Schloß
Lenzburg, VII.1881.
Lieber Adolph!
Nimm meinen innigsten Dank hin für Deinen lieben Brief[Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 160, 9.7.1881, Seite (3)]., der mir die alleredelste
Freude der Welt bereitet hat, und beschämt zugleich, wie auch gehoben, durch
deine Großmut trete ich nun vor Dich hin, um mir Verzeihung auszuwirken für die beleidigenden Zweifelvgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 5.7.1881.,
die mein stolzes Herz, von wilder Leidenschaft befangen, gegen deine
Freundschaft hegt. Bitte, vergiß die Blöße, die ich mir vor Deinen Augen durch
dies unsägliche Mißtrauen gab. Dann wirst du das mir gegebene Wort, durch That
deine Freundschaft zu beweisen, schon in vollstem Maße gelöst haben. Ich kann
Dir auch das Versprechen geben, mich fürderhin nicht mehr in den unreinen Tönen
thierischen Genusses bewegen und dichten zu wollen, sondern meinen Pegasusin der griech. Mythologie geflügeltes Pferd; Sinnbild der Dichtkunst. ein wenig höher der
Sonne zufliegen zu lassen, wo er weniger Gefahr läuft, auf schlüpfrigem Boden
auszugleiten und ein Bein zu brechen. Obschon ich Dich sonst aller
unchristlichen Gefühle unfähig halte, so glaube ich dennoch, gerechten Grund zu
haben, wenn ich annehme, Dir eine erfreuliche Nachricht zu bringen, indem ich
Dir den Tod meiner GalatheaSchon vor dem 1.7.1881 hatte Wedekind seinen „Klage-Gesang beim Tode Galateas“ Oskar Schibler zugesandt [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 24.6.1881].
verkünde. – Du und Deine Briefe tragen die schreckliche Schuld ihres Mordes,
und Ihr werdet sehen, wie Ihr Euch am Tage des Zorns(dt.) Dies irae, Titel und Beginn des christlichen Hymnus über das Jüngste Gericht (Apokalypse), hier: das Jüngste Gericht selbst. verantworten wollt. Zwar muß mein Verstand Dir für
die schreckliche That Dank wissen, aber meinem Herzen, das solange an dem
lieben Wesen hing, wirst Du es verzeihen, wenn es die Muse zu folgendem, kurzen
Grabgesang vermochte, welcher die Reihe meiner PastoralienHirtendichtung, Wedekinds Schäferdichtungen aus den Monaten Mai bis Juni/Juli 1881, die er in ein blaues Heft mit der Aufschrift „Bucolica“ schrieb. abschließt: |
Es weht
durch die Bäume ein kalter Wind,
Die Blätter fallen herab.
Und Galathea, das liebe Kind,
Ich trug sie soeben ins Grab.
Still deckt’ ich sie zu und weinte nicht,
Sie war ja noch immer so schön.
Ich küßte ihr freundliches Angesicht –
Auf baldiges Wiedersehn!
Was nun Deine Erklärung über Liebe betrifft, so thut es mir
leid, Dir nicht beistimmen zu können. Ich wenigstens kenne keinen Unterschied
zwischen der Liebe unter gleichen und derjenigen unter verschiedenen
Geschlechtern, als den, daß letzterer Liebe noch der körperliche
Geschlechtstrieb zu Hilfe kommt. – Ich vermuthe zwar, daß ich durch diese
einfache Meinung die zarten Seiten Deines inneren Seelenlebens heftig verletze,
aber untersuche selbst aufs Genaueste in Deinem Gemüth und urtheile sodann noch
einmal.
Nun noch eine Nachricht, die sowohl Dir wie Deinen GenossenLeopold Frölich, Hans Sigrist und Wilhelm Schibler, die drei ehemaligen Mitschüler Adolf Vögtlins an der Kantonsschule Aarau und jetzigen Kommilitonen an der Universität Genf. von der Kantonsschule sehr
unerfreulich klingen wird: Letzten
Freitagden 8.7.1881. schwänzte Frank
OberlinDruckfehler, Lese- oder Schreibversehen, statt: Franz Oberle (oder: Franz Oberli, wie er auch genannt wurde). – Wedekind hatte den ehemaligen Mitschüler, der im Schuljahr 1881/82 die IV. Klasse der Gewerbeschule an der Kantonsschule Aarau besuchte und im Herbst die Matura ablegen sollte, in zwei Gedichten „Nacht ists, die Stürme brausen sehre“ (12.1880) [vgl. KSA 1/II, S. 1912] und „Was ist das für Gesang und Schall“ [vgl. KSA 1/II, S. 2157] verewigt. die
Schule. Samstagsmorgenden 9.7.1881.
um 4 Uhr nimmt er sein Geschichtsbuch und geht in den Schachenim Nordwesten an der Aare gelegener Ortsteil von Aarau., um Geschichte zu repetieren. Zwei
Stunden später, um 6 Uhr, fand man seinen LeichnamDie Traueranzeige erschien noch am selben Tag: „Freunden und Bekannten machen wir hiemit die schmerzliche Mittheilung, dass es Gott gefallen hat, unsern innigst geliebten Sohn und Bruder Franz Oberle, Kantonsschüler, gestern durch einen schweren Unglücksfall im Alter von 19. Jahren in’s bessere Jenseits abzuberufen. Wir empfehlen den theuren Dahingeschiedenen Ihrem liebevollen Andenken und bitten um stille Theilnahme“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 160, 9.7.1881, Seite (3)]., der in der Telliim Nordosten an der Aare gelegener Ortsteil von Aarau. von der Aare aufs Land
geworfen war. Wie er umgekommen, weiß niemand zu sagen. Die VermuthungenGerüchte, dass Franz Oberle sich umgebracht hatte [vgl. KSA 2, S. 849]. aber
über seinen Tod halte ich für zu grundlos und unwürdig, als daß ich sie weiter
melden möchte. Seine irdische Hülle wurde nach Muri gebracht, um dort beerdigtDie Beisetzung fand am „Sonntag den 10. Juli, Vormittags 10 ¼ Uhr in Muri statt“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 160, 9.7.1881, Seite (3)]. Auch darüber berichtete die Presse: „Gestern fand in Muri die Beerdigung des am 8. d. in der Aare dahier verunglückten Kantonsschüler Franz Oberli statt. Ein ungewöhnlich großer Leichenzug war Zeuge der allgemeinen Theilnahme an dem schrecklichen Schlage, der die bedauernswerthen Eltern in dem so plötzlichen Verluste des einzigen Sohnes getroffen; auch eine ansehnliche Zahl von Schülern und Lehrern der Kantonsschule hatten sich eingefunden, um den so unerwartet Dahingeschiedenen zur letzten Ruhestätte zu begleiten. Wie derselbe seinen Tode gefunden, ob ein unglücklicher Zufall, ein augenblicklicher Schwindel, ein unvorsichtiger Fehltritt ihn, den völlig Ahnungslosen in die Arme des Todes stürzte, ist wohl nicht mehr zu enträthseln; am Tage vorher hatte er in voller Jugendlust sich gefreut, in wenigen Tagen am Aarauer Jugendfest und dann am Kantonalturnfest in Brugg theilnehmen und dort vielleicht einen Preis sich erringen zu können, denn er war ein tüchtiger Turner, leider aber des Schwimmens unkundig. Am Morgen des 8. ds. war er noch auf einem Spaziergang bei der Badanstalt gesehen worden, den er in aller Frühe unternommen um ungestört sich auf die folgende Schulstunde vorzubereiten“ [Aargauer Nachrichten, Jg. 27, Nr. 161, 11.7.1881, Seite (2)]. zu werden. Die Gedanken eines PessimistenAnhänger des Pessimismus, einer der überzeugt ist, dass unsere Welt die schlechteste aller möglichen Welten sei. Der Pessimismus ist ein auf Arthur Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung (1819)“ zurückgehender philosophischer Begriff, der in Eduard Hartmann „Die Philosophie des Unbewußten“ (1869) aufgegriffen sich in den 1880er Jahren zur Modephilosophie entwickelte. Wedekinds Auseinandersetzung mit dem Pessimismus geht, vermittelt durch die Hartmann-Schülerin Olga Plümacher (Wedekinds philosophische ‚Tante‘) und vermutlich den Hartmann-Schüler Karl Goswin Uphues (Wedekinds Deutschlehrer in der Kantonsschule Aarau von 4/1879 bis 12/1881), auf die Zeit zwischen Winter 1880/81 und Winter 1882/83 zurück, in der er zahlreiche weltschmerzlich und pessimistisch inspirierte Gedichte verfasste. Ironisch gebrochen erscheint die Thematik in Fridolin Wald, der Hauptfigur im Drama „Der Schnellmaler“ (1889) und der Figur des „Moritz“ in „Frühlings Erwachen“ (1891/1906) [vgl. KSA 1/I, S. 929-931 und KSA 5, S. 592f. und 836-838]. über diesen
Vorfall wirst Du errathen. Ich umgehe also ihre Mittheilung.
Und nun leb wohl. Grüße Pöldi, Sigrist und Schibler
und Dich selbst aufs Freundschaftlichste von Deinem Dir treu ergebenen
Confrater(lat.) Mitbruder.
Franklin.