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Kennung: 2188

Lenzburg, 5. Juli 1881 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Vögtlin, Adolf

Inhalt

Schloß Lenzburg, 5.VII.1881


Lieber Adolph!

Daß Dein letzter Briefvgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 2.7.1881. mich im höchsten Grade überrascht und befremdet hat, brauche ich Dir wohl nicht erst mitzutheilen. Trotzdem muß ich ihn aber stellenweise billigen und darum nimm meinen besten Dank dafür hin. – Zu meiner Beschämung muß ich Dir gestehen, daß ich nämlich wirklich zuerst von dem eitlen Wahn befallen war der erste Theil Deines werthen Schreibens enthalte nur unschuldigen Spaß, als mir dann aber plötzlich die bitterste Ironie darin klar ward, da begann ich, auch an der Wahrheit der letzten Sätze, in welchen Du von freundschaftlichem Gruß und von Fortsetzung unserer Korrespondenz sprichst, zu zweifeln, und bin ungewiß, ob ich nicht auch hierin Ironie suchen soll. – Sind diese Zeilen nun wirklich ironisch aufzufassen, so bin ich es mir schuldig, Dich, den ich immerhin achten muß, über meinen letzten Briefvgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 30.6.1881. etwas aufzuklären, bevor ich mich mit Schmerzen von der Freundschaft, die ich zwischen uns wähnte, losreiße. Sind besagte Zeilen aber wörtlich zu verstehen, so bin ich Dir zu eben derselben Aufklärung verpflichtet, die Dir in diesem Falle nur sehr willkommen sein kann. – Leider hast Du mir aber den besten Grund gegeben, mich nicht weiter Deines Umgangs erfreuen zu können, denn Du schreibst mit der kältesten Verachtung, Du wollest Deine Poesie nicht vergebens an mich vergeuden, bis ich Dir etwas besseres leisten zu können beweise. Nimm nun an, dieses sei mir unmöglich, dann wirst Du begreifen, daß es, so weh es mir auch thun mag, mit unserer Freundschaft | zu Ende sein muß, denn meine Ehre läßt es nicht zu, einen Freund zu besitzen, der mich verachtet. Der Tadel, den Du mir hast zukommen lassen wegen meiner GalateaWedekinds Gedicht „Willkommen schöne Schäferin“, später „Frühling“ genannt [vgl. KSA 1/II, S. 1581], das er seinem letzten Brief [vgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 30.6.1881] beigelegt hatte (die Beilage ist nicht überliefert)., ist sehr begründet, und ich hätte ihn gern aus Freundesmund gehört; aber mit Verachtung ausgesprochen, muß er mich kränken. Mit großem Dank nehme ich nun also Deine Belehrungen entgegen; muß Dir aber, trotz innerem Widerstreben verbieten, mir wiederum von Freundschaft zu sprechen. Zu meiner Rechtfertigung muß ich Dir aber sagen, daß ich niemals um Deine Freundschaft buhlte. Der ZufallSpätestens im Schuljahr 1779/80 dürften sich Frank Wedekind und Adolf Vögtlin kennenlernt haben, seitdem besuchten beide die Kantonsschule Aarau besucht, Adolf Vögtlin als Klassenkamerad von Wedekinds älterem Bruder Armin. Wie es zur näheren Bekanntschaft kam, ist nicht ermittelt. hat uns zusammengeführt. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich je mehr scheinen wollte, als ich bin, und Du hättest mich nicht mit „Lieber Freund“ begrüßen sollen, bevor Du mich genau kanntest. Du hast in mir doch gewiß kein Lumen mundi(lat.) Licht der Welt. gesucht, daß Du dieser einmaligen Verirrung vom Wege des Edlen wegen mich mit solcher Verachtung strafst. Was ich schrieb, bis ich Aarau verließNachdem Wedekind am Ende des Schuljahrs 1880/81 (14.4.1881) nicht in die III. Klasse des Gymnasiums versetzt worden war, wurde er von der Kantonsschule abgemeldet und erhielt seitdem auf Schloss Lenzburg Privatunterricht., das kennst Du so ziemlichDie Mitglieder des Dichterbunds „Senatus Poeticus“, zu dem Adolf Vögtlin und Wedekind gehörten, kritisierten untereinander ihre literarischen Produkte [vgl. auch Wedekinds Korrespondenzen mit Walter Laué und Oskar Schibler]. alles und es ist mir nie eingefallen, irgend etwas absichtlich vor Dir geheim zu halten. Was nun das Bekämpfen der Liebe betrifft, so kann ich allerdings in diesem Fall, wo es sich um ein weibliches Wesen handelt (Bitte, laß Dich nicht wieder beleidigen!) nicht aus eigener Erfahrung sprechen. Aber laß mich Dir an einem ähnlichen Beispiel darlegen, daß von einem Bekämpfen der Liebe unmöglich die Rede sein kann, und Du magst diese Erklärung dann auf das mir allerdings bekannte Prosastück Schillers: Eine großmüthige Handlung anwenden, welches zu untersuchen ich selber aus Mangel an eigener Erfahrung nicht wage. Zuvor aber, um über die Begriffe im Klaren zu sein, | will ich Dir meine Definition von „Liebe“ vorlegen, die Du, wie ich hoffe, nicht verwerfen wirst. Ich kann nur in einem Grade lieben, und zwar im Superlativ. Das mir über alles andere werthvolle wird von mir geliebt und, obschon sich mehrere Objekte in diese Liebe theilen mögen, so kann ich doch nicht das eine mehr oder minder lieben als das andere. – Nun hatte ich einen Freund, d. h. jemanden, den ich liebte, natürlich im höchsten, einzig möglichen Grade. Dieser Freund beleidigte mich aber so empfindlich, daß ich meine Ehre gekränkt fühlte. Nun hatte ich die Wahl, entweder den Freund fahren zu lassen und die Ehre zu retten, oder umgekehrt. Sobald ich mich nun auf diese oder jene Seite neigte, so war die Liebe für jenes oder dieses Besitzthum verschwunden und so blieb mir nichts zu bekämpfen übrig, denn nur die höchste, stärkste Zuneigung kann ich Liebe nennen. Die Liebe zu meinem Freunde aber wollte nicht weichen. Ich konnte mir ihn nicht klar vor Augen führen, wie er jenen schneidigen Brief an mich ausdachte. Mein Erinnerungen fielen immer auf einen anderen Moment: Freundlich sah ich ihn auf mich zukommen; er legte mir ein Andenkenvgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 15.4.1881. in die Hand und sprach: „Hier, lieber Franklin, hast du etwas, weil wir scheiden müssen“. „Ich danke Dir, mein guter Freund“, sprach ich und dabei wurde es mir warm ums Herz, denn ich sah, daß ich doch nicht von der ganzen Welt verlassen sei. Jetzt fordere jenes Papier wieder zurück! Ich will es Dir schicken, denn ich weiß den Inhalt auswendig, aber von Deinen Freundschaftsversicherungen entbinde ich Dich nicht mehr. Sie sind mir jetzt theurer als je, denn ich mußte sie mit meiner Ehre er|kaufen. Ich glaube zwar nicht, daß Dir ein Freund genehmer ist, wenn er sich Dir aufdrängt, als wenn der Zufall ihn dir zuführt, aber ich folge meinem Herzen. Verzeihe mir die leichte Rede meines Briefes und widerrufe die Verachtung in dem Deinigen. Was aber Karl Schmidtder mit Adolf Vögtlin und Wedekind befreundete Kantonsschüler Carl Schmidt. anbelangt, so hast Du mehr in meinen Ausdrücken gesucht, als dahintersteckt. Mein Fehler war, daß ich, als ich auf ihn zu sprechen kam, in dem gleichen, leichten Ton fortfuhr, ohne zu bedenken, daß ich einen zarteren Gegenstand behandelte. Immerhin ist es so gut mein, wie Dein Freund und ich wüßte nicht, was mich bei seinem offenen geraden Benehmen zu einem nachtheiligen Urtheil über ihn verleiten sollte. Wäre dies aber dennoch der Fall, so kannst du sicher sein, daß ich es ihm selbst, nicht Dir mitteilen würde.

Du bittest mich in Deinem lieben Brief auch um Nachricht über mein Leben. Letzte Woche hatte ich mich in Solothurn zum ExamenWedekind, der im Frühjahr 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule versetzt worden war und seitdem Privatunterricht auf Schloss Lenzburg erhielt, wollte an der Kantonsschule Solothurn die Schullaufbahn fortsetzen [vgl. auch seine Korrespondenz mit Oskar Schibler]. angemeldet. Das löbl. Rektorat schrieb mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Franz Lang an Wedekind, 4.7.1881. – Franz Lang, seit 1846 Professor für Naturwissenschaften an der Kantonsschule Solothurn, war von 1872 bis 1883 auch ihr Rektor [vgl. J. E.: Professor Dr Franz Vinzenz Lang 1821–1899. In: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, Jg. 82, 1899, S. III-VIII]. aber, sie hätten in vier Wochen FerienAnfang August 1881 dürften die Schulferien in Solothurn begonnen haben. In einer Korrespondenznachricht vom 30.7.1881 wurde in der Presse gemeldet: „Das Schuljahr [...] der Kantonsschule geht dem Ende entgegen.“ [Der Bund, Jg. 32, Nr. 211, 2.8.1881, S. (3f.)], darum möge ich noch warten, bis zum Wiederbeginnen der Schule. Am Sonntagden 3.7.1881. war ich in Brugg mit einigen aus der 3. Gym.ehemalige Klassenkameraden Wedekinds, die mit ihm im Schuljahr 1880/81 die II. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau besucht hatten und (anders als Wedekind) in die III. Klasse versetzt worden waren. von Rauber eingeladenFritz Rauber hatte mit Wedekind die I. und II. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau besucht.. Wir machten uns sehr fidel und die hohen Mauern der ehrwürdigen ProphetenstadtErhalten hatte Brugg den Beinamen „Prophetenstadt“ durch ihre Lateinschule (gegründet 1396), die auf das Studium an der theologischen Akademie in Bern vorbereitete und daher eine große Zahl angehender Geistlichen in der Stadt konzentrierte. widerhallten von den rauschenden Gesängen, wodurch die werthe Bürgerschaft erfreut wurde.

Nun lebe wohl, grüße Pöldi und SchiblerLeopold Frölich und Wilhelm Schibler, die beiden ehemaligen Mitschüler Adolf Vögtlins an der Kantonsschule Aarau und jetzigen Kommilitonen an der Universität Genf. von mir und sende recht bald eine erquickende Antwort Deinem, das Beste erwartenden, Dir in aller Treue ergebenen, um Verzeihung bittenden Freunde
Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lenzburg
    5. Juli 1881 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Genf
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
21-24
Briefnummer:
4
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort..

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Adolf Vögtlin, 5.7.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

06.06.2023 13:25
Kennung: 2188

Lenzburg, 5. Juli 1881 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Vögtlin, Adolf
 
 

Inhalt

Schloß Lenzburg, 5.VII.1881


Lieber Adolph!

Daß Dein letzter Briefvgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 2.7.1881. mich im höchsten Grade überrascht und befremdet hat, brauche ich Dir wohl nicht erst mitzutheilen. Trotzdem muß ich ihn aber stellenweise billigen und darum nimm meinen besten Dank dafür hin. – Zu meiner Beschämung muß ich Dir gestehen, daß ich nämlich wirklich zuerst von dem eitlen Wahn befallen war der erste Theil Deines werthen Schreibens enthalte nur unschuldigen Spaß, als mir dann aber plötzlich die bitterste Ironie darin klar ward, da begann ich, auch an der Wahrheit der letzten Sätze, in welchen Du von freundschaftlichem Gruß und von Fortsetzung unserer Korrespondenz sprichst, zu zweifeln, und bin ungewiß, ob ich nicht auch hierin Ironie suchen soll. – Sind diese Zeilen nun wirklich ironisch aufzufassen, so bin ich es mir schuldig, Dich, den ich immerhin achten muß, über meinen letzten Briefvgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 30.6.1881. etwas aufzuklären, bevor ich mich mit Schmerzen von der Freundschaft, die ich zwischen uns wähnte, losreiße. Sind besagte Zeilen aber wörtlich zu verstehen, so bin ich Dir zu eben derselben Aufklärung verpflichtet, die Dir in diesem Falle nur sehr willkommen sein kann. – Leider hast Du mir aber den besten Grund gegeben, mich nicht weiter Deines Umgangs erfreuen zu können, denn Du schreibst mit der kältesten Verachtung, Du wollest Deine Poesie nicht vergebens an mich vergeuden, bis ich Dir etwas besseres leisten zu können beweise. Nimm nun an, dieses sei mir unmöglich, dann wirst Du begreifen, daß es, so weh es mir auch thun mag, mit unserer Freundschaft | zu Ende sein muß, denn meine Ehre läßt es nicht zu, einen Freund zu besitzen, der mich verachtet. Der Tadel, den Du mir hast zukommen lassen wegen meiner GalateaWedekinds Gedicht „Willkommen schöne Schäferin“, später „Frühling“ genannt [vgl. KSA 1/II, S. 1581], das er seinem letzten Brief [vgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 30.6.1881] beigelegt hatte (die Beilage ist nicht überliefert)., ist sehr begründet, und ich hätte ihn gern aus Freundesmund gehört; aber mit Verachtung ausgesprochen, muß er mich kränken. Mit großem Dank nehme ich nun also Deine Belehrungen entgegen; muß Dir aber, trotz innerem Widerstreben verbieten, mir wiederum von Freundschaft zu sprechen. Zu meiner Rechtfertigung muß ich Dir aber sagen, daß ich niemals um Deine Freundschaft buhlte. Der ZufallSpätestens im Schuljahr 1779/80 dürften sich Frank Wedekind und Adolf Vögtlin kennenlernt haben, seitdem besuchten beide die Kantonsschule Aarau besucht, Adolf Vögtlin als Klassenkamerad von Wedekinds älterem Bruder Armin. Wie es zur näheren Bekanntschaft kam, ist nicht ermittelt. hat uns zusammengeführt. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich je mehr scheinen wollte, als ich bin, und Du hättest mich nicht mit „Lieber Freund“ begrüßen sollen, bevor Du mich genau kanntest. Du hast in mir doch gewiß kein Lumen mundi(lat.) Licht der Welt. gesucht, daß Du dieser einmaligen Verirrung vom Wege des Edlen wegen mich mit solcher Verachtung strafst. Was ich schrieb, bis ich Aarau verließNachdem Wedekind am Ende des Schuljahrs 1880/81 (14.4.1881) nicht in die III. Klasse des Gymnasiums versetzt worden war, wurde er von der Kantonsschule abgemeldet und erhielt seitdem auf Schloss Lenzburg Privatunterricht., das kennst Du so ziemlichDie Mitglieder des Dichterbunds „Senatus Poeticus“, zu dem Adolf Vögtlin und Wedekind gehörten, kritisierten untereinander ihre literarischen Produkte [vgl. auch Wedekinds Korrespondenzen mit Walter Laué und Oskar Schibler]. alles und es ist mir nie eingefallen, irgend etwas absichtlich vor Dir geheim zu halten. Was nun das Bekämpfen der Liebe betrifft, so kann ich allerdings in diesem Fall, wo es sich um ein weibliches Wesen handelt (Bitte, laß Dich nicht wieder beleidigen!) nicht aus eigener Erfahrung sprechen. Aber laß mich Dir an einem ähnlichen Beispiel darlegen, daß von einem Bekämpfen der Liebe unmöglich die Rede sein kann, und Du magst diese Erklärung dann auf das mir allerdings bekannte Prosastück Schillers: Eine großmüthige Handlung anwenden, welches zu untersuchen ich selber aus Mangel an eigener Erfahrung nicht wage. Zuvor aber, um über die Begriffe im Klaren zu sein, | will ich Dir meine Definition von „Liebe“ vorlegen, die Du, wie ich hoffe, nicht verwerfen wirst. Ich kann nur in einem Grade lieben, und zwar im Superlativ. Das mir über alles andere werthvolle wird von mir geliebt und, obschon sich mehrere Objekte in diese Liebe theilen mögen, so kann ich doch nicht das eine mehr oder minder lieben als das andere. – Nun hatte ich einen Freund, d. h. jemanden, den ich liebte, natürlich im höchsten, einzig möglichen Grade. Dieser Freund beleidigte mich aber so empfindlich, daß ich meine Ehre gekränkt fühlte. Nun hatte ich die Wahl, entweder den Freund fahren zu lassen und die Ehre zu retten, oder umgekehrt. Sobald ich mich nun auf diese oder jene Seite neigte, so war die Liebe für jenes oder dieses Besitzthum verschwunden und so blieb mir nichts zu bekämpfen übrig, denn nur die höchste, stärkste Zuneigung kann ich Liebe nennen. Die Liebe zu meinem Freunde aber wollte nicht weichen. Ich konnte mir ihn nicht klar vor Augen führen, wie er jenen schneidigen Brief an mich ausdachte. Mein Erinnerungen fielen immer auf einen anderen Moment: Freundlich sah ich ihn auf mich zukommen; er legte mir ein Andenkenvgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 15.4.1881. in die Hand und sprach: „Hier, lieber Franklin, hast du etwas, weil wir scheiden müssen“. „Ich danke Dir, mein guter Freund“, sprach ich und dabei wurde es mir warm ums Herz, denn ich sah, daß ich doch nicht von der ganzen Welt verlassen sei. Jetzt fordere jenes Papier wieder zurück! Ich will es Dir schicken, denn ich weiß den Inhalt auswendig, aber von Deinen Freundschaftsversicherungen entbinde ich Dich nicht mehr. Sie sind mir jetzt theurer als je, denn ich mußte sie mit meiner Ehre er|kaufen. Ich glaube zwar nicht, daß Dir ein Freund genehmer ist, wenn er sich Dir aufdrängt, als wenn der Zufall ihn dir zuführt, aber ich folge meinem Herzen. Verzeihe mir die leichte Rede meines Briefes und widerrufe die Verachtung in dem Deinigen. Was aber Karl Schmidtder mit Adolf Vögtlin und Wedekind befreundete Kantonsschüler Carl Schmidt. anbelangt, so hast Du mehr in meinen Ausdrücken gesucht, als dahintersteckt. Mein Fehler war, daß ich, als ich auf ihn zu sprechen kam, in dem gleichen, leichten Ton fortfuhr, ohne zu bedenken, daß ich einen zarteren Gegenstand behandelte. Immerhin ist es so gut mein, wie Dein Freund und ich wüßte nicht, was mich bei seinem offenen geraden Benehmen zu einem nachtheiligen Urtheil über ihn verleiten sollte. Wäre dies aber dennoch der Fall, so kannst du sicher sein, daß ich es ihm selbst, nicht Dir mitteilen würde.

Du bittest mich in Deinem lieben Brief auch um Nachricht über mein Leben. Letzte Woche hatte ich mich in Solothurn zum ExamenWedekind, der im Frühjahr 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule versetzt worden war und seitdem Privatunterricht auf Schloss Lenzburg erhielt, wollte an der Kantonsschule Solothurn die Schullaufbahn fortsetzen [vgl. auch seine Korrespondenz mit Oskar Schibler]. angemeldet. Das löbl. Rektorat schrieb mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Franz Lang an Wedekind, 4.7.1881. – Franz Lang, seit 1846 Professor für Naturwissenschaften an der Kantonsschule Solothurn, war von 1872 bis 1883 auch ihr Rektor [vgl. J. E.: Professor Dr Franz Vinzenz Lang 1821–1899. In: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, Jg. 82, 1899, S. III-VIII]. aber, sie hätten in vier Wochen FerienAnfang August 1881 dürften die Schulferien in Solothurn begonnen haben. In einer Korrespondenznachricht vom 30.7.1881 wurde in der Presse gemeldet: „Das Schuljahr [...] der Kantonsschule geht dem Ende entgegen.“ [Der Bund, Jg. 32, Nr. 211, 2.8.1881, S. (3f.)], darum möge ich noch warten, bis zum Wiederbeginnen der Schule. Am Sonntagden 3.7.1881. war ich in Brugg mit einigen aus der 3. Gym.ehemalige Klassenkameraden Wedekinds, die mit ihm im Schuljahr 1880/81 die II. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau besucht hatten und (anders als Wedekind) in die III. Klasse versetzt worden waren. von Rauber eingeladenFritz Rauber hatte mit Wedekind die I. und II. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau besucht.. Wir machten uns sehr fidel und die hohen Mauern der ehrwürdigen ProphetenstadtErhalten hatte Brugg den Beinamen „Prophetenstadt“ durch ihre Lateinschule (gegründet 1396), die auf das Studium an der theologischen Akademie in Bern vorbereitete und daher eine große Zahl angehender Geistlichen in der Stadt konzentrierte. widerhallten von den rauschenden Gesängen, wodurch die werthe Bürgerschaft erfreut wurde.

Nun lebe wohl, grüße Pöldi und SchiblerLeopold Frölich und Wilhelm Schibler, die beiden ehemaligen Mitschüler Adolf Vögtlins an der Kantonsschule Aarau und jetzigen Kommilitonen an der Universität Genf. von mir und sende recht bald eine erquickende Antwort Deinem, das Beste erwartenden, Dir in aller Treue ergebenen, um Verzeihung bittenden Freunde
Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lenzburg
    5. Juli 1881 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Genf
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
21-24
Briefnummer:
4
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort..

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Adolf Vögtlin, 5.7.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

06.06.2023 13:25