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Kennung: 2214

Loschwitz, 14. April 1906 - 16. April 1906, Brief

Autor*in

  • Rudinoff, Willy

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

LoschwitzKünstlerhaus


Lieber Frank!

Jetzt erst komme ich dazu dir auf deinen lieben Hochzeitsbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Willy Rudinoff, 1.8.1905. gebührend zu antworten. Ich hatte dir jedoch vor Monaten einen langen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Willy Rudinoffs an Wedekind, 1.9.1905 bis 1.12.1905. geschrieben den ich aber dann zu Schluß nicht absandte. ‒ Dieser Brief war so lang daß ein anderer Mensch gleich drei Buchkapitel hätte daraus machen können. In der That schrieb ich so lange | daran, daß sich, mit dem Eintritt vieler neuer Ereignisse, dieser Brief selbst überlebt hatte und nun zwecklos geworden war.

Dein Hochzeitsbrief hat mich also herzlich erfreut und ich habe für diese Freude gern den Gestank ertragen der auf dem Flur vor dem Eingang der Residenztheater-BühneIm Dresdner Residenztheater fand am 13.3.1906 ein „Ensemble-Gastspiel des Deutschen Theaters in Berlin“ [Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)] mit Wedekinds „Erdgeist“ unter der Leitung von Max Reinhardt statt. Beginn der Vorstellung war um 19.30 Uhr, Ende nach 22 Uhr. Wedekind hatte den Freund für ein Treffen vermutlich an den Bühneneingang bestellt und ihn dann möglicherweise versetzt. Er vermerkte am 13.3.1906 nach der „Erdgeist“-Vorstellung lediglich: „Nachher mit den Schauspielern und Walther Oschwald bei Kneist.“ [Tb] waltete als du mich dort auf dein Er|scheinen warten ließest. Es roch dort meistenteils nach menschlichem Urin, das ist nun etwas was ich schwer vertrage. Du weißt von meinem Pariser Engagementwohl Willy Rudinoffs Engagement 1892 im Cirque d’Hiver in Paris, bei dem er und Wedekind sich wiedergetroffen hatten [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 5.12.1892]. Rudinoff war dann wieder im Herbst 1902 in Paris engagiert [vgl. Raff 2015, S. 45-47]. ich bin Stallluft gewöhnt aber wie fein ist so eine Pferdestall Luft gegen die eklen Dünste der menschlichen Excremente! Oft mußte ich auch empfinden wie fein sind doch die Circus Menschen im Gegensatz zu den Bewohnern der menschlichen Ställe! Diese Gedanken schwirrten | mir so durch den Kopf als ich da draußen stand und wartete. Ich dachte mir, wäre Frank, der liebe Frank zu mir in den Circus gekommen hätte ich ihn wohl so lange stehen lassen? Oder hätte ich ihn nicht hereinrufen lassen? Aber das sind so Gedanken die mir gewiß nur kamen weil ich von meiner früheren Carrière her so ein wenig empfindlich, am Ende leicht verletzlich geworden bin. Da ich aber ein sogenannter brutaler Kerl | bin, so sage ich dir wie mir’s ums Herz war! Dein Frei BilletWilly Rudinoff hatte sich nach einem Billet erkundigt [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 12.3.1912], woraufhin ihm Wedekind offenbar zwei Freibillets hat zukommen lassen, wie der vorliegende Brief nahelegt; es dürften dem Brief insofern nicht nur eine, sondern zwei Theaterkarten beigelegen haben. Karten für die „Erdgeist“-Vorstellung am 13.3.1906 im Dresdner Residenztheater waren rar. „Das Haus war ausverkauft.“ [W.: Residenztheater. In: Dresdner Nachrichten, Nr. 72, 15.3.1906, S. (3)] habe ich nicht benutzt wie du wohl vernommen hast. Ich lege es dir hier zum Beweis wieder bei.

Erstens wollte ich nur einen Platz in von dir wenn durchaus kein Platz mehr an der Casse zu haben gewesen wäre.

Durch einen Zufall konnte ich für 10 Mk noch 2 Plätze kaufen die nicht abgeholt waren. Ferner wollte ich dich doch sehen und das wäre es wohl auch mit | deiner Anweisungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Willy Rudinoff, 13.12.1906., beim Anfang der Vorstellung Herrn Reinhardt aufzusuchen, nicht möglich gewesen.. Ich war also kreuzfröhlich mir das leisten zu können und stolz wie ein Spanier oder wie ein erstklassiger Artist setzte ich mich mit meinen russischen Juchtenstiefeln und meiner auch nicht gesellschaftlich aufgeputzten Ehefrau auf den | famosen Parketsitz. Einige meiner Nachbarn glaubten sicher ich hätte mir so hohe Stiefel angezogen weil ich eine so schlechte Meinung von der zu erwartenden Literatur hätte.

Ich belehrte selbige Leute aber, daß ich nur des schlechten Wetters wegen meine Russen anshabe.

So viel von meinen Beinen! Wie aber steht es um meine Hände? Ich wollte | ich hätte auch Juchtenhandschuhe angehabt, dauerhafte Handschuhe damit ich das KlappenKlatschen, applaudieren. etwas besser ertragen hätte! Am nächsten Tage nämlich waren meine Hände geschwollen wie die Hinterteile des Mantelpavians! Meine Stimme die ich in „Bravo Wedekind“ und „Hurrah Wedekind“ zu Schanden schrie war in einem schrecklichen Zustand. Prof. Dr. Müller mein GesangsmeisterProf. Dr. phil. Richard Müller, seit 1888 als Gesangslehrer und Stimmbildner in Dresden, seit 1890 am Königlichen Lehrerinnenseminar und an der Dresdner Musikschule als Seminaroberleiter, als der er sich nach wie vor bezeichnete, auch wenn er seit 1904 in Dresden (Fürstenstraße 69) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1906, Teil IV, S. 122] nur noch Privatunterricht erteilte, war ein renommierter Gesangslehrer und Stimmbildner. | verzweifelte an meinen hohen Tönen und meinte ein Tenor wie ich es bin dürfe überhaupt nicht „Bravo“ schreien sondern nur „Bravo“ singen. Du begreifst mit welcher Ehrlichkeit ich Bravo schreien durfte, hätte ich das Billet von Dir erhalten ich hätte mich genirt, das zu thun. Aber so?! Hatte ich nicht mein koscher(jidd.) rein (im Sinne der jüdischen Speisegesetze), einwandfrei. Geld dafür gezahlt? Aha! Also durfte ich reuelos applau|diren. Mit deinem Freibillet hätte ich die Empfindungen des bezahlten ClaqueursClaqueur (von frz. ‚claquer‘ = klatschen), jemand, der bezahlt wird, um Beifall zu klatschen. gehabt. ‒ Wenn ich aber bei der ersten Kammersänger VorstellungWilly Rudinoff hat die Uraufführung von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne am Neuen Theater in Berlin gesehen, die kein voller Erfolg war [vgl. KSA 4, S. 395-397]; sie fand statt, während Wedekind in der Festung Königsstein inhaftiert war. in Berlin in meiner Fremdenloge der einzige war der applaudirte so war ich hier nicht mehr allein. Ume mich herum aber saßen die Damenswohl persiflierend: Damen. Dresdens und ihre männlichen Beschützer | in schönem Kranz.

Fette, ekelhafte Tanten mit Rheumatismus in den Gelenken, Männer mit HabybärtenSchnurrbärte mit hochgezwirbelten Enden, wie Wilhelm II. einen trug, benannt nach dem Hoffriseur des Kaisers, François Haby. und andern mit würdigen grauen Gesichtsdekorationen die nach dem deutschen Professor rochen. Ringsrum aber verstreut wie die Capern in einem Beefsteak à la Tartarrohes Beefsteak, eine Art Carpaccio, das mit Kapern angemacht wurde. saßen und standen die Journalisten der Stadt, behaart, | bebrillt, angetan mit den Falten des heiligen Geistes auf ihren Stirnen. ‒ Es roch nur so nach Moral und Eau de PortugalHaarwasser.. ‒

Es war also ein erstklassiger Abend lieber Frank! Allererstklassig! Denn ich habe mich nicht gelangweilt und das will Alles sagen, welcher deutsche Dichter kann das von sich und mir sagen? | Es war sogar glänzend! Und wie hast du mich angenehm überrascht als Redner! Nein der Teufel! Das habe ich nicht geglaubt! Das war ja wirklich eine Leistung, eine NummerDer Prolog zum „Erdgeist“, in dem Wedekind bei dem Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am 13.3.1906 im Dresdner Residenztheater als Tierbändiger auftrat, ist auch von der Presse als eine Art Zirkusnummer wahrgenommen worden. „Mit einem ‚Prolog‘ wird der wunderliche Bühnenabend eröffnet. Der Dichter spricht ihn im Kostüm eines Zirkusdirektors, im roten Manege-Frack, die Peitsche in der Hand. Dieser Prolog ist das beste am ‚Erdgeist‘, ein Witz von kühnem Wurf und genialischer Frechheit, der die Bühne, das Stück, die Welt in verwegener Phantasie mit einer Menagerie vergleicht“ [W.: Residenztheater. In: Dresdner Nachrichten, Nr. 72, 15.3.1906, S. (3)]. „Im roten Frack, mit [...] schwarzen Stulpenstiefeln angetan“, mit einer „Reitpeitsche“ als „Tierbändiger“, ist Wedekind in der Rolle beschrieben und resümiert: „Hereinspaziert in den Zirkus Wedekind!“ [Julius Ferdinand Wollf: Der Fall Wedekind und der Fall Reinhardt. In: Dresdner Neueste Nachrichten, Jg. 14, Nr. 71, 16.3.1906, S. (1)] daran man sich auf dem Variété nicht zu schämen braucht! fein, intelligent und harmonisch abgestimmt. Also ‒ Artist 1ten Ranges! Weißt du dein Prolog war so gut daß er beinahe allen anderen | Nummern die nachher kamen geschadet hat. Schade daß du damit nicht wie ich nach Australien und AfrikaWilly Rudinoff hatte Wedekind aus Australien [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 10.9.1903] und Südafrika [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 26.10.1903] Bildpostkarten gesandt. reisen kannst die Länder verlohnen daß man dort gewesen ist! ‒ Nicht „man“ sondern ich und du!

Heil dir also Göttermensch, Du hast mir einen seeligen Abend bereitet; das bist Du auch den Menschen schuldig, Du der so viele | seelige Nächte genossen hast. Aber schau, deine Leistung war größer! Ich habe deinen Esprit genossen ohne geistige GetränkeWilly Rudinoff war „überzeugter [...] Antialkoholiker“ [Raff 2015, S. 55]. während du fast immer deren nötig hast, oder sollte vielleicht der Erdgeist aus einer Scholle gestiegen sein welche mit Burgunder gedüngtAnspielung darauf, Wedekind habe den „Erdgeist“ unter dem Einfluss von Rotwein geschrieben, also unter Alkoholeinfluss. wurde?

Mein liebes WeibWilly Rudinoff hat am 29.7.1905 in Dresden Ida Tachau, die aus Böhmen stammte, geheiratet [vgl. Raff 2015, S. 54] und Wedekind darüber informiert [vgl. Willy Rudinoff, Ida Rudinoff an Wedekind, 29.7.1905]., mein theures herziges Kameradlein hat mit mir die Sensationen dieses Abends | genossen und darauf kannst Du dir auch ’was einbilden. Zwei Menschen wie wir, le couple(frz.) das Paar. Rudinoff, von so alter Cultur und so viel Geschmack im Genießen die wollen schon was von einem Kommödianten. Uns, weißt du, imponirt so leicht nicht was.

Par exemple(frz.) Zum Beispiel.: Imponirt uns KlingerMax Klingers symbolistisches Werk war in Ausstellungen erfolgreich. nicht, Straussens Salome nicht (seine Lieder wohl) aber Wedekind und sein | Erdgeist hat uns nicht gelangweilt und war sein Geld wert.

Zur Aufführung hätte ich Einiges zu sagen. Als RegisseurRegisseur bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am 13.3.1906 im Dresdner Residenztheater war Max Reinhardt; es fand statt „unter Leitung des Herrn Direktors M. Reinhardt.“ [Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)] hätte ich darauf gedrungen daß der MalerDen Kunstmaler Schwarz spielte am 13.3.1906 bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am Dresdner Residenztheater Eduard von Winterstein [vgl. Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)]. sich mehr dem Styl der Sache anpaßt er war mir im ersten Akt allzusehr der alte jugendliche Liebhaber, ein Schmachtlappen dem man eine großzügige Geste nicht zutraut, zu süß im Ton. Also sein Spiel neben dem des Dr. SchönDie Rolle des Dr. Schön spielte am 13.3.1906 bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am Dresdner Residenztheater Albert Steinrück [vgl. Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)]. war wie ein Eis Baisergefrorener gezuckerter Eischnee (= Baiser) oder Eis mit Baiserhaube. neben Rostbraten. |

Ferner achte man darauf daß die gemalte Pierrot SkizzeDas im „Erdgeist“ vom Maler Schwarz gemalte Bild von Lulu als Pierrot ist vom 1. Akt an im Stück präsent. anständiger ist. Man spricht da in einem fort von einem Weib „en diable(frz.) furchtbar, unheimlich (von frz. ‚diable‘ = Teufel, Satan). Lulu wurde in Dresden als Femme fatale rezipiert, als weiblicher „Satan“ [Julius Ferdinand Wollf: Der Fall Wedekind und der Fall Reinhardt. In: Dresdner Neueste Nachrichten, Jg. 14, Nr. 71, 16.3.1906, S. (1)], wobei Gertrud Eysoldt in dieser Rolle nicht alle Kritiker überzeugte. So wurde über „Frl. Eysoldt als diabolische Lulu“ geschrieben: „es fehlt der Künstlerin für die überzeugende Verkörperung der schönen Teufelin denn doch zu sehr der äußere Charme, der Zauber der Persönlichkeit, der sich schließlich durch alle Pikanterie und Geschmeidigkeit nicht wett machen läßt.“ [W.: Residenztheater. In: Dresdner Nachrichten, Nr. 72, 15.3.1906, S. (3)]“ und findet auf dem Bilde einen ungeschickt, unfrei-gemaltes/n/ Kitsch von dem kein Mensch irgendwie künstlerisch oder sexuell begeistert wäre. Auf diese Leinwand muß ein ChèrêtJules Chéret, französischer Lithograf, Grafiker und Maler, war für eine moderne Bildgestaltung bekannt. in wenigen Strichen aber | in gekonnten Strichen. Ich finde das beleidigt den Kenner was da auf der Staffelei steht. SleevogtMax Slevogt war als Maler, Grafiker, Illustrator und Bühnenbildner äußerst produktiv und erfolgreich – „der viel umschwärmte moderne Abgott Slevogt“ [Berliner Börsenzeitung, Nr. 572, 7.12.1906, Morgen-Ausgabe, S. 7], „Slevogt, der heute zu unseren Besten zählt“ [K.: Die Ausstellung der Berliner Sezession. In: Berliner Volks-Zeitung, Jg. 54, Nr. 190, 25.4.1906, Morgenblatt, S. (1)], wurde über ihn geurteilt; er entwarf auch für Max Reinhardt Bühnenbilder und Kostüme. wird so Etwas in einer halben Stunde hinsetzen und es wird anständig sein.

Ferner trägt Frl EysoldtGertrud Eysoldt spielte am 13.3.1906 bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am Dresdner Residenztheater die Hauptrolle der Lulu [vgl. Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)]. im Tanz Act ein unmögliches Varietécostüm. Sie soll sich einmal die Fougère anschauen oder Guerrero. Ueberhaupt traut ihr das Alles kein Mensch | zu! Ja sähe sie aus wie die FougèreWedekind hatte die extravagante Varietékünstlerin Eugénie Fougère in Paris kennengelernt; er setzte ihr in der Szene I/4 seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) ein Denkmal: „LULU Ich nahm Stunden bei Eugenie Fougère. Sie hat mich auch Kostüme kopieren lassen. SCHWARZ Wie sind denn die? LULU Grünes Spitzenröckchen bis zum Knie, ganz in Volants, dekolletirt natürlich, sehr dekolletirt und fürchterlich geschnürt. Hellgrüner Unterrock, dann immer heller. Schneeweiße Dessous mit handbreiten Spitzen“ [KSA 1/I, S. 332]. oder die Guererodie spanische Schauspielerin Maria Guerrero; ob Wedekind sie kannte, ist unklar.! besser noch ‒ wie die Fougère die ja aus einer ähnlichen Herkunft sein mag wie deine Loulou. ‒ Wie ich der Dresdner SalomeDie Oper „Salome“ von Richard Strauss nach Oscars Wildes gleichnamigem Stück wurde am 9.12.1905 an der Dresdner Hofoper uraufgeführt. Maria Wittich, die eigentlich einen Namen als Wagnersängerin hatte, sang und spielte die Titelrolle. (Wittich) nicht Ihren Einfluß auf Herodes glaube mit ihrem dummen blöden Tanzgethue, wie es einfach unmöglich erscheint daß Herodes ihr für den Tanz sein halbes Königreich verspricht | (am Varieté gäbe man ihr nicht 5 Mark pro Abend dafür) ebenso unglaubwürdig ist das Fräulein Eysoldt in ihren Bemühungen als SchlangendameIm Prolog zum „Erdgeist“ wird Lulu als „Schlange“ [KSA 3/I, S. 316] hereingetragen.. Nein ‒ für die erschießt sich ein einigermaßen potenter Kerl nicht und ein Dr. Schön geht nicht an ihr zu Grunde. Schau daß Du eine Fougère bekommst, mein Lieber! Auch der FürstDen Prinzen Escerny spielte am 13.3.1906 bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am Dresdner Residenztheater Heinrich Marlow [vgl. Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)]. war in diesem Acte unmöglich eine comödiespielender Schmierenkerl. Er sah | jämmerlich aus und spielte ebenso unfrei wie der Maler.

Das Stück aber ist eins der lustigsten Dinge und zugleich eins der geistvollsten Dinge welche geschrieben wurden. Als ich in EnglandWilly Rudinoff hat 1901 Reisen durch England und Schottland unternommen [vgl. Raff 2015, S. 41-43]. die das T Stück von Shaw las: [„]Man and Superman“ da sagte ich mir unwillkürlich daß du von ihm beeinflußtWilly Rudinow schrieb am 11.10.1906 an Paul Fechter: „Ach, ich kenne Shaws Talent schon lange. Ich weiß noch genau den Eindruck, den mir ‚Man and Superman‘ machten! Als ich später den ‚Erdgeist‘ sah, da wußte ich, daß das Shaws Geist war. Ich schrieb in diesem Sinne an Wedekind, und er hat mir’s nicht verziehen.“ [Raff 2015, S. 115] sein müßtest. (Nicht von dem genannten Stück sondern von Shaw überhaupt!) | Ist das so? Wie dem auch sei. Die Sache ist fein. Und wieder sehe ich daß man ein Theaterstück nicht beurteilen soll ohne es gespielt auf der Bühne gesehen zu haben.

Dem Dr. Schön aber mache meine besonderen Complimente denn das ist schon was Großartiges! Er erdrückt aber auch Alles mit seiner hohen Kunst und Feinheit! ‒ Neben ihm wirken die Anderen direct dillettantisch. | Der Einzige der Dir (im Prolog) ebenbürtig ist.
‒‒

Ich sende Dir hier ein HeftWilly Rudinoff hat dem Brief ein Heft der „Zeitschrift für bildende Kunst“ beigelegt, das einen autobiografischen Beitrag von ihm enthält [vgl. W. Rudinoff: Ein Selbstbekenntnis. In: Zeitschrift für bildende Kunst, Jg. 44, Neue Folge, Jg. 17 (1905/06), Heft 2, S. 43-46]; Wedekind ist darin nicht erwähnt. Der Beitrag in diesem Heft ist in der Presse gewürdigt worden: „Die Zeitschrift für bildende Kunst, die im Verlage von E. A. Seemann in Leipzig erscheint, ein sehr exklusives, wahrhaft vornehmes Organ, das nicht einem jeden neugeheckten Bruder seine Spalten erschließt, hat Rudinoff in ihrem letzten Hefte einen anerkennenden Aufsatz gewidmet und zwei seiner schönsten Original-Radierungen beigegeben, auch mehrere davon in verkleinernden Nachbildungen in den Text gedruckt. In diesem Hefte kommt Rudinoff auch selbst zu Worte, und wir lernen ihn als einen nachdenklichen, tiefernsten Menschen kennen, der seinen Ideen auch mit der Schreibfeder gewählten Ausdruck zu geben vermag.“ [Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung, Nr. 268, 23.11.1905, S. 1] „der Zeitschrift für bildende Kunst[“] und einige BerichteWilly Rudinoff hat dem Brief einige Besprechungen der Herbstausstellung 1905 der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens im Künstlerhaus (Karlsplatz 5) beigelegt, in der er mit einer ganzen Reihe von Werken, insbesondere Radierungen ausgestellt war; er wurde als Künstler sehr gelobt und man widmete ihm ausführliche Würdigungen [vgl. Neues Wiener Tagblatt, Jg. 39, Nr. 318, 17.11.1905, S. 2; Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung, Nr. 268, 23.11.1905, S. (1); Pester Lloyd, Jg. 52, Nr. 311, 16.12.1905, S. (2-3)]. Welche Presseartikel Wedekind zugesandt erhielt, ist nicht mit Sicherheit zu rekonstruieren. meiner Wiener Ausstellung.

Ich würde sehr gerne dein Portrait machen. Wäre das mal angängig? In Breslau habe ich im Kunstgewerbemuseum augenblicklich eine Ausstellung von 150 meiner Arbeiten. In der Secession | in München 4 meiner Arbeiten. Das Kupferstichcabinet in Wien hat soeben 4 meiner Radierungen angekauft was bei den BourgeoiesBourgeois (frz.) = Geldbürger, Angehöriger der Bourgeoisie. als sehr wichtig gilt, auch das Dresdner Königl. Cabinet hat den großen Guitarristen von mir gekauft und zwar auf der letzten Internationalen Graphischen AusstellungDie Internationale Graphische Ausstellung fand im Sommer 1905 im Sächsischen Kunstverein in Dresden (Brühlsche Terrasse) statt. im vorigen Jahr. Ich habe mir | jetzt eine ganz große Kupferdruck Maschiene für 1200 Mk gekauft und drucke nun alle Radierungen selbst. Auch

Ich beschäftige mich jetzt mit großer Freude auch mit der Skulptur und hoffe Dir bald etwas zeigen zu können davon.

Ich habe einen wandernden Barden, ganze Figur etwa 50 centimeter | hoch in Arbeit die so hoffe ich eine eigenartige Note zeigt. Auch ein überlebensgroßes Portraitrelief meines Gesanglehrer des Prof. Müller in Dresden geht seiner Vollendung entgegen.

Meine Stimme macht in letzter Zeit sehr große Fortschritte und hat an Ausgeglichenheit gewonnen. Ich denke aber daß ich | nicht damit in die Oeffentlichkeit treten werde. Die Sache mit der Stimme interi/e/ssirt mich für mich und ich habe so meine sinnliche Freuden an einem schönen Ton der aus meiner Kehle kommt. Ich studire jetzt den Lohengrin und zwar mit gutem Gelingen

Ich lege dir hier eine kleine RadierungDie mit Widmung versehene Radierung „Anita la Feria“ (exakte Maße der Platte: 6,3 x 9,1 cm), die dem Brief beilag, zeigt die spanische Tänzerin Anita de la Feria (Künstlername von Anita Reguera) von vier Gitarristen begleitet mit angedeutetem Publikum bei einem Auftritt im Pariser Theater Folie Marigny [vgl. Raff 2015, S. 202], wo sie im Sommer 1902 im Rahmen einer Tournee ein mehrwöchiges Gastspiel hatte; Premierenvorstellung der ‚lasziven‘ und ‚aufregend betörenden‘ „Anita de la Feria, la danseuse espagnole lascive et troublante“ [Le Figaro, Jg. 48, 3. Serie, Nr. 214, 2.8.1902, S. (1)] im Marigny (Avenue des Champs-Élysées), wie das Theater genannt wurde, war am 2.8.1902. Genannt wurde sie auch „Anita de la Feria, la belle Catalane“ [La Revue diplomatique, Jg. 24, Nr. 22, 2.6.1901, S. 10]. Sie ist in einem fiktiven Brief Willy Rudinoffs an Wedekind, den Willy Rudinoff seinem Brief an Artur Kutscher vom 23.5.1930 maschinenschriftlich beilegte, vielfach erwähnt [vgl. Raff 2015, S. 83-87]. bei für dich. Es ist die spanische Tänzerin Anita la Feria | mit welcher ich im Folies Marigny in Paris engagirt war.

Ferner die Zeitschrift für bildende Kunst mit einigen Radierungen von mirim beigelegten Heft der „Zeitschrift für bildende Kunst“ (siehe oben)..

Solltest du dich nun bald ehelich verbindenWedekind war mit Tilly Newes, die er am 29.5.1905 in Wien kennengelernt hatte, verlobt; er heiratete sie am 1.5.1906 in Berlin. so empfange Du sowohl wie Deine Gemahlin meine allerherzlichsten Glückwünsche.

Meine Frau grüßt dich und dankt sehr | für deine Wünsche.

Ich fange erst heute an meine Hochzeitsbriefe zu beantworten. Ich war vorher nicht in einer Stimmung für die Glückwünsche zu danken da mir meine Frau krank geworden war und zwar kurz nach der HochzeitWedekind hat eine Vermählungskarte erhalten [vgl. Willy Rudinoff, Ida Rudinoff an Wedekind, 29.7.1905].. | Jetzt sind wir aber beide in bester Gesundheit. Seit einigen Monaten bin ich nicht mehr Vegetarier. Als ich dich zuletzt in München sahWilly Rudinoff hatte im Herbst 1901 in München bei dem von Josef Vallé geleiteten Parodietheater Die Zwölf Scharfrichterinnen (eröffnet am 5.6.1901) und in dem von Henry Huline geleiteten Varieté Kil’s Kolosseum (Spielzeit in diesem Jahr bis 30.11.1901) gastiert [vgl. Raff 2015, S. 41] und dürfte Wedekind getroffen haben. war ich recht in einem neurasthenischen Zustand, ich bildete mir ein ich litte an einer todtbrin|genden Krankheit! Es war Alles nur Einbildung. Ich bin so gesund wie möglich und bin in der Ehe so glücklich und lebensfroh daß ich verstehe di da wie nur meine sexuelle Abstinenz und mangelhafte Befriedigung an meiner NeurasthenieNervenschwäche, um 1900 ein Modeleiden. Schuld war. Es lebe die Liebe und besonders die Meine!

Willy. |


Nachschrift.

I

Heute ist der erste Ostertagder 15.4.1906, Ostersonntag.! Ich stand um 7 Uhr früh auf; etwa um 10 Uhr kam Prof. Müller um zu seinem Portrait welches ich modellire zu sitzen. Das ging so bis etwa 11 30 Uhr. 30 Minuten. Die Wonnen die einem das Formen eines menschlichen Angesichtes verschafft sind so ganz besonderen Sachen zuzurechnen. Mein lieber Professor sagte mir neulich daß einer seiner SchülerDr. Alfred von Bary, Hofopernsänger in Dresden [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 354], zunächst Nervenarzt in Leipzig, sang vor der Generaldirektion der Dresdner Hofoper „Probe, wurde sofort engagiert und setzte auf Kosten der Intendanz seine Gesangsstudien bei Professor Dr. Richard Müller in Dresden noch eine Zeitlang fort. Am 2. November 1901 debütierte er als Lohengrin mit durchschlagendem Erfolge.“ [Bühne und Welt, Jg. 6, 2. Halbjahr (1904), S. 884] der jetzige Hofopernsänger v. Barry das Singen eines schönen [Zeichnung]ein auf eine Notenlinie eingezeichnetes a (Notenkopf und Notenhals), das im übernächsten Satz nochmals gezeichnet und im Anschluss daran verbalsprachlich benannt ist. mit den Genüssen eines CohitusVerballhornung oder Schreibversehen, statt: Coitus (lat.) = Geschlechtsverkehr. vergleicht. Wollust liegt, wenigstens so eine Art Wollust liegt wohl in jedem Schaffen. Um 1130 gingen wir ins Musikzimmer | und ich repetirte den ganzen dritten Act Lohengrin und das ist nicht so von Pappe. Meine Stimme macht sich jetzt. Meine Frau ist schon auf die hohen [Zeichnung] A’s eifersüchtig. Soweit gehts bei mir aber doch nicht. ‒ Ich habe wohl meine Freude an einem schönen Ton, ja so ein Ton hat sogar etwas Berauschendes aber sonst regt es mich weiter nicht auf. Der Nachmittag brachte mich im Luft und SonnenbadeFreikörperkultur in sogenannten Licht- und Luftbädern im Zuge der Lebensreform um 1900. wieder nackt zur Natur zurück. | In Berlin kann man sich das nicht so leicht leisten, wie? Meine Frau und ich also sind endlich mal Mensch oder besser Thier und freuen uns jedes Sonnenstrahls der unsere Haut trifft. ‒ In solchen Momenten findet man es höchst überflüssig daß ein Mensch Sensationen in einer radirten Linie, in einem schönen Ton oder im Kneten von Ton sucht. Sonne und ein warmes Menschenkind welches einem ganz zugetan ist, ‒ Sakrament, man ertappt sich da auf Süßlichkeiten | die komisch wirken dürften, wenn ich’s nicht so ehrlich meinte! ‒ Ueberhaupt die Cultur! Hast Du schon Australien gesehen? Nein? Also kennst du noch nicht viel von der Welt! ‒

Wenn man so aus der großen weiten Welt kommt weißt Du dann kommt einem der ganze Schwindel hier so verdammt lächerlich vor. Man hat vor rein gar nichts mehr Respect. Ich schenk dir die ganze deutsche Litteratur für 4 Wochen Wanderschaft im Australischen Urwald oder ein Küstenspaziergang in Neu Süd Wales. |


Nachschrift.

II

Und so ein Corroberie FestCorroboree (auch: Corroberie) = traditionelle Zeremonie der Aborigines in Australien, eine festliche Veranstaltung mit Tanz, Musik, Gesang und Körperbemalung. mit den Buschleuten in Queensland! Da pfeife ich auf die Bühnen und SubscriptionsbälleEröffnungsbälle. Berlins und die von Paris.

Ach die Würde! O über Eures Würde Ihr Menschen!

Da sollt ihr mal so einen Buschmann tanzen sehn!

Freuen? Wenn ihr Freude sehen wollt so wohnt einem Corroberie Fest bei!

Und agieren und Pantomime?

Da solltet Ihr meine Wilden sehn! |

Du begreifst wie mir da der Berliner „Jeist(berlinernd) Geist; hier verballhornend gemeint.“ vorkommen muß! Nicht wahr?

Ich habe es mir nie träumen lassen daß meine Productionen auf der Bühne mich noch so weit bringen würden. Ich erhielt im letzten Jahr 70 £ per Woche das macht 7000 Francs per Monat. Das ist unverschämt, ich weiß es.

Aber ich muß es wohl wert | gewesen sein! ‒ Ja sicher waren meine Leistungen noch mehr wert. Wenn man nämlich 70 Pfund per Woche bezahlt erhält ist man sicher 140 £ werth, erhält man aber nur 3 Mark pro Abend so ist das noch zu viel. ‒

Ressner hat dir wohl von meiner Landbebauungs PeriodeWilly Rudinoff hatte an der pommerschen Ostseekünste ein Anwesen in dem Dorf Järshagen erworben (das er dann bald wieder verkaufte), um dort als Landwirt und Gutsherr tätig zu sein [vgl. Raff 2015, S. 53]. Dort haben ihn Carl Rößler (Franz Ressner), Gustav und Julia Rickelt besucht [vgl. Rickelt 1930, S. 165]. in Pommern erzählt. Ich habe da viel Amüsantes | erlebt. Davon erzähle ich Dir mal persönlich Etwas.

Kommst Du mal wieder nach Dresden? ‒

Ich bitte dich flehentlich Grüße die ganzen Erdgeist Darsteller von mir denn sie haben sich große Verdienste erworben bei mir in meinem Herzen. Ich fand nämlich die Cultur durch dieses Stück wieder erträglich! Besonders aber den Dr. Schön! Das war Etwas!

Grüße mir auch die Lebensdilettanten der Berliner Bohême oder was sonst Dir Erfreuliches nahe tritt und giebt dir ein liebes Weib das süße Glück das ich genieße so soll sie gesegnet sein.
Willy. |


P.S.

Mir fällt noch ein, daß ich dir noch erklären wollte warum ich dich in Berlin nicht aufsuchteWilly Rudinoff dürfte zur Eröffnung einer Ausstellung seiner Werke in Berlin am 9.5.1905 – sie lief etwa zwei Wochen und war in der Presse angekündigt: „Eröffnung der Collectiv-Ausstellung der Werke des Malers und Radirers W. Rudinoff in Casper’s Kunstsalon, Behrenstrasse 17“ [Berliner Tageblatt, Jg. 34, Nr. 232, 8.5.1905, Montags-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (2)] – für einige Tage in der Stadt gewesen sein; Wedekind war vom 11. bis 13.5.1905 in Berlin [vgl. Tb]..

Ich dachte mir wenn so Jemand plötzlich eine Art Berühmtheit in Berlin wird, dann ist es gemeinhin Berliner Art, daß er von dem Kreise der ihn berühmt machte, ganz in Anspruch genommen wird.

Ich bin aber so selbstherrlicher Art und bin mir meines Wertes so sicher bewußt, daß ich so mediocremittelmäßige. Naturen wie sie sich in Berlin um die Großen des Tages drängen schwer auf die Dauer goutirenGeschmack an etwas finden. kann ohne gelangweilt zu werden. Meistens sind das doch Leute die mehr so eine Art Wiener oder literarisches Caféhaus-Glorie haben. Die Menschen haben kaum mehr von der Welt gesehen als das Café am Nachmittag und zur Nacht. In der Kunst ‒ haben sie gelesen und nicht gearbeitet. | Ihr Leben besteht aus Gemeinplätzen und sie sind zufrieden wenn Herr Cohn und Herr Schulzehier wohl im Sinn: Hinz und Kunz. „Cohn“ (der Name signalisiert jüdische Herkunft) und „Schultze“ (der Name gilt als typisch deutsch) waren stark verbreitete Nachnamen. es Ihnen schriftlich giebt daß sie etwas bedeuten. Die Luft in diesen ihren Versammlungsorten ist mir zu schlecht, ich bin von der großen herrlichen Natur bessere Luft gewöhnt und mehr Qualität im Geiste.

Dich mein lieber Frank genieße ich unter dem Gesindel nicht genügend, dich brauche ich allein in einem behaglichen deiner und meiner würdigen Raum, ein paar Leute von Werth am Ende noch aber auch die genieße ich lieber in ihren Büchern als in corpore. Alles Leute ohne Harmonie. | So eine Sp+++++ +++ reine Schauspielerei Corona(lat.) Krone; gemeint ist: Korona = fröhliche Runde (umgangssprachlich) oder Horde (abwertend). ist mir ekelhaft weil sie oder er gleich glaubten sie wären Götter, wenn ein Journalist der irgend einen Franzosen imitirt, Ihnen sagt: „der oder die war glänzend“ ‒ Ach wie bescheiden!

Spricht man sonst mit Ihnen so verstehen S sie von der Kunst genau soviel ‒ wie ‒ wie ‒ na wie diejenigen in Berlin, di be welche sich Künstler nennen und einen solchen markieren. ‒

Ich muß an die Abende denken die ich kurz vor meiner Reise nach Australien in ParisWilly Rudinoff hat im Herbst 1902 in Paris den Schriftsteller Anatole France (mit ihm verbrachte er vier Abende) und den Zeichner Théophile-Alexandre Steinlen (ihn hat er porträtiert) getroffen und freundete sich mit beiden an [vgl. Raff 2015, S. 45f.]. mit Anatole France und Steinlen verbracht habe um vor der Berliner Gesellschaft und entourage des grands hommes(frz.) im Gefolge großer Männer (Leute). den richtigen Respect zu haben. | Die Berliner „Entourage“ der „Erfolgreichen“ ist zu unharmonisch zu saudumm. ‒

Ich erinnere mich noch eines Abends in dem ich in deiner Gesellschaft in einer Weinkneipevermutlich die Münchner Künstlerkneipe Dichtelei (Türkenstraße 81) um 1890/91 [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 30.10.1890]; der Abend, den Wedekind im Beisein Willy Rudinoffs mit Otto Erich Hartleben, Conrad Ansorge und Max Halbe dort verbrachte, ist nicht ermittelt. war. Hartleben, Ansorge, Halbe u.s.w. Ich fand daß selbst diese Leute einen Menschen nicht nach dem beurteilen was er ist sondern was er ist scheint also einer vom Varieté, ein „SchnellmalerAnspielung auf Wedekinds Jugendstück „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon. Große tragikomische Originalcharakterposse in drei Aufzügen (1889), das der Verfasser Willy Rudinoff übergeben hat, wie dieser sich erinnerte: „Wedekind brachte mir eines Tages ein kleines gedrucktes Heftchen. Es war sein Drama ‚Der Schnellmaler‘. Mit tiefem Ernst sagte er zu mir: ‚Sie werden gewiß diesem Drama das Verständnis entgegenbringen, welches ich vom Publikum nicht erwarte.‘“ [Willy Wolf Rudinoff: Wedekind unter den Artisten. In: Der Querschnitt, Jg. 10, Heft 12, Ende Dezember 1930, S. 801-807, hier S. 805] also minderwertig unter uns Göttern, uns Dichtern. All diese Menschen sind nur so in so fern interessant als sie willkommenen Stoff für eine Posse bieten. Im Uebrigen aber soll man der Gesellschaft rathen ein Luftbad zu nehmen damit man s mal sieht was an Ihnen ist und damit sie besser riechen. ‒

Herzlichst
Seëif ben SamuelWilly Rudinoff hat mit diesem Namen auch früher schon unterzeichnet [vgl. Willy Rudinoff, Gustav Rickelt, Julia Rickelt, Lucia Rickelt an Wedekind, 8.10.1900]..


[Beilage: Radierung „Anita la Feria“ mit Widmung (Raff 2015, S. 202):]


WRudinoff

Mit frdl. Gruss an Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 22 Blatt, davon 44 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das zweite bis achte Doppelblatt des Hauptbriefs ist jeweils mit römischen Ziffern „II“ bis „VIII“ durchnummeriert (hier nicht wiedergegeben). Die beiden Nachschriften sind ebenfalls mit römischen Ziffern nummeriert (hier wiedergegeben). Das Postskriptum bildet den Abschluss des umfangreichen Briefes, der vier Beilagen hatte (zwei Theaterbillets, eine Radierung, ein ganzes Heft der „Zeitschrift für bildende Kunst“ sowie diverse Zeitungsausschnitte mit Kunstkritiken einer Ausstellung). Eine dieser Beilagen ist erschlossen, die im Brief erwähnte Radierung „Anita La Feria“ (6,5 x 9 cm, Privatbesitz); sie ist mit einer in Tinte ausgeführten Widmung versehen (hier wiedergegeben, als Korrespondenzstück [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 14.4.1906] zugleich einzeln ediert) und mit Bleistift signiert [vgl. Raff 2015, S. 202].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 14.4.1906 bis 16.4.1906 ist als Ankerdatum gesetzt. Das Schreibdatum der ersten Nachschrift ‒ 15.4.1905 ‒ geht aus deren Inhalt hervor („Heute ist der erste Ostertag“); der vorangehende Hauptbrief und die zweite Nachschrift sowie das Postskriptum dürften an den Tagen unmittelbar davor und danach geschrieben worden sein.

  • Schreibort

    Loschwitz
    14. April 1906 - 16. April 1906
    Ermittelt (unsicher) - Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Loschwitz
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Wilhelm Morgenstern alias Willi Rudinow. Graphiker, Varieté-Künstler, Opernsänger ‒ und Freund Frank Wedekinds (= Wedekind-Lektüren. Schriften der Frank Wedekind-Gesellschaft. Bd. 6).

Autor:
Thomas Raff
Verlag:
Würzburg: Königshausen & Neumann
Jahrgang:
2015
Seitenangabe:
101-107
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 147
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Willy Rudinoff an Frank Wedekind, 14.4.1906 - 16.4.1906. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

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In Bearbeitung
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Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

15.11.2024 15:13
Kennung: 2214

Loschwitz, 14. April 1906 - 16. April 1906, Brief

Autor*in

  • Rudinoff, Willy

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

LoschwitzKünstlerhaus


Lieber Frank!

Jetzt erst komme ich dazu dir auf deinen lieben Hochzeitsbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Willy Rudinoff, 1.8.1905. gebührend zu antworten. Ich hatte dir jedoch vor Monaten einen langen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Willy Rudinoffs an Wedekind, 1.9.1905 bis 1.12.1905. geschrieben den ich aber dann zu Schluß nicht absandte. ‒ Dieser Brief war so lang daß ein anderer Mensch gleich drei Buchkapitel hätte daraus machen können. In der That schrieb ich so lange | daran, daß sich, mit dem Eintritt vieler neuer Ereignisse, dieser Brief selbst überlebt hatte und nun zwecklos geworden war.

Dein Hochzeitsbrief hat mich also herzlich erfreut und ich habe für diese Freude gern den Gestank ertragen der auf dem Flur vor dem Eingang der Residenztheater-BühneIm Dresdner Residenztheater fand am 13.3.1906 ein „Ensemble-Gastspiel des Deutschen Theaters in Berlin“ [Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)] mit Wedekinds „Erdgeist“ unter der Leitung von Max Reinhardt statt. Beginn der Vorstellung war um 19.30 Uhr, Ende nach 22 Uhr. Wedekind hatte den Freund für ein Treffen vermutlich an den Bühneneingang bestellt und ihn dann möglicherweise versetzt. Er vermerkte am 13.3.1906 nach der „Erdgeist“-Vorstellung lediglich: „Nachher mit den Schauspielern und Walther Oschwald bei Kneist.“ [Tb] waltete als du mich dort auf dein Er|scheinen warten ließest. Es roch dort meistenteils nach menschlichem Urin, das ist nun etwas was ich schwer vertrage. Du weißt von meinem Pariser Engagementwohl Willy Rudinoffs Engagement 1892 im Cirque d’Hiver in Paris, bei dem er und Wedekind sich wiedergetroffen hatten [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 5.12.1892]. Rudinoff war dann wieder im Herbst 1902 in Paris engagiert [vgl. Raff 2015, S. 45-47]. ich bin Stallluft gewöhnt aber wie fein ist so eine Pferdestall Luft gegen die eklen Dünste der menschlichen Excremente! Oft mußte ich auch empfinden wie fein sind doch die Circus Menschen im Gegensatz zu den Bewohnern der menschlichen Ställe! Diese Gedanken schwirrten | mir so durch den Kopf als ich da draußen stand und wartete. Ich dachte mir, wäre Frank, der liebe Frank zu mir in den Circus gekommen hätte ich ihn wohl so lange stehen lassen? Oder hätte ich ihn nicht hereinrufen lassen? Aber das sind so Gedanken die mir gewiß nur kamen weil ich von meiner früheren Carrière her so ein wenig empfindlich, am Ende leicht verletzlich geworden bin. Da ich aber ein sogenannter brutaler Kerl | bin, so sage ich dir wie mir’s ums Herz war! Dein Frei BilletWilly Rudinoff hatte sich nach einem Billet erkundigt [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 12.3.1912], woraufhin ihm Wedekind offenbar zwei Freibillets hat zukommen lassen, wie der vorliegende Brief nahelegt; es dürften dem Brief insofern nicht nur eine, sondern zwei Theaterkarten beigelegen haben. Karten für die „Erdgeist“-Vorstellung am 13.3.1906 im Dresdner Residenztheater waren rar. „Das Haus war ausverkauft.“ [W.: Residenztheater. In: Dresdner Nachrichten, Nr. 72, 15.3.1906, S. (3)] habe ich nicht benutzt wie du wohl vernommen hast. Ich lege es dir hier zum Beweis wieder bei.

Erstens wollte ich nur einen Platz in von dir wenn durchaus kein Platz mehr an der Casse zu haben gewesen wäre.

Durch einen Zufall konnte ich für 10 Mk noch 2 Plätze kaufen die nicht abgeholt waren. Ferner wollte ich dich doch sehen und das wäre es wohl auch mit | deiner Anweisungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Willy Rudinoff, 13.12.1906., beim Anfang der Vorstellung Herrn Reinhardt aufzusuchen, nicht möglich gewesen.. Ich war also kreuzfröhlich mir das leisten zu können und stolz wie ein Spanier oder wie ein erstklassiger Artist setzte ich mich mit meinen russischen Juchtenstiefeln und meiner auch nicht gesellschaftlich aufgeputzten Ehefrau auf den | famosen Parketsitz. Einige meiner Nachbarn glaubten sicher ich hätte mir so hohe Stiefel angezogen weil ich eine so schlechte Meinung von der zu erwartenden Literatur hätte.

Ich belehrte selbige Leute aber, daß ich nur des schlechten Wetters wegen meine Russen anshabe.

So viel von meinen Beinen! Wie aber steht es um meine Hände? Ich wollte | ich hätte auch Juchtenhandschuhe angehabt, dauerhafte Handschuhe damit ich das KlappenKlatschen, applaudieren. etwas besser ertragen hätte! Am nächsten Tage nämlich waren meine Hände geschwollen wie die Hinterteile des Mantelpavians! Meine Stimme die ich in „Bravo Wedekind“ und „Hurrah Wedekind“ zu Schanden schrie war in einem schrecklichen Zustand. Prof. Dr. Müller mein GesangsmeisterProf. Dr. phil. Richard Müller, seit 1888 als Gesangslehrer und Stimmbildner in Dresden, seit 1890 am Königlichen Lehrerinnenseminar und an der Dresdner Musikschule als Seminaroberleiter, als der er sich nach wie vor bezeichnete, auch wenn er seit 1904 in Dresden (Fürstenstraße 69) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1906, Teil IV, S. 122] nur noch Privatunterricht erteilte, war ein renommierter Gesangslehrer und Stimmbildner. | verzweifelte an meinen hohen Tönen und meinte ein Tenor wie ich es bin dürfe überhaupt nicht „Bravo“ schreien sondern nur „Bravo“ singen. Du begreifst mit welcher Ehrlichkeit ich Bravo schreien durfte, hätte ich das Billet von Dir erhalten ich hätte mich genirt, das zu thun. Aber so?! Hatte ich nicht mein koscher(jidd.) rein (im Sinne der jüdischen Speisegesetze), einwandfrei. Geld dafür gezahlt? Aha! Also durfte ich reuelos applau|diren. Mit deinem Freibillet hätte ich die Empfindungen des bezahlten ClaqueursClaqueur (von frz. ‚claquer‘ = klatschen), jemand, der bezahlt wird, um Beifall zu klatschen. gehabt. ‒ Wenn ich aber bei der ersten Kammersänger VorstellungWilly Rudinoff hat die Uraufführung von Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ am 10.12.1899 im Rahmen der Eröffnungsmatinee der Sezessionsbühne am Neuen Theater in Berlin gesehen, die kein voller Erfolg war [vgl. KSA 4, S. 395-397]; sie fand statt, während Wedekind in der Festung Königsstein inhaftiert war. in Berlin in meiner Fremdenloge der einzige war der applaudirte so war ich hier nicht mehr allein. Ume mich herum aber saßen die Damenswohl persiflierend: Damen. Dresdens und ihre männlichen Beschützer | in schönem Kranz.

Fette, ekelhafte Tanten mit Rheumatismus in den Gelenken, Männer mit HabybärtenSchnurrbärte mit hochgezwirbelten Enden, wie Wilhelm II. einen trug, benannt nach dem Hoffriseur des Kaisers, François Haby. und andern mit würdigen grauen Gesichtsdekorationen die nach dem deutschen Professor rochen. Ringsrum aber verstreut wie die Capern in einem Beefsteak à la Tartarrohes Beefsteak, eine Art Carpaccio, das mit Kapern angemacht wurde. saßen und standen die Journalisten der Stadt, behaart, | bebrillt, angetan mit den Falten des heiligen Geistes auf ihren Stirnen. ‒ Es roch nur so nach Moral und Eau de PortugalHaarwasser.. ‒

Es war also ein erstklassiger Abend lieber Frank! Allererstklassig! Denn ich habe mich nicht gelangweilt und das will Alles sagen, welcher deutsche Dichter kann das von sich und mir sagen? | Es war sogar glänzend! Und wie hast du mich angenehm überrascht als Redner! Nein der Teufel! Das habe ich nicht geglaubt! Das war ja wirklich eine Leistung, eine NummerDer Prolog zum „Erdgeist“, in dem Wedekind bei dem Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am 13.3.1906 im Dresdner Residenztheater als Tierbändiger auftrat, ist auch von der Presse als eine Art Zirkusnummer wahrgenommen worden. „Mit einem ‚Prolog‘ wird der wunderliche Bühnenabend eröffnet. Der Dichter spricht ihn im Kostüm eines Zirkusdirektors, im roten Manege-Frack, die Peitsche in der Hand. Dieser Prolog ist das beste am ‚Erdgeist‘, ein Witz von kühnem Wurf und genialischer Frechheit, der die Bühne, das Stück, die Welt in verwegener Phantasie mit einer Menagerie vergleicht“ [W.: Residenztheater. In: Dresdner Nachrichten, Nr. 72, 15.3.1906, S. (3)]. „Im roten Frack, mit [...] schwarzen Stulpenstiefeln angetan“, mit einer „Reitpeitsche“ als „Tierbändiger“, ist Wedekind in der Rolle beschrieben und resümiert: „Hereinspaziert in den Zirkus Wedekind!“ [Julius Ferdinand Wollf: Der Fall Wedekind und der Fall Reinhardt. In: Dresdner Neueste Nachrichten, Jg. 14, Nr. 71, 16.3.1906, S. (1)] daran man sich auf dem Variété nicht zu schämen braucht! fein, intelligent und harmonisch abgestimmt. Also ‒ Artist 1ten Ranges! Weißt du dein Prolog war so gut daß er beinahe allen anderen | Nummern die nachher kamen geschadet hat. Schade daß du damit nicht wie ich nach Australien und AfrikaWilly Rudinoff hatte Wedekind aus Australien [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 10.9.1903] und Südafrika [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 26.10.1903] Bildpostkarten gesandt. reisen kannst die Länder verlohnen daß man dort gewesen ist! ‒ Nicht „man“ sondern ich und du!

Heil dir also Göttermensch, Du hast mir einen seeligen Abend bereitet; das bist Du auch den Menschen schuldig, Du der so viele | seelige Nächte genossen hast. Aber schau, deine Leistung war größer! Ich habe deinen Esprit genossen ohne geistige GetränkeWilly Rudinoff war „überzeugter [...] Antialkoholiker“ [Raff 2015, S. 55]. während du fast immer deren nötig hast, oder sollte vielleicht der Erdgeist aus einer Scholle gestiegen sein welche mit Burgunder gedüngtAnspielung darauf, Wedekind habe den „Erdgeist“ unter dem Einfluss von Rotwein geschrieben, also unter Alkoholeinfluss. wurde?

Mein liebes WeibWilly Rudinoff hat am 29.7.1905 in Dresden Ida Tachau, die aus Böhmen stammte, geheiratet [vgl. Raff 2015, S. 54] und Wedekind darüber informiert [vgl. Willy Rudinoff, Ida Rudinoff an Wedekind, 29.7.1905]., mein theures herziges Kameradlein hat mit mir die Sensationen dieses Abends | genossen und darauf kannst Du dir auch ’was einbilden. Zwei Menschen wie wir, le couple(frz.) das Paar. Rudinoff, von so alter Cultur und so viel Geschmack im Genießen die wollen schon was von einem Kommödianten. Uns, weißt du, imponirt so leicht nicht was.

Par exemple(frz.) Zum Beispiel.: Imponirt uns KlingerMax Klingers symbolistisches Werk war in Ausstellungen erfolgreich. nicht, Straussens Salome nicht (seine Lieder wohl) aber Wedekind und sein | Erdgeist hat uns nicht gelangweilt und war sein Geld wert.

Zur Aufführung hätte ich Einiges zu sagen. Als RegisseurRegisseur bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am 13.3.1906 im Dresdner Residenztheater war Max Reinhardt; es fand statt „unter Leitung des Herrn Direktors M. Reinhardt.“ [Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)] hätte ich darauf gedrungen daß der MalerDen Kunstmaler Schwarz spielte am 13.3.1906 bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am Dresdner Residenztheater Eduard von Winterstein [vgl. Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)]. sich mehr dem Styl der Sache anpaßt er war mir im ersten Akt allzusehr der alte jugendliche Liebhaber, ein Schmachtlappen dem man eine großzügige Geste nicht zutraut, zu süß im Ton. Also sein Spiel neben dem des Dr. SchönDie Rolle des Dr. Schön spielte am 13.3.1906 bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am Dresdner Residenztheater Albert Steinrück [vgl. Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)]. war wie ein Eis Baisergefrorener gezuckerter Eischnee (= Baiser) oder Eis mit Baiserhaube. neben Rostbraten. |

Ferner achte man darauf daß die gemalte Pierrot SkizzeDas im „Erdgeist“ vom Maler Schwarz gemalte Bild von Lulu als Pierrot ist vom 1. Akt an im Stück präsent. anständiger ist. Man spricht da in einem fort von einem Weib „en diable(frz.) furchtbar, unheimlich (von frz. ‚diable‘ = Teufel, Satan). Lulu wurde in Dresden als Femme fatale rezipiert, als weiblicher „Satan“ [Julius Ferdinand Wollf: Der Fall Wedekind und der Fall Reinhardt. In: Dresdner Neueste Nachrichten, Jg. 14, Nr. 71, 16.3.1906, S. (1)], wobei Gertrud Eysoldt in dieser Rolle nicht alle Kritiker überzeugte. So wurde über „Frl. Eysoldt als diabolische Lulu“ geschrieben: „es fehlt der Künstlerin für die überzeugende Verkörperung der schönen Teufelin denn doch zu sehr der äußere Charme, der Zauber der Persönlichkeit, der sich schließlich durch alle Pikanterie und Geschmeidigkeit nicht wett machen läßt.“ [W.: Residenztheater. In: Dresdner Nachrichten, Nr. 72, 15.3.1906, S. (3)]“ und findet auf dem Bilde einen ungeschickt, unfrei-gemaltes/n/ Kitsch von dem kein Mensch irgendwie künstlerisch oder sexuell begeistert wäre. Auf diese Leinwand muß ein ChèrêtJules Chéret, französischer Lithograf, Grafiker und Maler, war für eine moderne Bildgestaltung bekannt. in wenigen Strichen aber | in gekonnten Strichen. Ich finde das beleidigt den Kenner was da auf der Staffelei steht. SleevogtMax Slevogt war als Maler, Grafiker, Illustrator und Bühnenbildner äußerst produktiv und erfolgreich – „der viel umschwärmte moderne Abgott Slevogt“ [Berliner Börsenzeitung, Nr. 572, 7.12.1906, Morgen-Ausgabe, S. 7], „Slevogt, der heute zu unseren Besten zählt“ [K.: Die Ausstellung der Berliner Sezession. In: Berliner Volks-Zeitung, Jg. 54, Nr. 190, 25.4.1906, Morgenblatt, S. (1)], wurde über ihn geurteilt; er entwarf auch für Max Reinhardt Bühnenbilder und Kostüme. wird so Etwas in einer halben Stunde hinsetzen und es wird anständig sein.

Ferner trägt Frl EysoldtGertrud Eysoldt spielte am 13.3.1906 bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am Dresdner Residenztheater die Hauptrolle der Lulu [vgl. Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)]. im Tanz Act ein unmögliches Varietécostüm. Sie soll sich einmal die Fougère anschauen oder Guerrero. Ueberhaupt traut ihr das Alles kein Mensch | zu! Ja sähe sie aus wie die FougèreWedekind hatte die extravagante Varietékünstlerin Eugénie Fougère in Paris kennengelernt; er setzte ihr in der Szene I/4 seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895) ein Denkmal: „LULU Ich nahm Stunden bei Eugenie Fougère. Sie hat mich auch Kostüme kopieren lassen. SCHWARZ Wie sind denn die? LULU Grünes Spitzenröckchen bis zum Knie, ganz in Volants, dekolletirt natürlich, sehr dekolletirt und fürchterlich geschnürt. Hellgrüner Unterrock, dann immer heller. Schneeweiße Dessous mit handbreiten Spitzen“ [KSA 1/I, S. 332]. oder die Guererodie spanische Schauspielerin Maria Guerrero; ob Wedekind sie kannte, ist unklar.! besser noch ‒ wie die Fougère die ja aus einer ähnlichen Herkunft sein mag wie deine Loulou. ‒ Wie ich der Dresdner SalomeDie Oper „Salome“ von Richard Strauss nach Oscars Wildes gleichnamigem Stück wurde am 9.12.1905 an der Dresdner Hofoper uraufgeführt. Maria Wittich, die eigentlich einen Namen als Wagnersängerin hatte, sang und spielte die Titelrolle. (Wittich) nicht Ihren Einfluß auf Herodes glaube mit ihrem dummen blöden Tanzgethue, wie es einfach unmöglich erscheint daß Herodes ihr für den Tanz sein halbes Königreich verspricht | (am Varieté gäbe man ihr nicht 5 Mark pro Abend dafür) ebenso unglaubwürdig ist das Fräulein Eysoldt in ihren Bemühungen als SchlangendameIm Prolog zum „Erdgeist“ wird Lulu als „Schlange“ [KSA 3/I, S. 316] hereingetragen.. Nein ‒ für die erschießt sich ein einigermaßen potenter Kerl nicht und ein Dr. Schön geht nicht an ihr zu Grunde. Schau daß Du eine Fougère bekommst, mein Lieber! Auch der FürstDen Prinzen Escerny spielte am 13.3.1906 bei dem „Erdgeist“-Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters am Dresdner Residenztheater Heinrich Marlow [vgl. Dresdner Nachrichten, Nr. 70, 13.3,1906, S. (6)]. war in diesem Acte unmöglich eine comödiespielender Schmierenkerl. Er sah | jämmerlich aus und spielte ebenso unfrei wie der Maler.

Das Stück aber ist eins der lustigsten Dinge und zugleich eins der geistvollsten Dinge welche geschrieben wurden. Als ich in EnglandWilly Rudinoff hat 1901 Reisen durch England und Schottland unternommen [vgl. Raff 2015, S. 41-43]. die das T Stück von Shaw las: [„]Man and Superman“ da sagte ich mir unwillkürlich daß du von ihm beeinflußtWilly Rudinow schrieb am 11.10.1906 an Paul Fechter: „Ach, ich kenne Shaws Talent schon lange. Ich weiß noch genau den Eindruck, den mir ‚Man and Superman‘ machten! Als ich später den ‚Erdgeist‘ sah, da wußte ich, daß das Shaws Geist war. Ich schrieb in diesem Sinne an Wedekind, und er hat mir’s nicht verziehen.“ [Raff 2015, S. 115] sein müßtest. (Nicht von dem genannten Stück sondern von Shaw überhaupt!) | Ist das so? Wie dem auch sei. Die Sache ist fein. Und wieder sehe ich daß man ein Theaterstück nicht beurteilen soll ohne es gespielt auf der Bühne gesehen zu haben.

Dem Dr. Schön aber mache meine besonderen Complimente denn das ist schon was Großartiges! Er erdrückt aber auch Alles mit seiner hohen Kunst und Feinheit! ‒ Neben ihm wirken die Anderen direct dillettantisch. | Der Einzige der Dir (im Prolog) ebenbürtig ist.
‒‒

Ich sende Dir hier ein HeftWilly Rudinoff hat dem Brief ein Heft der „Zeitschrift für bildende Kunst“ beigelegt, das einen autobiografischen Beitrag von ihm enthält [vgl. W. Rudinoff: Ein Selbstbekenntnis. In: Zeitschrift für bildende Kunst, Jg. 44, Neue Folge, Jg. 17 (1905/06), Heft 2, S. 43-46]; Wedekind ist darin nicht erwähnt. Der Beitrag in diesem Heft ist in der Presse gewürdigt worden: „Die Zeitschrift für bildende Kunst, die im Verlage von E. A. Seemann in Leipzig erscheint, ein sehr exklusives, wahrhaft vornehmes Organ, das nicht einem jeden neugeheckten Bruder seine Spalten erschließt, hat Rudinoff in ihrem letzten Hefte einen anerkennenden Aufsatz gewidmet und zwei seiner schönsten Original-Radierungen beigegeben, auch mehrere davon in verkleinernden Nachbildungen in den Text gedruckt. In diesem Hefte kommt Rudinoff auch selbst zu Worte, und wir lernen ihn als einen nachdenklichen, tiefernsten Menschen kennen, der seinen Ideen auch mit der Schreibfeder gewählten Ausdruck zu geben vermag.“ [Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung, Nr. 268, 23.11.1905, S. 1] „der Zeitschrift für bildende Kunst[“] und einige BerichteWilly Rudinoff hat dem Brief einige Besprechungen der Herbstausstellung 1905 der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens im Künstlerhaus (Karlsplatz 5) beigelegt, in der er mit einer ganzen Reihe von Werken, insbesondere Radierungen ausgestellt war; er wurde als Künstler sehr gelobt und man widmete ihm ausführliche Würdigungen [vgl. Neues Wiener Tagblatt, Jg. 39, Nr. 318, 17.11.1905, S. 2; Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung, Nr. 268, 23.11.1905, S. (1); Pester Lloyd, Jg. 52, Nr. 311, 16.12.1905, S. (2-3)]. Welche Presseartikel Wedekind zugesandt erhielt, ist nicht mit Sicherheit zu rekonstruieren. meiner Wiener Ausstellung.

Ich würde sehr gerne dein Portrait machen. Wäre das mal angängig? In Breslau habe ich im Kunstgewerbemuseum augenblicklich eine Ausstellung von 150 meiner Arbeiten. In der Secession | in München 4 meiner Arbeiten. Das Kupferstichcabinet in Wien hat soeben 4 meiner Radierungen angekauft was bei den BourgeoiesBourgeois (frz.) = Geldbürger, Angehöriger der Bourgeoisie. als sehr wichtig gilt, auch das Dresdner Königl. Cabinet hat den großen Guitarristen von mir gekauft und zwar auf der letzten Internationalen Graphischen AusstellungDie Internationale Graphische Ausstellung fand im Sommer 1905 im Sächsischen Kunstverein in Dresden (Brühlsche Terrasse) statt. im vorigen Jahr. Ich habe mir | jetzt eine ganz große Kupferdruck Maschiene für 1200 Mk gekauft und drucke nun alle Radierungen selbst. Auch

Ich beschäftige mich jetzt mit großer Freude auch mit der Skulptur und hoffe Dir bald etwas zeigen zu können davon.

Ich habe einen wandernden Barden, ganze Figur etwa 50 centimeter | hoch in Arbeit die so hoffe ich eine eigenartige Note zeigt. Auch ein überlebensgroßes Portraitrelief meines Gesanglehrer des Prof. Müller in Dresden geht seiner Vollendung entgegen.

Meine Stimme macht in letzter Zeit sehr große Fortschritte und hat an Ausgeglichenheit gewonnen. Ich denke aber daß ich | nicht damit in die Oeffentlichkeit treten werde. Die Sache mit der Stimme interi/e/ssirt mich für mich und ich habe so meine sinnliche Freuden an einem schönen Ton der aus meiner Kehle kommt. Ich studire jetzt den Lohengrin und zwar mit gutem Gelingen

Ich lege dir hier eine kleine RadierungDie mit Widmung versehene Radierung „Anita la Feria“ (exakte Maße der Platte: 6,3 x 9,1 cm), die dem Brief beilag, zeigt die spanische Tänzerin Anita de la Feria (Künstlername von Anita Reguera) von vier Gitarristen begleitet mit angedeutetem Publikum bei einem Auftritt im Pariser Theater Folie Marigny [vgl. Raff 2015, S. 202], wo sie im Sommer 1902 im Rahmen einer Tournee ein mehrwöchiges Gastspiel hatte; Premierenvorstellung der ‚lasziven‘ und ‚aufregend betörenden‘ „Anita de la Feria, la danseuse espagnole lascive et troublante“ [Le Figaro, Jg. 48, 3. Serie, Nr. 214, 2.8.1902, S. (1)] im Marigny (Avenue des Champs-Élysées), wie das Theater genannt wurde, war am 2.8.1902. Genannt wurde sie auch „Anita de la Feria, la belle Catalane“ [La Revue diplomatique, Jg. 24, Nr. 22, 2.6.1901, S. 10]. Sie ist in einem fiktiven Brief Willy Rudinoffs an Wedekind, den Willy Rudinoff seinem Brief an Artur Kutscher vom 23.5.1930 maschinenschriftlich beilegte, vielfach erwähnt [vgl. Raff 2015, S. 83-87]. bei für dich. Es ist die spanische Tänzerin Anita la Feria | mit welcher ich im Folies Marigny in Paris engagirt war.

Ferner die Zeitschrift für bildende Kunst mit einigen Radierungen von mirim beigelegten Heft der „Zeitschrift für bildende Kunst“ (siehe oben)..

Solltest du dich nun bald ehelich verbindenWedekind war mit Tilly Newes, die er am 29.5.1905 in Wien kennengelernt hatte, verlobt; er heiratete sie am 1.5.1906 in Berlin. so empfange Du sowohl wie Deine Gemahlin meine allerherzlichsten Glückwünsche.

Meine Frau grüßt dich und dankt sehr | für deine Wünsche.

Ich fange erst heute an meine Hochzeitsbriefe zu beantworten. Ich war vorher nicht in einer Stimmung für die Glückwünsche zu danken da mir meine Frau krank geworden war und zwar kurz nach der HochzeitWedekind hat eine Vermählungskarte erhalten [vgl. Willy Rudinoff, Ida Rudinoff an Wedekind, 29.7.1905].. | Jetzt sind wir aber beide in bester Gesundheit. Seit einigen Monaten bin ich nicht mehr Vegetarier. Als ich dich zuletzt in München sahWilly Rudinoff hatte im Herbst 1901 in München bei dem von Josef Vallé geleiteten Parodietheater Die Zwölf Scharfrichterinnen (eröffnet am 5.6.1901) und in dem von Henry Huline geleiteten Varieté Kil’s Kolosseum (Spielzeit in diesem Jahr bis 30.11.1901) gastiert [vgl. Raff 2015, S. 41] und dürfte Wedekind getroffen haben. war ich recht in einem neurasthenischen Zustand, ich bildete mir ein ich litte an einer todtbrin|genden Krankheit! Es war Alles nur Einbildung. Ich bin so gesund wie möglich und bin in der Ehe so glücklich und lebensfroh daß ich verstehe di da wie nur meine sexuelle Abstinenz und mangelhafte Befriedigung an meiner NeurasthenieNervenschwäche, um 1900 ein Modeleiden. Schuld war. Es lebe die Liebe und besonders die Meine!

Willy. |


Nachschrift.

I

Heute ist der erste Ostertagder 15.4.1906, Ostersonntag.! Ich stand um 7 Uhr früh auf; etwa um 10 Uhr kam Prof. Müller um zu seinem Portrait welches ich modellire zu sitzen. Das ging so bis etwa 11 30 Uhr. 30 Minuten. Die Wonnen die einem das Formen eines menschlichen Angesichtes verschafft sind so ganz besonderen Sachen zuzurechnen. Mein lieber Professor sagte mir neulich daß einer seiner SchülerDr. Alfred von Bary, Hofopernsänger in Dresden [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 354], zunächst Nervenarzt in Leipzig, sang vor der Generaldirektion der Dresdner Hofoper „Probe, wurde sofort engagiert und setzte auf Kosten der Intendanz seine Gesangsstudien bei Professor Dr. Richard Müller in Dresden noch eine Zeitlang fort. Am 2. November 1901 debütierte er als Lohengrin mit durchschlagendem Erfolge.“ [Bühne und Welt, Jg. 6, 2. Halbjahr (1904), S. 884] der jetzige Hofopernsänger v. Barry das Singen eines schönen [Zeichnung]ein auf eine Notenlinie eingezeichnetes a (Notenkopf und Notenhals), das im übernächsten Satz nochmals gezeichnet und im Anschluss daran verbalsprachlich benannt ist. mit den Genüssen eines CohitusVerballhornung oder Schreibversehen, statt: Coitus (lat.) = Geschlechtsverkehr. vergleicht. Wollust liegt, wenigstens so eine Art Wollust liegt wohl in jedem Schaffen. Um 1130 gingen wir ins Musikzimmer | und ich repetirte den ganzen dritten Act Lohengrin und das ist nicht so von Pappe. Meine Stimme macht sich jetzt. Meine Frau ist schon auf die hohen [Zeichnung] A’s eifersüchtig. Soweit gehts bei mir aber doch nicht. ‒ Ich habe wohl meine Freude an einem schönen Ton, ja so ein Ton hat sogar etwas Berauschendes aber sonst regt es mich weiter nicht auf. Der Nachmittag brachte mich im Luft und SonnenbadeFreikörperkultur in sogenannten Licht- und Luftbädern im Zuge der Lebensreform um 1900. wieder nackt zur Natur zurück. | In Berlin kann man sich das nicht so leicht leisten, wie? Meine Frau und ich also sind endlich mal Mensch oder besser Thier und freuen uns jedes Sonnenstrahls der unsere Haut trifft. ‒ In solchen Momenten findet man es höchst überflüssig daß ein Mensch Sensationen in einer radirten Linie, in einem schönen Ton oder im Kneten von Ton sucht. Sonne und ein warmes Menschenkind welches einem ganz zugetan ist, ‒ Sakrament, man ertappt sich da auf Süßlichkeiten | die komisch wirken dürften, wenn ich’s nicht so ehrlich meinte! ‒ Ueberhaupt die Cultur! Hast Du schon Australien gesehen? Nein? Also kennst du noch nicht viel von der Welt! ‒

Wenn man so aus der großen weiten Welt kommt weißt Du dann kommt einem der ganze Schwindel hier so verdammt lächerlich vor. Man hat vor rein gar nichts mehr Respect. Ich schenk dir die ganze deutsche Litteratur für 4 Wochen Wanderschaft im Australischen Urwald oder ein Küstenspaziergang in Neu Süd Wales. |


Nachschrift.

II

Und so ein Corroberie FestCorroboree (auch: Corroberie) = traditionelle Zeremonie der Aborigines in Australien, eine festliche Veranstaltung mit Tanz, Musik, Gesang und Körperbemalung. mit den Buschleuten in Queensland! Da pfeife ich auf die Bühnen und SubscriptionsbälleEröffnungsbälle. Berlins und die von Paris.

Ach die Würde! O über Eures Würde Ihr Menschen!

Da sollt ihr mal so einen Buschmann tanzen sehn!

Freuen? Wenn ihr Freude sehen wollt so wohnt einem Corroberie Fest bei!

Und agieren und Pantomime?

Da solltet Ihr meine Wilden sehn! |

Du begreifst wie mir da der Berliner „Jeist(berlinernd) Geist; hier verballhornend gemeint.“ vorkommen muß! Nicht wahr?

Ich habe es mir nie träumen lassen daß meine Productionen auf der Bühne mich noch so weit bringen würden. Ich erhielt im letzten Jahr 70 £ per Woche das macht 7000 Francs per Monat. Das ist unverschämt, ich weiß es.

Aber ich muß es wohl wert | gewesen sein! ‒ Ja sicher waren meine Leistungen noch mehr wert. Wenn man nämlich 70 Pfund per Woche bezahlt erhält ist man sicher 140 £ werth, erhält man aber nur 3 Mark pro Abend so ist das noch zu viel. ‒

Ressner hat dir wohl von meiner Landbebauungs PeriodeWilly Rudinoff hatte an der pommerschen Ostseekünste ein Anwesen in dem Dorf Järshagen erworben (das er dann bald wieder verkaufte), um dort als Landwirt und Gutsherr tätig zu sein [vgl. Raff 2015, S. 53]. Dort haben ihn Carl Rößler (Franz Ressner), Gustav und Julia Rickelt besucht [vgl. Rickelt 1930, S. 165]. in Pommern erzählt. Ich habe da viel Amüsantes | erlebt. Davon erzähle ich Dir mal persönlich Etwas.

Kommst Du mal wieder nach Dresden? ‒

Ich bitte dich flehentlich Grüße die ganzen Erdgeist Darsteller von mir denn sie haben sich große Verdienste erworben bei mir in meinem Herzen. Ich fand nämlich die Cultur durch dieses Stück wieder erträglich! Besonders aber den Dr. Schön! Das war Etwas!

Grüße mir auch die Lebensdilettanten der Berliner Bohême oder was sonst Dir Erfreuliches nahe tritt und giebt dir ein liebes Weib das süße Glück das ich genieße so soll sie gesegnet sein.
Willy. |


P.S.

Mir fällt noch ein, daß ich dir noch erklären wollte warum ich dich in Berlin nicht aufsuchteWilly Rudinoff dürfte zur Eröffnung einer Ausstellung seiner Werke in Berlin am 9.5.1905 – sie lief etwa zwei Wochen und war in der Presse angekündigt: „Eröffnung der Collectiv-Ausstellung der Werke des Malers und Radirers W. Rudinoff in Casper’s Kunstsalon, Behrenstrasse 17“ [Berliner Tageblatt, Jg. 34, Nr. 232, 8.5.1905, Montags-Ausgabe, 1. Beiblatt, S. (2)] – für einige Tage in der Stadt gewesen sein; Wedekind war vom 11. bis 13.5.1905 in Berlin [vgl. Tb]..

Ich dachte mir wenn so Jemand plötzlich eine Art Berühmtheit in Berlin wird, dann ist es gemeinhin Berliner Art, daß er von dem Kreise der ihn berühmt machte, ganz in Anspruch genommen wird.

Ich bin aber so selbstherrlicher Art und bin mir meines Wertes so sicher bewußt, daß ich so mediocremittelmäßige. Naturen wie sie sich in Berlin um die Großen des Tages drängen schwer auf die Dauer goutirenGeschmack an etwas finden. kann ohne gelangweilt zu werden. Meistens sind das doch Leute die mehr so eine Art Wiener oder literarisches Caféhaus-Glorie haben. Die Menschen haben kaum mehr von der Welt gesehen als das Café am Nachmittag und zur Nacht. In der Kunst ‒ haben sie gelesen und nicht gearbeitet. | Ihr Leben besteht aus Gemeinplätzen und sie sind zufrieden wenn Herr Cohn und Herr Schulzehier wohl im Sinn: Hinz und Kunz. „Cohn“ (der Name signalisiert jüdische Herkunft) und „Schultze“ (der Name gilt als typisch deutsch) waren stark verbreitete Nachnamen. es Ihnen schriftlich giebt daß sie etwas bedeuten. Die Luft in diesen ihren Versammlungsorten ist mir zu schlecht, ich bin von der großen herrlichen Natur bessere Luft gewöhnt und mehr Qualität im Geiste.

Dich mein lieber Frank genieße ich unter dem Gesindel nicht genügend, dich brauche ich allein in einem behaglichen deiner und meiner würdigen Raum, ein paar Leute von Werth am Ende noch aber auch die genieße ich lieber in ihren Büchern als in corpore. Alles Leute ohne Harmonie. | So eine Sp+++++ +++ reine Schauspielerei Corona(lat.) Krone; gemeint ist: Korona = fröhliche Runde (umgangssprachlich) oder Horde (abwertend). ist mir ekelhaft weil sie oder er gleich glaubten sie wären Götter, wenn ein Journalist der irgend einen Franzosen imitirt, Ihnen sagt: „der oder die war glänzend“ ‒ Ach wie bescheiden!

Spricht man sonst mit Ihnen so verstehen S sie von der Kunst genau soviel ‒ wie ‒ wie ‒ na wie diejenigen in Berlin, di be welche sich Künstler nennen und einen solchen markieren. ‒

Ich muß an die Abende denken die ich kurz vor meiner Reise nach Australien in ParisWilly Rudinoff hat im Herbst 1902 in Paris den Schriftsteller Anatole France (mit ihm verbrachte er vier Abende) und den Zeichner Théophile-Alexandre Steinlen (ihn hat er porträtiert) getroffen und freundete sich mit beiden an [vgl. Raff 2015, S. 45f.]. mit Anatole France und Steinlen verbracht habe um vor der Berliner Gesellschaft und entourage des grands hommes(frz.) im Gefolge großer Männer (Leute). den richtigen Respect zu haben. | Die Berliner „Entourage“ der „Erfolgreichen“ ist zu unharmonisch zu saudumm. ‒

Ich erinnere mich noch eines Abends in dem ich in deiner Gesellschaft in einer Weinkneipevermutlich die Münchner Künstlerkneipe Dichtelei (Türkenstraße 81) um 1890/91 [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 30.10.1890]; der Abend, den Wedekind im Beisein Willy Rudinoffs mit Otto Erich Hartleben, Conrad Ansorge und Max Halbe dort verbrachte, ist nicht ermittelt. war. Hartleben, Ansorge, Halbe u.s.w. Ich fand daß selbst diese Leute einen Menschen nicht nach dem beurteilen was er ist sondern was er ist scheint also einer vom Varieté, ein „SchnellmalerAnspielung auf Wedekinds Jugendstück „Der Schnellmaler oder Kunst und Mammon. Große tragikomische Originalcharakterposse in drei Aufzügen (1889), das der Verfasser Willy Rudinoff übergeben hat, wie dieser sich erinnerte: „Wedekind brachte mir eines Tages ein kleines gedrucktes Heftchen. Es war sein Drama ‚Der Schnellmaler‘. Mit tiefem Ernst sagte er zu mir: ‚Sie werden gewiß diesem Drama das Verständnis entgegenbringen, welches ich vom Publikum nicht erwarte.‘“ [Willy Wolf Rudinoff: Wedekind unter den Artisten. In: Der Querschnitt, Jg. 10, Heft 12, Ende Dezember 1930, S. 801-807, hier S. 805] also minderwertig unter uns Göttern, uns Dichtern. All diese Menschen sind nur so in so fern interessant als sie willkommenen Stoff für eine Posse bieten. Im Uebrigen aber soll man der Gesellschaft rathen ein Luftbad zu nehmen damit man s mal sieht was an Ihnen ist und damit sie besser riechen. ‒

Herzlichst
Seëif ben SamuelWilly Rudinoff hat mit diesem Namen auch früher schon unterzeichnet [vgl. Willy Rudinoff, Gustav Rickelt, Julia Rickelt, Lucia Rickelt an Wedekind, 8.10.1900]..


[Beilage: Radierung „Anita la Feria“ mit Widmung (Raff 2015, S. 202):]


WRudinoff

Mit frdl. Gruss an Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 22 Blatt, davon 44 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das zweite bis achte Doppelblatt des Hauptbriefs ist jeweils mit römischen Ziffern „II“ bis „VIII“ durchnummeriert (hier nicht wiedergegeben). Die beiden Nachschriften sind ebenfalls mit römischen Ziffern nummeriert (hier wiedergegeben). Das Postskriptum bildet den Abschluss des umfangreichen Briefes, der vier Beilagen hatte (zwei Theaterbillets, eine Radierung, ein ganzes Heft der „Zeitschrift für bildende Kunst“ sowie diverse Zeitungsausschnitte mit Kunstkritiken einer Ausstellung). Eine dieser Beilagen ist erschlossen, die im Brief erwähnte Radierung „Anita La Feria“ (6,5 x 9 cm, Privatbesitz); sie ist mit einer in Tinte ausgeführten Widmung versehen (hier wiedergegeben, als Korrespondenzstück [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 14.4.1906] zugleich einzeln ediert) und mit Bleistift signiert [vgl. Raff 2015, S. 202].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 14.4.1906 bis 16.4.1906 ist als Ankerdatum gesetzt. Das Schreibdatum der ersten Nachschrift ‒ 15.4.1905 ‒ geht aus deren Inhalt hervor („Heute ist der erste Ostertag“); der vorangehende Hauptbrief und die zweite Nachschrift sowie das Postskriptum dürften an den Tagen unmittelbar davor und danach geschrieben worden sein.

  • Schreibort

    Loschwitz
    14. April 1906 - 16. April 1906
    Ermittelt (unsicher) - Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Loschwitz
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Wilhelm Morgenstern alias Willi Rudinow. Graphiker, Varieté-Künstler, Opernsänger ‒ und Freund Frank Wedekinds (= Wedekind-Lektüren. Schriften der Frank Wedekind-Gesellschaft. Bd. 6).

Autor:
Thomas Raff
Verlag:
Würzburg: Königshausen & Neumann
Jahrgang:
2015
Seitenangabe:
101-107
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 147
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Willy Rudinoff an Frank Wedekind, 14.4.1906 - 16.4.1906. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

15.11.2024 15:13