegung. In: Morgen, Jg. 1, Nr. 8, 2.8.1907, S. 250-251, hier S. 251] begrüßte. sehe. Heute habe ich leider in erster Linie für meine seit zwanzig Jahren verlästerten, in Verunstaltungen auf die Bühne gebrachten oder polizeilich verbotenen Dramen einzustehen. Diese Aufgabe kann ich durch einen VortragWedekind hat den Vortrag, zu dem Helene Stöcker ihn nach Berlin eingeladen hat, nicht gehalten; sie veröffentlichte den gewünschten Text allerdings in ihrer Zeitschrift (siehe unten)., den ich in Berlin halte nur beeinträchtigen. Denn unsere literarischen Koryphäen halten keine Vorträge. Sie betrachten das als unter ihrer Würde. Wenn ich es thue, macht sich die Presse, die den Koryphäen ihre | Reserven zum höchsten Verdienst anrechnet über mich lustig und giebt mich, wie ich das erst vor einem JahrWedekind hat seinen Vortrag „Aufklärungen aus: ‚Feuerwerk‘“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 64, Nr. 177, 14.4.1911, General-Anzeiger, S. 2] zuletzt am 18. und 19.4.1911 im Rahmen eines Wedekind-Abends am Kleinen Theater in München gehalten [vgl. KSA 5/III, S. 65]. erfahren mußte, dem Gespött des Publikums preis. Darf ich mir also den Vorschlag erlauben unsere Koryphäen, die Inhaber aller Ehrenauszeichnungen die seit zwanzig Jahren verliehen werden, auf dem mir von Ihnen gütigst vorgeschlagenen Wege vorangehen zu lassen.

Mit der Bitte, den Ausdruck meiner allergrößten Hochschätzung entgegen nehmen zu wollen
Ihr ergebener
FrW.


Nachher werde ich Ihnen für die freundlich gebotene Gelegenheit, meine Ansichten öffentlich zu äußern zu dürfenWedekinds 1910 als Vortrag entstandener Essay „Aufklärungen“ [KSA 5/II, S. 389-393] lag im Erstdruck am 1.11.1910 in der von Wilhelm Herzog und Paul Cassirer herausgegebenen Zeitschrift „Pan“ vor, im deutlich überarbeiteten Zweitdruck unter dem Titel „Über Erotik“ [KSA 5/I, S. 200-205] als Einleitung zu dem 1911 im Verlag Georg Müller herausgekommenen und 1912 in Band 1 der „Gesammelten Werke“ aufgenommenen Sammelband „Feuerwerk“ [vgl. KSA 5/I, S. 604f.; KSA 5/III, S. 62-65]. Der Essay wurde in der letzten Fassung unter dem Titel „Erotik“ in der von Helene Stöcker herausgegebenen Berliner Monatsschrift „Die neue Generation“ (das Publikationsorgan des Deutschen Bundes für Mutterschutz, der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform und des Deutschen Neumalthusianer-Komitees) erneut veröffentlicht [vgl. Frank Wedekind: Erotik. In: Die neue Generation, Jg. 8, Nr. 10, 14.10.1912, S. 515-522; in KSA nicht nachgewiesen]; die Anmerkung der Redaktion (= Helene Stöcker) am Schluss lautet: „Wir entnehmen diese klassischen Ausführungen des Dichters, dessen großen Intentionen man jetzt endlich auch in weiteren Kreisen gerecht zu werden beginnt, mit freundlicher Erlaubnis des Verlages Georg Müller, München, der soeben erscheinenden Gesamtausgabe seiner Werke, auf die wir noch eingehender zurückkommen.“, nicht genug danken können.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Ringbuchblätter. 8,5 x 14,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Es handelt sich um einen Briefentwurf, auf dessen Grundlage ein Brief geschrieben und abgesandt worden sein dürfte.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 8.9.1912 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum, belegt durch Wedekinds Notiz vom 8.9.1912 in München: „Abends mit Tilly geübt. Dann allein zu Hause Brief an Helene Stöcker.“ [Tb]

  • Schreibort

    München
    8. September 1912 (Sonntag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Friedenau
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Nr. 171
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Helene Stöcker, 8.9.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

26.06.2024 14:45