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Kennung: 2195

Lenzburg, 24. September 1881 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Vögtlin, Adolf

Inhalt

Lenzburg, IX.1881.


Lieber Freund!

Du kannst Dir leicht denken, welche Ueberraschung Dein lieber BriefAdolf Vögtlin an Wedekind, 23.9.1881. in meiner herbstlich-trübenDie Zeitungen meldeten noch für den 23.9.1881 eine „Fortdauer des unbeständigen Wetters mit zweitweisen Regenschauern“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 225, 23.9.1881, S. (3)], ab dem 24.9.1881 wurde eine „[a]llmälige Aufheiterung mit zunehmender Temperatur“ angekündigt [ebd., Nr. 226, 24.9.1881, S. (3)], die sich in den folgenden Tagen stabilisierte [vgl. ebd., Nr. 228, 27.9.1881, S. (3)]. Einsamkeit hervorgebracht hat. Ich will mich nun auch bemühen, ausführlich auf Dein Schreiben zu antworten, was mir umso leichter wird, da Freundschaft und das Feuer der Ueberzeugung meine Feder begeistern. Meine Gesundheit ist, Dank der lieben Pflege meiner Eltern und Geschwister, leidlich wiederhergestellt; ich litt nämlich an einer akuten Rippenfellentzündung, die mich 5 Wochenetwa zwischen 17.8.1881 und 21.9.1881. Spätestens am 18.8.1881 ‒ einen Tag für den Postweg von Lenzburg nach Aarau gerechnet – hatte Armin Wedekind Oskar Schibler von der Erkrankung unterrichtet, wie aus dessen Antwort hervorgeht: „Du wirst begreifen, dass mich deine in aller Kürze abgefasste Karte sehr erschreckt hat. Ich bitte dich desshalb mir so bald als möglich eine genauere u bestimmte Beschreibung von Franklins Zustand zukommen zu lassen. Denn ich könnte nicht ruhig sein wenn ich meinen Franklin in wirklich ernster Gefahr schwebend wüsste.“ [Oskar Schibler an Armin Wedekind, 19.8.1881 in: Münchner Stadtbibliothek / Monacensia. Nachlass Frank Wedekind. FW B 156] lang ans Bett fesselte. Nun bin ich wieder auferstanden und sehne mich nach dem Augenblick, mit Dir, l. Freund, zusammenzukommen. Näch|sten Freitagder 30.9.1881. ist Maturitätswixein festlicher Umtrunk (Kommers), den die Abiturienten der Gewerbeschule am Abend der Zeugnisübergabe mit den anderen Schülern der Kantonsschule Aarau feierten. in Aarau. Es wäre nun möglich, daß Du mich schon dort, im Fall das Wetter schön ist, treffen würdest, da ich voraussetze, Du werdest diesen Moment nicht versäumen, die alma mater(lat.) die segensreiche=nährende Mutter; Synonym für die höhere Schule oder Universität, hier die Kantonsschule Aarau. wieder einmal zu besuchen.

Deine welsche(schweiz.) die französischsprachigen Schweizer. Kameradschaft hat mich nach einiger, bald überwundener Eifersucht herzlich gefreut, wie auch Dein beneidenswerthes Glück im MilitärdienstVögtlin war zur Beförderung (Avancement) vorgeschlagen worden.. Nun muß ich aber notwendig wieder auf meinen Egoismus zurückkommenDer für Wedekind signifikante Egoismus-Diskurs [vgl. KSA 2, S. 820, 839f.] durchzieht die Korrespondenz mit Adolf Vögtlin. auf die Gefahr hin, dir dadurch langweilig zu werden, aber du darfst nicht glauben, daß ich nicht für meine Worte stehe, solange sie noch zu verteidigen sind.

Wie Du recht vermutet hast, so habe ich mich allerdings in meinem letzten BriefeWedekind an Adolf Vögtlin, 10.8.1881. unklar ausgedrückt und unsere Begriffe stimmen auch nicht so ganz überein. Aber ungeachtet dessen, daß unsere Ideen über Mensch und Gott himmelweit auseinandergehen, will ich es mit Deiner Erlaubnis jetzt noch einmal versuchen, Dich von der Richtigkeit meiner Anschauung zu überzeugen. – Zuerst über Gewissen und Gefühl: Du sagst in Betreff einer Handlung gemäß der Gewissensvorschrift: „Er handelt dabei nicht eigenmächtig; das Gewissen befiehlt ihm die Handlung: er muß“. Nun sagt aber Lessing: „Kein Mensch muß müssenZitat aus Lessings „Nathan der Weise“ (1779) I/3.“. Schiller sagt: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei.Zitat aus Schillers Gedicht „Die Worte des Glaubens“ (1797).“ Und ich habe schon so häufig die Vorschriften des Gewissens übertreten, daß ich Dir versichern kann, daß hier von einem Müssen nicht die Rede ist. Nun höre aber meine Idee darüber. Bei näherer Untersuchung fand ich keinen wesentlichen Unterschied zwischen Gefühl und Gewissen, wie man auch letzteres oft das Pflichtgefühl nennt. Da nun aber Gewissen und Gefühl bei den ver|schiedenen Völkern, bei verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten so ganz verschieden sind*Fußnote, im Druck mit Asteriskos (*) am Seitenende, hier am Ende des Briefes eingefügt., so zweifelte ich, zumal ich ohnehin schon längst Atheist bin, an ihrem göttlichen Ursprung, und leitete sie vielmehr aus der Erziehung und dem Umgang mit Menschen überhaupt ab. Mein Atheismus mag Dich nun allerdings frappieren. Aber ich kann Dich versichern, daß erst treffende Gründe ihn mir aufgedrungen haben. Nun wieder zum Egoismus zurück! Du klagst schon über den Ausdruck, wie fade und nichtssagend er sei. Wenn ich Dir nun aber beweise, daß alle schönen, großen Thaten aus Egoismus entspringen, so fällt diese Klage weg. Denken wir uns nun eine Feuersbrunst, wo viele Menschen unter eigener Lebensgefahr ihre Mitmenschen retten. Gläubige Christen, die unter den Rettern sind, helfen in Aussicht auf einstige Belohnung im Himmelreich, denn: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangenZitat aus Matthäus 5,7.“. (Egoismus) Du sagst, es gäbe auch solche, die gar nicht nachdenken, sondern „aus Instinkt“ helfen. Abgesehen davon, daß ich an der Anwesenheit des Instinktes bei reiferen Menschen zweifle, ist eine That aus Instinkt dem Thäter doch in keiner Weise anzurechnen. Ich nehme nun aber an, daß die meisten der Retter aus wahrem Mitleid retten. Ist nun dieses Mitleid schwach, so magst Du es einfach Gefühl nennen, tritt es dagegen stark auf, so wird es dringender, es wird zum Pflichtgefühl, zum „Gewissen“. Immerhin | ist dies Mitleid dem Retter noch in keiner Weise als lobens- oder tadelnswert anzurechnen. Es ist ein Leiden, das unwillkürlich im Menschen entsteht, sobald ihm ein fremdes Leiden kund wird. Weißt Du nun noch einen andern Grund, außer dem Mitleid, der die Retter zu der edlen Handlung bewegt? – Ich weiß keinen. Wenn aber der Mensch ein Leiden spürt, so ist sein erster Gedanke, dasselbe zu beseitigen, weil er sich selbst liebt. So beseitigen die Retter ihr Mitleid, denn es wüchse sonst mit jedem Augenblick. Ist das nicht Egoismus? – Was? – Aber, zu was wird hier der Egoismus? Zur Stütze der menschlichen Gesellschaft, zur Quelle aller schönen Thaten. Vielleicht bist Du, von diesem Beweise überzeugt, vielleicht auch nicht. Ich hoffe das erstere. Immerhin wirst Du aber sagen, daß auf diese Weise jede Moral umgestoßen sei. Ich aber behaupte das Gegentheil:

Der Mensch kommt mit mancherlei Gaben auf die Welt. Schon bei kleinen Kindern bemerkt man, daß das Eine gerne, das Andere ungern gibt, daß das Eine barmherzig, das andere gefühllos ist. Niemand macht den Kindern daraus einen Vorwurf oder ein Verdienst. Man sucht ihnen höchstens dies abzugewöhnen, jenes beizubringen. In vielen Fällen bleibt aber auch die Erfüllung dieser Pflicht aus und die Anlagen entwickeln sich ungestört. Bis jetzt sind die Kinder noch unverantwortlich. Bald treten sie aber als Glieder der Menschengesellschaft ins Leben hinaus und da heißt es gleich: Der ist gut, Jener schlecht; Der freigebig, Jener geizig. Die Schlechten und Geizigen werden zu Egoisten qualifizirt und der Haß und Fluch der Welt lastet auf ihnen. Fragen wir nun, welche glücklicher sind, die Gehaßten oder die Geliebten? Ich denke | doch, die letzteren genießen ein schöneres Dasein. – – Unwürdige Menschheit, wo bleibt Dein Verstand? Einen Blindgeborenen bemitleidest Du seines körperlichen Gebrechens wegen und den Geizhals verdammst Du wegen eines geistigen! Ist das Deine Barmherzigkeit, Deine Nächstenliebe? – Jene Unglücklichen scheltet Ihr Egoisten! – Seid Ihr besser als sie, Ihr Heiligen unter den Menschen? – Laßt Euch den Schafspelz ausklopfen, und überall kommen die gleichen, egoistischen Wölfe heraus!! Nun wage mir noch einer, einen Stein zu werfenin Anlehnung an Johannes 8,7: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ auf seinen armen Bruder, der unvollkommener als er auf die Welt gekommen ist, ich will ihm heimzünden.

Altervon Wedekind verwendeter Aliasname Adolf Vögtlins, vermutlich auch dessen Biername., vergib mir meine schulmeisterliche Begeisterung, aber sie spricht für meine Ueberzeugung. Wenn Du fragst, wie ich auf diese Egoismustheorie gekommen sei, so lautet meine Antwort: Durch den Ausdruck „OpferfreudigkeitIn der Szene I/5 von „Frühlings Erwachen“ (1891) ist der Begriff „Opfer-Freudigkeit“ [KSA 2, S. 275] im Dialog zwischen Melchior und Wendla als einer der Schlüsselbegriffe in der Diskussion um Egoismus und Altruismus hervorgehoben [vgl. KSA 2, S. 839f.].“. Ich weiß zwar, daß ich dadurch, daß ich den Auswurf der Menschheit in Schutz nehme, Deine idealen Vorstellungen von Mensch und Gott verletze, aber ich kann nicht anders. Schreibe mir nun recht bald wieder, wie Du meine Ansichten aufgenommen, und im Fall Du oder ich oder wir Beide nicht nach Aarau gehen, wann mir das Vergnügen, Dich wiederzusehen, in Lenzburg zutheil werden soll. Mein Bruder läßt Dich herzlich grüßen. Er war letzte Woche in Aarau zu Besuch bei Philistershier die Familie Rauchenstein. Der Begriff ‚Philister‘ ist mehrdeutig, einerseits pejorativ für ‚Spießbürger‘, andererseits in der Schüler- und Studentensprache Bezeichnung für die Ehemaligen der Schüler- und Studentenverbindungen.. Nun ade, Gruß an Pöldi, etc.

Dein treuer Freund
Franklin Wedekind.


Dies martialische Briefformatdas eidgenössische Folio- oder Kanzleiformat (22 x 35 cm). läßt wiederum um Verzeihung bitten.


[Fußnote zum Asteriskos auf Seite 32:]


*Bei uns spricht das Gewissen gegen jede Rache; den Corsicanern gebietet es dieselbe. Deinen Verwandten wäre es gewiss höchst unangenehm, wenn Du für einen Monarchen Dein Leben aufgibst. Eine deutsche Mutter würde unter solchen Umständen jubeln und Gott danken. Dies als Beispiele für obige Behauptung.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Ankerdatum ist der 24.9.1881 gesetzt – einen Tag für den Postweg von Genf nach Lenzburg gerechnet das früheste mögliche Schreibdatum, ausgehend von Adolf Vögtlins Brief an Wedekind vom 23.9.1881, und zugleich der Tag, der nach einer – im Korrespondenzstück erwähnten – Schlechtwetterperiode den Wetterumschwung ankündigte.

  • Schreibort

    Lenzburg
    24. September 1881 (Samstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Baden
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
30-34
Briefnummer:
7
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort..

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Adolf Vögtlin, 24.9.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

05.01.2023 12:26
Kennung: 2195

Lenzburg, 24. September 1881 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Vögtlin, Adolf
 
 

Inhalt

Lenzburg, IX.1881.


Lieber Freund!

Du kannst Dir leicht denken, welche Ueberraschung Dein lieber BriefAdolf Vögtlin an Wedekind, 23.9.1881. in meiner herbstlich-trübenDie Zeitungen meldeten noch für den 23.9.1881 eine „Fortdauer des unbeständigen Wetters mit zweitweisen Regenschauern“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 225, 23.9.1881, S. (3)], ab dem 24.9.1881 wurde eine „[a]llmälige Aufheiterung mit zunehmender Temperatur“ angekündigt [ebd., Nr. 226, 24.9.1881, S. (3)], die sich in den folgenden Tagen stabilisierte [vgl. ebd., Nr. 228, 27.9.1881, S. (3)]. Einsamkeit hervorgebracht hat. Ich will mich nun auch bemühen, ausführlich auf Dein Schreiben zu antworten, was mir umso leichter wird, da Freundschaft und das Feuer der Ueberzeugung meine Feder begeistern. Meine Gesundheit ist, Dank der lieben Pflege meiner Eltern und Geschwister, leidlich wiederhergestellt; ich litt nämlich an einer akuten Rippenfellentzündung, die mich 5 Wochenetwa zwischen 17.8.1881 und 21.9.1881. Spätestens am 18.8.1881 ‒ einen Tag für den Postweg von Lenzburg nach Aarau gerechnet – hatte Armin Wedekind Oskar Schibler von der Erkrankung unterrichtet, wie aus dessen Antwort hervorgeht: „Du wirst begreifen, dass mich deine in aller Kürze abgefasste Karte sehr erschreckt hat. Ich bitte dich desshalb mir so bald als möglich eine genauere u bestimmte Beschreibung von Franklins Zustand zukommen zu lassen. Denn ich könnte nicht ruhig sein wenn ich meinen Franklin in wirklich ernster Gefahr schwebend wüsste.“ [Oskar Schibler an Armin Wedekind, 19.8.1881 in: Münchner Stadtbibliothek / Monacensia. Nachlass Frank Wedekind. FW B 156] lang ans Bett fesselte. Nun bin ich wieder auferstanden und sehne mich nach dem Augenblick, mit Dir, l. Freund, zusammenzukommen. Näch|sten Freitagder 30.9.1881. ist Maturitätswixein festlicher Umtrunk (Kommers), den die Abiturienten der Gewerbeschule am Abend der Zeugnisübergabe mit den anderen Schülern der Kantonsschule Aarau feierten. in Aarau. Es wäre nun möglich, daß Du mich schon dort, im Fall das Wetter schön ist, treffen würdest, da ich voraussetze, Du werdest diesen Moment nicht versäumen, die alma mater(lat.) die segensreiche=nährende Mutter; Synonym für die höhere Schule oder Universität, hier die Kantonsschule Aarau. wieder einmal zu besuchen.

Deine welsche(schweiz.) die französischsprachigen Schweizer. Kameradschaft hat mich nach einiger, bald überwundener Eifersucht herzlich gefreut, wie auch Dein beneidenswerthes Glück im MilitärdienstVögtlin war zur Beförderung (Avancement) vorgeschlagen worden.. Nun muß ich aber notwendig wieder auf meinen Egoismus zurückkommenDer für Wedekind signifikante Egoismus-Diskurs [vgl. KSA 2, S. 820, 839f.] durchzieht die Korrespondenz mit Adolf Vögtlin. auf die Gefahr hin, dir dadurch langweilig zu werden, aber du darfst nicht glauben, daß ich nicht für meine Worte stehe, solange sie noch zu verteidigen sind.

Wie Du recht vermutet hast, so habe ich mich allerdings in meinem letzten BriefeWedekind an Adolf Vögtlin, 10.8.1881. unklar ausgedrückt und unsere Begriffe stimmen auch nicht so ganz überein. Aber ungeachtet dessen, daß unsere Ideen über Mensch und Gott himmelweit auseinandergehen, will ich es mit Deiner Erlaubnis jetzt noch einmal versuchen, Dich von der Richtigkeit meiner Anschauung zu überzeugen. – Zuerst über Gewissen und Gefühl: Du sagst in Betreff einer Handlung gemäß der Gewissensvorschrift: „Er handelt dabei nicht eigenmächtig; das Gewissen befiehlt ihm die Handlung: er muß“. Nun sagt aber Lessing: „Kein Mensch muß müssenZitat aus Lessings „Nathan der Weise“ (1779) I/3.“. Schiller sagt: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei.Zitat aus Schillers Gedicht „Die Worte des Glaubens“ (1797).“ Und ich habe schon so häufig die Vorschriften des Gewissens übertreten, daß ich Dir versichern kann, daß hier von einem Müssen nicht die Rede ist. Nun höre aber meine Idee darüber. Bei näherer Untersuchung fand ich keinen wesentlichen Unterschied zwischen Gefühl und Gewissen, wie man auch letzteres oft das Pflichtgefühl nennt. Da nun aber Gewissen und Gefühl bei den ver|schiedenen Völkern, bei verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten so ganz verschieden sind*Fußnote, im Druck mit Asteriskos (*) am Seitenende, hier am Ende des Briefes eingefügt., so zweifelte ich, zumal ich ohnehin schon längst Atheist bin, an ihrem göttlichen Ursprung, und leitete sie vielmehr aus der Erziehung und dem Umgang mit Menschen überhaupt ab. Mein Atheismus mag Dich nun allerdings frappieren. Aber ich kann Dich versichern, daß erst treffende Gründe ihn mir aufgedrungen haben. Nun wieder zum Egoismus zurück! Du klagst schon über den Ausdruck, wie fade und nichtssagend er sei. Wenn ich Dir nun aber beweise, daß alle schönen, großen Thaten aus Egoismus entspringen, so fällt diese Klage weg. Denken wir uns nun eine Feuersbrunst, wo viele Menschen unter eigener Lebensgefahr ihre Mitmenschen retten. Gläubige Christen, die unter den Rettern sind, helfen in Aussicht auf einstige Belohnung im Himmelreich, denn: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangenZitat aus Matthäus 5,7.“. (Egoismus) Du sagst, es gäbe auch solche, die gar nicht nachdenken, sondern „aus Instinkt“ helfen. Abgesehen davon, daß ich an der Anwesenheit des Instinktes bei reiferen Menschen zweifle, ist eine That aus Instinkt dem Thäter doch in keiner Weise anzurechnen. Ich nehme nun aber an, daß die meisten der Retter aus wahrem Mitleid retten. Ist nun dieses Mitleid schwach, so magst Du es einfach Gefühl nennen, tritt es dagegen stark auf, so wird es dringender, es wird zum Pflichtgefühl, zum „Gewissen“. Immerhin | ist dies Mitleid dem Retter noch in keiner Weise als lobens- oder tadelnswert anzurechnen. Es ist ein Leiden, das unwillkürlich im Menschen entsteht, sobald ihm ein fremdes Leiden kund wird. Weißt Du nun noch einen andern Grund, außer dem Mitleid, der die Retter zu der edlen Handlung bewegt? – Ich weiß keinen. Wenn aber der Mensch ein Leiden spürt, so ist sein erster Gedanke, dasselbe zu beseitigen, weil er sich selbst liebt. So beseitigen die Retter ihr Mitleid, denn es wüchse sonst mit jedem Augenblick. Ist das nicht Egoismus? – Was? – Aber, zu was wird hier der Egoismus? Zur Stütze der menschlichen Gesellschaft, zur Quelle aller schönen Thaten. Vielleicht bist Du, von diesem Beweise überzeugt, vielleicht auch nicht. Ich hoffe das erstere. Immerhin wirst Du aber sagen, daß auf diese Weise jede Moral umgestoßen sei. Ich aber behaupte das Gegentheil:

Der Mensch kommt mit mancherlei Gaben auf die Welt. Schon bei kleinen Kindern bemerkt man, daß das Eine gerne, das Andere ungern gibt, daß das Eine barmherzig, das andere gefühllos ist. Niemand macht den Kindern daraus einen Vorwurf oder ein Verdienst. Man sucht ihnen höchstens dies abzugewöhnen, jenes beizubringen. In vielen Fällen bleibt aber auch die Erfüllung dieser Pflicht aus und die Anlagen entwickeln sich ungestört. Bis jetzt sind die Kinder noch unverantwortlich. Bald treten sie aber als Glieder der Menschengesellschaft ins Leben hinaus und da heißt es gleich: Der ist gut, Jener schlecht; Der freigebig, Jener geizig. Die Schlechten und Geizigen werden zu Egoisten qualifizirt und der Haß und Fluch der Welt lastet auf ihnen. Fragen wir nun, welche glücklicher sind, die Gehaßten oder die Geliebten? Ich denke | doch, die letzteren genießen ein schöneres Dasein. – – Unwürdige Menschheit, wo bleibt Dein Verstand? Einen Blindgeborenen bemitleidest Du seines körperlichen Gebrechens wegen und den Geizhals verdammst Du wegen eines geistigen! Ist das Deine Barmherzigkeit, Deine Nächstenliebe? – Jene Unglücklichen scheltet Ihr Egoisten! – Seid Ihr besser als sie, Ihr Heiligen unter den Menschen? – Laßt Euch den Schafspelz ausklopfen, und überall kommen die gleichen, egoistischen Wölfe heraus!! Nun wage mir noch einer, einen Stein zu werfenin Anlehnung an Johannes 8,7: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ auf seinen armen Bruder, der unvollkommener als er auf die Welt gekommen ist, ich will ihm heimzünden.

Altervon Wedekind verwendeter Aliasname Adolf Vögtlins, vermutlich auch dessen Biername., vergib mir meine schulmeisterliche Begeisterung, aber sie spricht für meine Ueberzeugung. Wenn Du fragst, wie ich auf diese Egoismustheorie gekommen sei, so lautet meine Antwort: Durch den Ausdruck „OpferfreudigkeitIn der Szene I/5 von „Frühlings Erwachen“ (1891) ist der Begriff „Opfer-Freudigkeit“ [KSA 2, S. 275] im Dialog zwischen Melchior und Wendla als einer der Schlüsselbegriffe in der Diskussion um Egoismus und Altruismus hervorgehoben [vgl. KSA 2, S. 839f.].“. Ich weiß zwar, daß ich dadurch, daß ich den Auswurf der Menschheit in Schutz nehme, Deine idealen Vorstellungen von Mensch und Gott verletze, aber ich kann nicht anders. Schreibe mir nun recht bald wieder, wie Du meine Ansichten aufgenommen, und im Fall Du oder ich oder wir Beide nicht nach Aarau gehen, wann mir das Vergnügen, Dich wiederzusehen, in Lenzburg zutheil werden soll. Mein Bruder läßt Dich herzlich grüßen. Er war letzte Woche in Aarau zu Besuch bei Philistershier die Familie Rauchenstein. Der Begriff ‚Philister‘ ist mehrdeutig, einerseits pejorativ für ‚Spießbürger‘, andererseits in der Schüler- und Studentensprache Bezeichnung für die Ehemaligen der Schüler- und Studentenverbindungen.. Nun ade, Gruß an Pöldi, etc.

Dein treuer Freund
Franklin Wedekind.


Dies martialische Briefformatdas eidgenössische Folio- oder Kanzleiformat (22 x 35 cm). läßt wiederum um Verzeihung bitten.


[Fußnote zum Asteriskos auf Seite 32:]


*Bei uns spricht das Gewissen gegen jede Rache; den Corsicanern gebietet es dieselbe. Deinen Verwandten wäre es gewiss höchst unangenehm, wenn Du für einen Monarchen Dein Leben aufgibst. Eine deutsche Mutter würde unter solchen Umständen jubeln und Gott danken. Dies als Beispiele für obige Behauptung.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Ankerdatum ist der 24.9.1881 gesetzt – einen Tag für den Postweg von Genf nach Lenzburg gerechnet das früheste mögliche Schreibdatum, ausgehend von Adolf Vögtlins Brief an Wedekind vom 23.9.1881, und zugleich der Tag, der nach einer – im Korrespondenzstück erwähnten – Schlechtwetterperiode den Wetterumschwung ankündigte.

  • Schreibort

    Lenzburg
    24. September 1881 (Samstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Baden
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
30-34
Briefnummer:
7
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort..

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Adolf Vögtlin, 24.9.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

05.01.2023 12:26