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Sehr geehrter Herr Wedekind,
ich möchte Ihnen viel danken für einen ausführlichen Brief, der zu Walther Rathenaus unter Pseudonym zuletzt in der „Zukunft“ veröffentlichtem Aufsatz [vgl. Ernst Reinhart: Von Schwachheit, Furcht und Zweck. Ein Beitrag zur Erkenntnis menschlichen Wesens. In: Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 223-239] Stellung nimmt [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. und viel schreiben. Verzeihen
Sie deshalb die ungewohnte Fassung und das „gelind PapierZitat aus Goethes Gedicht „Ultimatum“ (Invektive aus dem Nachlass): „Grobe Worte, gelind Papier“ [Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 56. Stuttgart, Tübingen 1842, S. 87]; gelind = schwach, unscheinbar.“ meines Briefes. Dass
Sie mich über Verdienst behandeln, thut mir sehr wohl; aber dass Sie mir so
viel Nachdenken und Mühe gewidmet haben, macht mich stolz und froh.
Form. Sie haben sicher wahrgenommen, dass unsere
Mutter Sprache mir diesmal unhold war. Das Wort „
Dummheit. Der Gegensatz des „Klugen“ (in meinem
Sinne) ist nicht der Dumme sondern der Unkluge. Unter „
Der Starke. Gewiss;
„ Ich liesse wohl mich rühren Auftakt des Zitats der Worte Cäsars vor seiner Ermordung aus William Shakespeares Schauspiel „Julius Cäsar“ (Szene III/1): „Ich ließe wohl mich rühren, glich’ ich euch: / Mich rührten Bitten, bät’ ich um zu rühren. / Doch ich bin standhaft wie des Nordens Stern, / Deß unverrückte, ewig stäte Art / Nicht ihres Gleichen hat am Firmament. / [...] / So in der Welt auch: sie ist voll von Menschen, / Und Menschen sind empfindlich, Fleisch und Blut; / Doch in der Menge weiß ich Einen nur, / Der unbesiegbar seinen Platz bewahrt, / Vom Andrang unbewegt; daß ich der bin, / Auch hierin laßt es mich ein wenig zeigen, / Daß ich auf Cimbers Banne fest bestand. / Und drauf besteh’, daß er im Banne bleibe.“ [Shakspeare’s dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Zweyter Theil. Berlin 1797, S. 71f.], glich’ Ich Euch:
Der Furchtmensch. Nur ein idealer Leser und m/M/enschen – kalte, herzlose Idole?
Lassen Sie mich eins vertrauen, was ich glaube, nicht
behaupte: alles Geniale ist engste Mischung der beiden Elemente. Woher sonst
das Receptive, Divinatorische, das Mitklingen aller Schmerzen? – Und alle
Profile die gezeichneten Profilskizzen [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 231] in Rathenaus Aufsatz (siehe oben), die Wedekind gefallen haben [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. beweisen’s. Die Griechen waren Furchtmenschenin Rathenaus Aufsatz (siehe oben) vager formuliert: „Als aber in späterer Zeit man häufiger vom Künstler die accidentelle Aehnlichkeit des Portraits verlangte, da begannen die naturalistischen Bildnisse das Kainszeichen zu verrathen, so daß es scheinen möchte, als habe das Volk der Griechen in seiner Mehrzahl den Charakter des Furchtmenschen getragen.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 232], das habe ich gesagt. Und
Jesus war’s, das hab’ ich angedeutet. Damit stimmt auch die Legende, die
einzige, die ich von seinem Angesicht kenne: dass er hässlich war. |
Kunst. Die Kunst haben sie erfunden, aber nicht zur
Erhabenheit geführt. Ist das klar genug ausgesprochen worden? Ich fürchte,
nicht recht. Zweckmenschenkunst ist die assyrische, die byzantinische, die
arabische, die französische. [Die Neolatiner sind die Typen der ganz seit
der Revolution, die den fränkisch-germanischen Adel vernichtet und den
keltischen Pöbel erhoben hat.]
Von diesem Gesichtspunkt ist zu erkennen, wie schief die
Unterscheidungen waren, mit denen man sich ehemals quälte: „naiv“ und „sentimentalisch“ dialektische Differenzkategorien ästhetischer Disposition aus Friedrich Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96).
sind kleine Einzelgebiete der Continente „zweckhaft“ und „frei“.
Der Grundgedanke. Wenn ich das Erste und Letzte
meiner Bekenntnisse zusammenfassen soll, so ist es dies: Nicht Tugend und
Laster, nicht Geist und Ungeist, nicht Wille und Trägheit, nicht Leidenschaft
und Phlegma – kurz keines der je erwogenen philosophischen Principien
entscheidet das innerste Wesen und den tiefsten Kern der menschlichen |
Natur, sondern lediglich das Eine: Muth und Furcht.
Diese Trennungslinie geht durch die ganze belebte Schöpfung.
Es giebt angreifende Thiere und flüchtende Thiere. Und alle Pflanzen, des bin
ich sicher, sind Furchtwesen. Vielleicht (eine gleichgültige und
rationalistisch seichte Hypothese) waren die Vorfahren der Furchtmenschen
pflanzenfressende, die Andern fleischfressende Geschöpfe.
Analyse der Gegenwart. In diesem Punkt muss ich Sie,
fürchte ich, enttäuschen. Mein
Der Starke hat in dieser Welt nichts mehr zu schaffen. Käme Schreibversehen, statt: Kämen.
Hercules und Ajaxfür ihre Stärke gerühmte Heldengestalten der griechischen Mythologie, (unter anderem dargestellt in Homers „Ilias“). wieder, so fänden sie ihr Brod nur noch als Athleten.
Thersiteskörperlich missgestalteter Schmähredner in Homers „Ilias“-Epos. aber, und allenfalls UlyssOdysseus, König von Ithaka. Heldengestalt der griechischen Mythologie, unter anderem dargestellt in Homers „Odyssee“, der sich weniger durch körperliche Stärke, vielmehr durch List und Verstand auszeichnete. spreizten sich als hundertfache
Millionäre. Nicht einmal den Krieg im Ostender russisch-japanische Krieg 1904/05. entscheidet persönliche Tapferkeit:
sondern die Klugheit des Schiffsconstructeurs, des Verpflegungsorganisators;
Disciplin, die auf Furcht beruht – und Geld.
Das bürgerliche Leben aber wird einzig und allein vom
Verstande beherrscht. Der Kluge combinirt und organisirt, arbeitet, strebt und
erwirbt. | Was bedeuten heute die adligen Nachkommen und Erben der Starken?
Als Schatten sitzen sie auf den letzten Thronen, commandiren ein paar
Exercirplatztruppen und „bekleiden“ Hofchargen. Die wahre Macht halten die
klugen Emporkömmlinge die reich und mächtig gewordenen ‚Industriebarone‘ Cornelius Vanderbilt, John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und Alfred Krupp.. Vanderbilt, Rockefeller, Carnegie, Krupp sind die Könige
und das Schicksal unserer Zeit. Kein Xerxes und Attilalegendäre, als kriegerisch bekannte Könige von Persien (Xerxes) und des Hunnenreichs (Attila). ist so angebetet worden
und hat so effektive Macht besessen. Wie ein brünstiges Thier stürmt die Epoche
in die Sklaverei des Plutokratismusabgeleitet von Plutokratie: Herrschaft des Geldes; Staatsform, in der die politische Macht an Besitz und Reichtum gekoppelt ist..
Jene Antiken konnten jeden einzelnen Menschen tödten. Das
können unsere Dynasten freilich nicht: aber sie können Zehntausende Hungers
sterben lassen. Sie können auch den Purpur nicht auf eignen Schultern tragen:
aber sie können jeden Strohmann damit behängen und ihm Krieg und Frieden
diktiren. Wer hat den Transvaalkrieg der Erste Burenkrieg 1880/81. geführt? Lombardstreet. Wer führt den
Japanerkriegder russisch-japanische Krieg 1904/05.? Lombardstreet und WallstreetSitz der Börsen in London und New York..
Sind wir nun rettungslos diesem scheusäligen Ende verfallen?
– Ein paar Trostgründe habe ich angeführt. Wichtig aber scheint mir Eines:
öffnet den Menschen die Augen. Lasst sie erkennen, | welche
Zweckfreie Völker giebt es nicht mehr.
Zum Schluss und zur Rechtfertigung. „
Nochmals, Dank. Vergessen Sie mich nicht ganz. Denn ich habe
den aufrichtigen Wunsch, Sie wiederzusehen und – verzeihen Sie der
Menschensucht In Rathenaus Aufsatz (siehe oben) ist zum Stichwort „Menschensucht“ ausgeführt: „Einsamkeit nährt die Furcht. Deshalb flüchtet er unter Menschen, zumal Seinesgleichen, die ihm zu Allerlei dienen. [...] So groß ist bei Einzelnen die Menschensucht, daß sie kaum ihren Nächsten erblicken, ohne seiner im Geist zu begehren. Sie wollen wissen, wer er ist und was er treibt; sie wollen einen Eindruck irgendwelcher Art auf ihn machen, ihm gefallen, imponiren oder auffallen, und, wenn Alles versagt, wenigstens in ihrer Art ihn dadurch überwinden und besitzen, daß sie ihn kritisiren.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 227] Wedekind hatte diese Ausführungen angesprochen [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. – kennen zu lernen.
Mit ergebenstem Gruss
Ihr W Rathenau.
– 21.11.04 –
Bestehend aus 8 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben
Berlin
21. November 1904 (Montag)
Sicher
Berlin
Datum unbekannt
Datum unbekannt
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia
Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13
Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.
Walther Rathenau an Frank Wedekind, 21.11.1904. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (24.10.2025).
Cordula Greinert
Ariane Martin