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Kennung: 1965

Berlin, 21. November 1904 (Montag), Brief

Autor*in

  • Rathenau, Walther

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Sehr geehrter Herr Wedekind,

ich möchte Ihnen viel dankenfür einen ausführlichen Brief, der zu Walther Rathenaus unter Pseudonym zuletzt in der „Zukunft“ veröffentlichtem Aufsatz [vgl. Ernst Reinhart: Von Schwachheit, Furcht und Zweck. Ein Beitrag zur Erkenntnis menschlichen Wesens. In: Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 223-239] Stellung nimmt [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. und viel schreiben. Verzeihen Sie deshalb die ungewohnte Fassung und das „gelind PapierZitat aus Goethes Gedicht „Ultimatum“ (Invektive aus dem Nachlass): „Grobe Worte, gelind Papier“ [Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 56. Stuttgart, Tübingen 1842, S. 87]; gelind = schwach, unscheinbar.“ meines Briefes. Dass Sie mich über Verdienst behandeln, thut mir sehr wohl; aber dass Sie mir so viel Nachdenken und Mühe gewidmet haben, macht mich stolz und froh.

Form. Sie haben sicher wahrgenommen, dass unsere Mutter Sprache mir diesmal unhold war. Das Wort „ZweckmenschDer Begriff wird in Rathenaus Aufsatz (siehe oben) am Ende des dritten Abschnitts („Zweck und Verstand“) eingeführt [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 224]. Walther Rathenau hatte gegenüber Maximilian Harden am 26.10.1904 dargelegt, wie überzeugt er von der Tragfähigkeit seines Begriffs war: „Halten Sie’s nicht für Grübelei und Sophistik. Ich schwöre Ihnen: es ist alles wahr. [...] Glauben Sie mir: von nun an wird Wort, Begriff und Vorstellung des Zweckmenschen nie mehr aus dem Bewußtsein der Welt schwinden: und manches was geschieht, wird unter diesem Gedanken geschehen. Das ist, was ich will.“ [Hellige 1983, S. 385]“ hat sie mir bewilligt, den Gegennamen versagt. „ZweckfreierDer Begriff findet sich in Rathenaus Aufsatz (siehe oben) an mehreren Stellen [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 229, 232].“, „Daseins“- oder „Gegenwartsmensch“ „naiver Mensch“, „Augenblicksmensch“ – alles das musste als halbfalsch und unverständlich verworfen werden. Der Gegensatz „klug“ und „stark“Zu Beginn des siebten Abschnitts („Historie“) in Rathenaus Aufsatz (siehe oben) heißt es: „Alle Geschichte ist ein Kampf der Klugen gegen die Starken.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 236] blieb übrig und ist doch unzulänglich. „Klugheit“ ist natürlich mehr „prudentia“ als „sapientia“(lat.) mehr ‚Klugheit‘ als ‚Weisheit‘ – nach der antiken Ethik des Cicero in seiner Schrift „De officiis“ („Von den Pflichten“) vorgenommene Unterscheidung.; Stärke „virtus“ mehr als „fortitudo“(lat.) ‚Tugend‘ mehr als ‚Tapferkeit‘– nach der antiken Ethik des Cicero in seiner Schrift „De officiis“ („Von den Pflichten“) vorgenommene Unterscheidung..

Dummheit. Der Gegensatz des „Klugen“ (in meinem Sinne) ist nicht der Dumme sondern der Unkluge. Unter „DummheitWedekind vermisste in der Systematik, die Rathenaus Aufsatz (siehe oben) entwickelt, „einen würdigen Platz für die Dummheit“ [Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904].Der ethymologische Sinn ist „taub“, „stumm“. möchte ich Dumpfheit | des Sinns, Urtheils und Verstandes mir vorstellen. Ist der Starke dumm, so ist’s ein Junker; ist der Zweckmensch dumm, so ist’s ein Schlaumeier. „Dummheit“ und deren Physiologie – die Anregung ist mir viel werth – kann daher nicht ein Theil meines Bildes sein, sondern eine Neutraltinte, die die Contraste gleichmäßig abschattirt.

Der Starke. Gewiss; ein IdealbildWedekind hatte nach dem „Idealbild“ [Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904] in der in Rathenaus Aufsatz (siehe oben) entwickelten Systematik gefragt.! Wie auch sein Gegenpart. Denn beide sind „Polaritäten“, wenn ich so sagen darf, wie warm und kalt, positive und negative Elektricität und ähnliche Contraste. Die absoluten Pole sind undenkbar, und alle Specimina sind Stufen. An die Brust schlagen mögen wir daher alle, – et moi pas mal(frz.) auch ich nicht selten.. Dennoch giebt es und kennen wir königliche Exemplare, aller Anbetung und alles Zornes würdig.

Ich liesse wohl mich rührenAuftakt des Zitats der Worte Cäsars vor seiner Ermordung aus William Shakespeares Schauspiel „Julius Cäsar“ (Szene III/1): „Ich ließe wohl mich rühren, glich’ ich euch: / Mich rührten Bitten, bät’ ich um zu rühren. / Doch ich bin standhaft wie des Nordens Stern, / Deß unverrückte, ewig stäte Art / Nicht ihres Gleichen hat am Firmament. / [...] / So in der Welt auch: sie ist voll von Menschen, / Und Menschen sind empfindlich, Fleisch und Blut; / Doch in der Menge weiß ich Einen nur, / Der unbesiegbar seinen Platz bewahrt, / Vom Andrang unbewegt; daß ich der bin, / Auch hierin laßt es mich ein wenig zeigen, / Daß ich auf Cimbers Banne fest bestand. / Und drauf besteh’, daß er im Banne bleibe.“ [Shakspeare’s dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Zweyter Theil. Berlin 1797, S. 71f.], glich’ Ich Euch:
„Mich rührten Bitten, bät Ich um zu rühren.
„Doch Ich bin standhaft wie des Nordens Stern,
„Des unverrückte, ewig stäte Art
„Nicht ihres Gleichen hat am Firmament.
.........
„So in der Welt auch. Sie ist voll von Menschen,
„Und Menschen sind empfindlich, Fleisch und Blut. |
„Doch in der Menge weiss Ich Einen nur,
„Der unbesiegbar seinen Platz bewahrt,
„Vom Andrang unbewegt. Dass Ich der bin,
„Auch hierin lasst es mich ein wenig zeigen,
„Dass Ich auf Cimbers Banne fest bestand,
„Und drauf besteh’: dass er im Banne bleibe.“
Akt III Sc. 1.

Der Furchtmensch. Nur ein idealer Leser und DivinatorSeher, mit hellseherischen Fähigkeiten Begabter. konnte fühlen, dass ich ihn liebeWedekind hatte gesehen, dass Rathenau den „Furchtmenschen [...] mit so viel Liebe behandelt“ [Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904].. Schon um Gottes Ungerechtigkeit willen. Ist Er denn nicht der einzig Unglückliche? Und ist nicht Schmerz der – einzige Adel? Sind nicht LuciferGestalt aus der christlichen Mythologie, die gegen Gott rebellierte und daraufhin bestraft wurde. und PrometheusGestalt aus der griechischen Mythologie, die gegen Zeus rebellierte und daraufhin bestraft wurde. die höchsten Menschenträume? Sind nicht olympische Götter – und m/M/enschen – kalte, herzlose Idole?

Lassen Sie mich eins vertrauen, was ich glaube, nicht behaupte: alles Geniale ist engste Mischung der beiden Elemente. Woher sonst das Receptive, Divinatorische, das Mitklingen aller Schmerzen? – Und alle Profiledie gezeichneten Profilskizzen [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 231] in Rathenaus Aufsatz (siehe oben), die Wedekind gefallen haben [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. beweisen’s. Die Griechen waren Furchtmenschenin Rathenaus Aufsatz (siehe oben) vager formuliert: „Als aber in späterer Zeit man häufiger vom Künstler die accidentelle Aehnlichkeit des Portraits verlangte, da begannen die naturalistischen Bildnisse das Kainszeichen zu verrathen, so daß es scheinen möchte, als habe das Volk der Griechen in seiner Mehrzahl den Charakter des Furchtmenschen getragen.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 232], das habe ich gesagt. Und Jesus war’s, das hab’ ich angedeutet. Damit stimmt auch die Legende, die einzige, die ich von seinem Angesicht kenne: dass er hässlich war. |

Kunst. Die Kunst haben sie erfunden, aber nicht zur Erhabenheit geführt. Ist das klar genug ausgesprochen worden? Ich fürchte, nicht recht. Zweckmenschenkunst ist die assyrische, die byzantinische, die arabische, die französische. [Die Neolatiner sind die Typen der Z.M. Denken Sie: Rumänen, Argentinier, Süditaliener! Die Franzosen sind es ganz seit der Revolution, die den fränkisch-germanischen Adel vernichtet und den keltischen Pöbel erhoben hat.] Erzvertreter der Z.M.-KunstEmile Zola zählt zu den Hauptvertretern naturalistischer Literatur, Edouard Manet zu denen der realistischen Malerei.: Zola, Manet.

Von diesem Gesichtspunkt ist zu erkennen, wie schief die Unterscheidungen waren, mit denen man sich ehemals quälte: „naiv“ und „sentimentalisch“dialektische Differenzkategorien ästhetischer Disposition aus Friedrich Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96). sind kleine Einzelgebiete der Continente „zweckhaft“ und „frei“.

Der Grundgedanke. Wenn ich das Erste und Letzte meiner Bekenntnisse zusammenfassen soll, so ist es dies: Nicht Tugend und Laster, nicht Geist und Ungeist, nicht Wille und Trägheit, nicht Leidenschaft und Phlegma – kurz keines der je erwogenen philosophischen Principien entscheidet das innerste Wesen und den tiefsten Kern der menschlichen | Natur, sondern lediglich das Eine: Muth und Furcht.

Diese Trennungslinie geht durch die ganze belebte Schöpfung. Es giebt angreifende Thiere und flüchtende Thiere. Und alle Pflanzen, des bin ich sicher, sind Furchtwesen. Vielleicht (eine gleichgültige und rationalistisch seichte Hypothese) waren die Vorfahren der Furchtmenschen pflanzenfressende, die Andern fleischfressende Geschöpfe.

Analyse der Gegenwart. In diesem Punkt muss ich Sie, fürchte ich, enttäuschen. Mein Bild hat vielleicht nicht die grossen Züge, die Sie erwarten.

Der Starke hat in dieser Welt nichts mehr zu schaffen. KämeSchreibversehen, statt: Kämen. Hercules und Ajaxfür ihre Stärke gerühmte Heldengestalten der griechischen Mythologie, (unter anderem dargestellt in Homers „Ilias“). wieder, so fänden sie ihr Brod nur noch als Athleten. Thersiteskörperlich missgestalteter Schmähredner in Homers „Ilias“-Epos. aber, und allenfalls UlyssOdysseus, König von Ithaka. Heldengestalt der griechischen Mythologie, unter anderem dargestellt in Homers „Odyssee“, der sich weniger durch körperliche Stärke, vielmehr durch List und Verstand auszeichnete. spreizten sich als hundertfache Millionäre. Nicht einmal den Krieg im Ostender russisch-japanische Krieg 1904/05. entscheidet persönliche Tapferkeit: sondern die Klugheit des Schiffsconstructeurs, des Verpflegungsorganisators; Disciplin, die auf Furcht beruht – und Geld.

Das bürgerliche Leben aber wird einzig und allein vom Verstande beherrscht. Der Kluge combinirt und organisirt, arbeitet, strebt und erwirbt. | Was bedeuten heute die adligen Nachkommen und Erben der Starken? Als Schatten sitzen sie auf den letzten Thronen, commandiren ein paar Exercirplatztruppen und „bekleiden“ Hofchargen. Die wahre Macht halten die klugen Emporkömmlingedie reich und mächtig gewordenen ‚Industriebarone‘ Cornelius Vanderbilt, John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und Alfred Krupp.. Vanderbilt, Rockefeller, Carnegie, Krupp sind die Könige und das Schicksal unserer Zeit. Kein Xerxes und Attilalegendäre, als kriegerisch bekannte Könige von Persien (Xerxes) und des Hunnenreichs (Attila). ist so angebetet worden und hat so effektive Macht besessen. Wie ein brünstiges Thier stürmt die Epoche in die Sklaverei des Plutokratismusabgeleitet von Plutokratie: Herrschaft des Geldes; Staatsform, in der die politische Macht an Besitz und Reichtum gekoppelt ist..

Jene Antiken konnten jeden einzelnen Menschen tödten. Das können unsere Dynasten freilich nicht: aber sie können Zehntausende Hungers sterben lassen. Sie können auch den Purpur nicht auf eignen Schultern tragen: aber sie können jeden Strohmann damit behängen und ihm Krieg und Frieden diktiren. Wer hat den Transvaalkriegder Erste Burenkrieg 1880/81. geführt? Lombardstreet. Wer führt den Japanerkriegder russisch-japanische Krieg 1904/05.? Lombardstreet und WallstreetSitz der Börsen in London und New York..

Sind wir nun rettungslos diesem scheusäligen Ende verfallen? – Ein paar Trostgründe habe ich angeführt. Wichtig aber scheint mir Eines: öffnet den Menschen die Augen. Lasst sie erkennen, | welchenr Sklaven Sklaven sie sind. Lehrt sie das Lied von Furcht und Zweck und Verstand und Macht, – und sie werden sich helfen.

Zweckfreie Völker giebt es nicht mehr. s/d/ie besten sind noch: Schweden, Angelsachsen, Holsteiner, Friesen, Franken, Alemannen. Aber die bedrücktesten beginnen, sich ihrer selbst zu erinnern. Sie empfinden den Druck und Schmerz – aber natürlich localisiren sie ihn falsch. Sie wenden sich instinktiv gegen Bourgeoisie, oder Besitz, oder Verfassung, oder Börse, oder Industrie, oder Juden – alles richtig, und alles falsch! Gegen die Klugen, gegen die Zweckhaften, gegen die Heutemächtigen wollt Ihr Euch wappnen – und getraut Euch nicht es auszudenken und auszusprechen – weil – – Klugheit, Zähigkeit, Geschäftigkeit und Fleiss auch Euch noch heute als Tugenden gelten!!

Zum Schluss und zur Rechtfertigung.Unabhängig von aller EthikZitat aus Walther Rathenaus Aufsatz (siehe oben), der den genialen modernen Dramatiker als „unabhängig von aller Ethik“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 236] charakterisiert; von Rathenau auf Wedekind bezogen [vgl. Walther Rathenau an Wedekind, 12.11.1904].“ – dies hab’ ich sicherlich schlecht ausgedrückt, vielleicht falsch gedacht. Was ich selbst stark und mit ungeheurer Bewegung empfunden habe, das habe ich am Ende nur der Grösse des | Werkes zu verdanken, das wie die Natur selbst alle organischen Interpretationen zulässt und doch nach anderen, eigneren Gesetzen entsteht. Wenn ich denke, wie der Erdgeist auf mich wirkteWalther Rathenau dürfte am 23.9.1904 im Neuen Theater in Berlin die „Erdgeist“-Vorstellung mit Wedekinds Premieren-Auftritt im Prolog zum „Erdgeist“ besucht haben – er hat auf diesen für ihn als ‚schön‘ empfundenen Abend angespielt [vgl. Walther Rathenau an Wedekind, 25.9.1904]. Wilhelm Herzog, der ebenfalls im Publikum saß, hat am 23.9.1904 zu der Vorstellung notiert: „Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ im Neuen Theater. Fr. Wedekind aus München spricht als Stallmeister seiner Menagerie (Personen seiner Tragödie) den Prolog. Pathetisch, bajuvarisch, immer die letzten Silben betonend u. das so viermal schnarrend. Er macht das alles sehr schön! Er schimpft auf den Pöbel, der vor ihm sitzt; der Pöbel klatscht ihm Beifall! Gertrud Eysoldt als Lulu, Eva, Mignon, Nelly leistet das Höchste, was zu leisten ist. Sie ist noch um einige Nuancen reifer geworden! Schamlos ist sie in ihrer Nacktheit. Doch da sie wirklich keine weiblichen Reize hat, kann sie das Rien zeigen. Steinrück als Dr. Schön hatte nicht eine Spur von Reichers damaliger Größe und Schärfe. Er war schlaff und geistlos. Kayßler spielte den Prinzen fein und diskret, weit besser als der erste Darsteller dieser Rolle.“ [Tb Herzog]: wie ein Naturvorgang voll Gesetz und Nothwendigkeit rollte die Handlung nieder, die Menschen schöne Bestien, die Vorgänge Hahnenkämpfe, Schlangenopfer, Raubthierbrünste, die Entwicklung ein Sturzbach der unaufhaltsam dem letzten Katarakt entgegenstürmt – da waren allen alten Fragen von gut und schlecht, von recht und unrecht ausgelöscht und verflüchtet. Dass auch so nebenher die alte Moral zu ihrem Erbtheil kommen konnte, wenn Menschen nur den innern, nicht den äussern Gesetzen gehorchten, ward kaum bemerkt. – Gleichviel: mag ich in diesem Punkte irren: das unberufne Gesammturtheil halt’ ich mit Überzeugung aufrecht. Und weiss: es ist schwerer, Werk und Menschen ganz zu begreifen als zu lieben.

Nochmals, Dank. Vergessen Sie mich nicht ganz. Denn ich habe den aufrichtigen Wunsch, Sie wiederzusehen und – verzeihen Sie der MenschensuchtIn Rathenaus Aufsatz (siehe oben) ist zum Stichwort „Menschensucht“ ausgeführt: „Einsamkeit nährt die Furcht. Deshalb flüchtet er unter Menschen, zumal Seinesgleichen, die ihm zu Allerlei dienen. [...] So groß ist bei Einzelnen die Menschensucht, daß sie kaum ihren Nächsten erblicken, ohne seiner im Geist zu begehren. Sie wollen wissen, wer er ist und was er treibt; sie wollen einen Eindruck irgendwelcher Art auf ihn machen, ihm gefallen, imponiren oder auffallen, und, wenn Alles versagt, wenigstens in ihrer Art ihn dadurch überwinden und besitzen, daß sie ihn kritisiren.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 227] Wedekind hatte diese Ausführungen angesprochen [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. – kennen zu lernen.

Mit ergebenstem Gruss
Ihr W Rathenau.


Berlin, 3 Victoriastr.
– 21.11.04 –

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 8 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 22 x 28 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Walther Rathenau hat die Seiten jeweils oben rechts von 1 bis 8 paginiert (hier nicht wiedergegeben); auf Seite 7 finden sich mit Bleistift vorgenommene Unterstreichungen, die möglicherweise von Wedekind stammen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    21. November 1904 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Briefe. Teilband 1: 1871-1913

Autor:
Walther Rathenau
Herausgeber:
Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin
Verlag:
Düsseldorf: Droste
Jahrgang:
2006
Seitenangabe:
712-716
Briefnummer:
488
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 134
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Walther Rathenau an Frank Wedekind, 21.11.1904. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Cordula Greinert

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

29.09.2023 18:31
Kennung: 1965

Berlin, 21. November 1904 (Montag), Brief

Autor*in

  • Rathenau, Walther

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Sehr geehrter Herr Wedekind,

ich möchte Ihnen viel dankenfür einen ausführlichen Brief, der zu Walther Rathenaus unter Pseudonym zuletzt in der „Zukunft“ veröffentlichtem Aufsatz [vgl. Ernst Reinhart: Von Schwachheit, Furcht und Zweck. Ein Beitrag zur Erkenntnis menschlichen Wesens. In: Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 223-239] Stellung nimmt [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. und viel schreiben. Verzeihen Sie deshalb die ungewohnte Fassung und das „gelind PapierZitat aus Goethes Gedicht „Ultimatum“ (Invektive aus dem Nachlass): „Grobe Worte, gelind Papier“ [Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 56. Stuttgart, Tübingen 1842, S. 87]; gelind = schwach, unscheinbar.“ meines Briefes. Dass Sie mich über Verdienst behandeln, thut mir sehr wohl; aber dass Sie mir so viel Nachdenken und Mühe gewidmet haben, macht mich stolz und froh.

Form. Sie haben sicher wahrgenommen, dass unsere Mutter Sprache mir diesmal unhold war. Das Wort „ZweckmenschDer Begriff wird in Rathenaus Aufsatz (siehe oben) am Ende des dritten Abschnitts („Zweck und Verstand“) eingeführt [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 224]. Walther Rathenau hatte gegenüber Maximilian Harden am 26.10.1904 dargelegt, wie überzeugt er von der Tragfähigkeit seines Begriffs war: „Halten Sie’s nicht für Grübelei und Sophistik. Ich schwöre Ihnen: es ist alles wahr. [...] Glauben Sie mir: von nun an wird Wort, Begriff und Vorstellung des Zweckmenschen nie mehr aus dem Bewußtsein der Welt schwinden: und manches was geschieht, wird unter diesem Gedanken geschehen. Das ist, was ich will.“ [Hellige 1983, S. 385]“ hat sie mir bewilligt, den Gegennamen versagt. „ZweckfreierDer Begriff findet sich in Rathenaus Aufsatz (siehe oben) an mehreren Stellen [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 229, 232].“, „Daseins“- oder „Gegenwartsmensch“ „naiver Mensch“, „Augenblicksmensch“ – alles das musste als halbfalsch und unverständlich verworfen werden. Der Gegensatz „klug“ und „stark“Zu Beginn des siebten Abschnitts („Historie“) in Rathenaus Aufsatz (siehe oben) heißt es: „Alle Geschichte ist ein Kampf der Klugen gegen die Starken.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 236] blieb übrig und ist doch unzulänglich. „Klugheit“ ist natürlich mehr „prudentia“ als „sapientia“(lat.) mehr ‚Klugheit‘ als ‚Weisheit‘ – nach der antiken Ethik des Cicero in seiner Schrift „De officiis“ („Von den Pflichten“) vorgenommene Unterscheidung.; Stärke „virtus“ mehr als „fortitudo“(lat.) ‚Tugend‘ mehr als ‚Tapferkeit‘– nach der antiken Ethik des Cicero in seiner Schrift „De officiis“ („Von den Pflichten“) vorgenommene Unterscheidung..

Dummheit. Der Gegensatz des „Klugen“ (in meinem Sinne) ist nicht der Dumme sondern der Unkluge. Unter „DummheitWedekind vermisste in der Systematik, die Rathenaus Aufsatz (siehe oben) entwickelt, „einen würdigen Platz für die Dummheit“ [Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904].Der ethymologische Sinn ist „taub“, „stumm“. möchte ich Dumpfheit | des Sinns, Urtheils und Verstandes mir vorstellen. Ist der Starke dumm, so ist’s ein Junker; ist der Zweckmensch dumm, so ist’s ein Schlaumeier. „Dummheit“ und deren Physiologie – die Anregung ist mir viel werth – kann daher nicht ein Theil meines Bildes sein, sondern eine Neutraltinte, die die Contraste gleichmäßig abschattirt.

Der Starke. Gewiss; ein IdealbildWedekind hatte nach dem „Idealbild“ [Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904] in der in Rathenaus Aufsatz (siehe oben) entwickelten Systematik gefragt.! Wie auch sein Gegenpart. Denn beide sind „Polaritäten“, wenn ich so sagen darf, wie warm und kalt, positive und negative Elektricität und ähnliche Contraste. Die absoluten Pole sind undenkbar, und alle Specimina sind Stufen. An die Brust schlagen mögen wir daher alle, – et moi pas mal(frz.) auch ich nicht selten.. Dennoch giebt es und kennen wir königliche Exemplare, aller Anbetung und alles Zornes würdig.

Ich liesse wohl mich rührenAuftakt des Zitats der Worte Cäsars vor seiner Ermordung aus William Shakespeares Schauspiel „Julius Cäsar“ (Szene III/1): „Ich ließe wohl mich rühren, glich’ ich euch: / Mich rührten Bitten, bät’ ich um zu rühren. / Doch ich bin standhaft wie des Nordens Stern, / Deß unverrückte, ewig stäte Art / Nicht ihres Gleichen hat am Firmament. / [...] / So in der Welt auch: sie ist voll von Menschen, / Und Menschen sind empfindlich, Fleisch und Blut; / Doch in der Menge weiß ich Einen nur, / Der unbesiegbar seinen Platz bewahrt, / Vom Andrang unbewegt; daß ich der bin, / Auch hierin laßt es mich ein wenig zeigen, / Daß ich auf Cimbers Banne fest bestand. / Und drauf besteh’, daß er im Banne bleibe.“ [Shakspeare’s dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Zweyter Theil. Berlin 1797, S. 71f.], glich’ Ich Euch:
„Mich rührten Bitten, bät Ich um zu rühren.
„Doch Ich bin standhaft wie des Nordens Stern,
„Des unverrückte, ewig stäte Art
„Nicht ihres Gleichen hat am Firmament.
.........
„So in der Welt auch. Sie ist voll von Menschen,
„Und Menschen sind empfindlich, Fleisch und Blut. |
„Doch in der Menge weiss Ich Einen nur,
„Der unbesiegbar seinen Platz bewahrt,
„Vom Andrang unbewegt. Dass Ich der bin,
„Auch hierin lasst es mich ein wenig zeigen,
„Dass Ich auf Cimbers Banne fest bestand,
„Und drauf besteh’: dass er im Banne bleibe.“
Akt III Sc. 1.

Der Furchtmensch. Nur ein idealer Leser und DivinatorSeher, mit hellseherischen Fähigkeiten Begabter. konnte fühlen, dass ich ihn liebeWedekind hatte gesehen, dass Rathenau den „Furchtmenschen [...] mit so viel Liebe behandelt“ [Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904].. Schon um Gottes Ungerechtigkeit willen. Ist Er denn nicht der einzig Unglückliche? Und ist nicht Schmerz der – einzige Adel? Sind nicht LuciferGestalt aus der christlichen Mythologie, die gegen Gott rebellierte und daraufhin bestraft wurde. und PrometheusGestalt aus der griechischen Mythologie, die gegen Zeus rebellierte und daraufhin bestraft wurde. die höchsten Menschenträume? Sind nicht olympische Götter – und m/M/enschen – kalte, herzlose Idole?

Lassen Sie mich eins vertrauen, was ich glaube, nicht behaupte: alles Geniale ist engste Mischung der beiden Elemente. Woher sonst das Receptive, Divinatorische, das Mitklingen aller Schmerzen? – Und alle Profiledie gezeichneten Profilskizzen [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 231] in Rathenaus Aufsatz (siehe oben), die Wedekind gefallen haben [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. beweisen’s. Die Griechen waren Furchtmenschenin Rathenaus Aufsatz (siehe oben) vager formuliert: „Als aber in späterer Zeit man häufiger vom Künstler die accidentelle Aehnlichkeit des Portraits verlangte, da begannen die naturalistischen Bildnisse das Kainszeichen zu verrathen, so daß es scheinen möchte, als habe das Volk der Griechen in seiner Mehrzahl den Charakter des Furchtmenschen getragen.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 232], das habe ich gesagt. Und Jesus war’s, das hab’ ich angedeutet. Damit stimmt auch die Legende, die einzige, die ich von seinem Angesicht kenne: dass er hässlich war. |

Kunst. Die Kunst haben sie erfunden, aber nicht zur Erhabenheit geführt. Ist das klar genug ausgesprochen worden? Ich fürchte, nicht recht. Zweckmenschenkunst ist die assyrische, die byzantinische, die arabische, die französische. [Die Neolatiner sind die Typen der Z.M. Denken Sie: Rumänen, Argentinier, Süditaliener! Die Franzosen sind es ganz seit der Revolution, die den fränkisch-germanischen Adel vernichtet und den keltischen Pöbel erhoben hat.] Erzvertreter der Z.M.-KunstEmile Zola zählt zu den Hauptvertretern naturalistischer Literatur, Edouard Manet zu denen der realistischen Malerei.: Zola, Manet.

Von diesem Gesichtspunkt ist zu erkennen, wie schief die Unterscheidungen waren, mit denen man sich ehemals quälte: „naiv“ und „sentimentalisch“dialektische Differenzkategorien ästhetischer Disposition aus Friedrich Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96). sind kleine Einzelgebiete der Continente „zweckhaft“ und „frei“.

Der Grundgedanke. Wenn ich das Erste und Letzte meiner Bekenntnisse zusammenfassen soll, so ist es dies: Nicht Tugend und Laster, nicht Geist und Ungeist, nicht Wille und Trägheit, nicht Leidenschaft und Phlegma – kurz keines der je erwogenen philosophischen Principien entscheidet das innerste Wesen und den tiefsten Kern der menschlichen | Natur, sondern lediglich das Eine: Muth und Furcht.

Diese Trennungslinie geht durch die ganze belebte Schöpfung. Es giebt angreifende Thiere und flüchtende Thiere. Und alle Pflanzen, des bin ich sicher, sind Furchtwesen. Vielleicht (eine gleichgültige und rationalistisch seichte Hypothese) waren die Vorfahren der Furchtmenschen pflanzenfressende, die Andern fleischfressende Geschöpfe.

Analyse der Gegenwart. In diesem Punkt muss ich Sie, fürchte ich, enttäuschen. Mein Bild hat vielleicht nicht die grossen Züge, die Sie erwarten.

Der Starke hat in dieser Welt nichts mehr zu schaffen. KämeSchreibversehen, statt: Kämen. Hercules und Ajaxfür ihre Stärke gerühmte Heldengestalten der griechischen Mythologie, (unter anderem dargestellt in Homers „Ilias“). wieder, so fänden sie ihr Brod nur noch als Athleten. Thersiteskörperlich missgestalteter Schmähredner in Homers „Ilias“-Epos. aber, und allenfalls UlyssOdysseus, König von Ithaka. Heldengestalt der griechischen Mythologie, unter anderem dargestellt in Homers „Odyssee“, der sich weniger durch körperliche Stärke, vielmehr durch List und Verstand auszeichnete. spreizten sich als hundertfache Millionäre. Nicht einmal den Krieg im Ostender russisch-japanische Krieg 1904/05. entscheidet persönliche Tapferkeit: sondern die Klugheit des Schiffsconstructeurs, des Verpflegungsorganisators; Disciplin, die auf Furcht beruht – und Geld.

Das bürgerliche Leben aber wird einzig und allein vom Verstande beherrscht. Der Kluge combinirt und organisirt, arbeitet, strebt und erwirbt. | Was bedeuten heute die adligen Nachkommen und Erben der Starken? Als Schatten sitzen sie auf den letzten Thronen, commandiren ein paar Exercirplatztruppen und „bekleiden“ Hofchargen. Die wahre Macht halten die klugen Emporkömmlingedie reich und mächtig gewordenen ‚Industriebarone‘ Cornelius Vanderbilt, John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und Alfred Krupp.. Vanderbilt, Rockefeller, Carnegie, Krupp sind die Könige und das Schicksal unserer Zeit. Kein Xerxes und Attilalegendäre, als kriegerisch bekannte Könige von Persien (Xerxes) und des Hunnenreichs (Attila). ist so angebetet worden und hat so effektive Macht besessen. Wie ein brünstiges Thier stürmt die Epoche in die Sklaverei des Plutokratismusabgeleitet von Plutokratie: Herrschaft des Geldes; Staatsform, in der die politische Macht an Besitz und Reichtum gekoppelt ist..

Jene Antiken konnten jeden einzelnen Menschen tödten. Das können unsere Dynasten freilich nicht: aber sie können Zehntausende Hungers sterben lassen. Sie können auch den Purpur nicht auf eignen Schultern tragen: aber sie können jeden Strohmann damit behängen und ihm Krieg und Frieden diktiren. Wer hat den Transvaalkriegder Erste Burenkrieg 1880/81. geführt? Lombardstreet. Wer führt den Japanerkriegder russisch-japanische Krieg 1904/05.? Lombardstreet und WallstreetSitz der Börsen in London und New York..

Sind wir nun rettungslos diesem scheusäligen Ende verfallen? – Ein paar Trostgründe habe ich angeführt. Wichtig aber scheint mir Eines: öffnet den Menschen die Augen. Lasst sie erkennen, | welchenr Sklaven Sklaven sie sind. Lehrt sie das Lied von Furcht und Zweck und Verstand und Macht, – und sie werden sich helfen.

Zweckfreie Völker giebt es nicht mehr. s/d/ie besten sind noch: Schweden, Angelsachsen, Holsteiner, Friesen, Franken, Alemannen. Aber die bedrücktesten beginnen, sich ihrer selbst zu erinnern. Sie empfinden den Druck und Schmerz – aber natürlich localisiren sie ihn falsch. Sie wenden sich instinktiv gegen Bourgeoisie, oder Besitz, oder Verfassung, oder Börse, oder Industrie, oder Juden – alles richtig, und alles falsch! Gegen die Klugen, gegen die Zweckhaften, gegen die Heutemächtigen wollt Ihr Euch wappnen – und getraut Euch nicht es auszudenken und auszusprechen – weil – – Klugheit, Zähigkeit, Geschäftigkeit und Fleiss auch Euch noch heute als Tugenden gelten!!

Zum Schluss und zur Rechtfertigung.Unabhängig von aller EthikZitat aus Walther Rathenaus Aufsatz (siehe oben), der den genialen modernen Dramatiker als „unabhängig von aller Ethik“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 236] charakterisiert; von Rathenau auf Wedekind bezogen [vgl. Walther Rathenau an Wedekind, 12.11.1904].“ – dies hab’ ich sicherlich schlecht ausgedrückt, vielleicht falsch gedacht. Was ich selbst stark und mit ungeheurer Bewegung empfunden habe, das habe ich am Ende nur der Grösse des | Werkes zu verdanken, das wie die Natur selbst alle organischen Interpretationen zulässt und doch nach anderen, eigneren Gesetzen entsteht. Wenn ich denke, wie der Erdgeist auf mich wirkteWalther Rathenau dürfte am 23.9.1904 im Neuen Theater in Berlin die „Erdgeist“-Vorstellung mit Wedekinds Premieren-Auftritt im Prolog zum „Erdgeist“ besucht haben – er hat auf diesen für ihn als ‚schön‘ empfundenen Abend angespielt [vgl. Walther Rathenau an Wedekind, 25.9.1904]. Wilhelm Herzog, der ebenfalls im Publikum saß, hat am 23.9.1904 zu der Vorstellung notiert: „Frank Wedekinds ‚Erdgeist‘ im Neuen Theater. Fr. Wedekind aus München spricht als Stallmeister seiner Menagerie (Personen seiner Tragödie) den Prolog. Pathetisch, bajuvarisch, immer die letzten Silben betonend u. das so viermal schnarrend. Er macht das alles sehr schön! Er schimpft auf den Pöbel, der vor ihm sitzt; der Pöbel klatscht ihm Beifall! Gertrud Eysoldt als Lulu, Eva, Mignon, Nelly leistet das Höchste, was zu leisten ist. Sie ist noch um einige Nuancen reifer geworden! Schamlos ist sie in ihrer Nacktheit. Doch da sie wirklich keine weiblichen Reize hat, kann sie das Rien zeigen. Steinrück als Dr. Schön hatte nicht eine Spur von Reichers damaliger Größe und Schärfe. Er war schlaff und geistlos. Kayßler spielte den Prinzen fein und diskret, weit besser als der erste Darsteller dieser Rolle.“ [Tb Herzog]: wie ein Naturvorgang voll Gesetz und Nothwendigkeit rollte die Handlung nieder, die Menschen schöne Bestien, die Vorgänge Hahnenkämpfe, Schlangenopfer, Raubthierbrünste, die Entwicklung ein Sturzbach der unaufhaltsam dem letzten Katarakt entgegenstürmt – da waren allen alten Fragen von gut und schlecht, von recht und unrecht ausgelöscht und verflüchtet. Dass auch so nebenher die alte Moral zu ihrem Erbtheil kommen konnte, wenn Menschen nur den innern, nicht den äussern Gesetzen gehorchten, ward kaum bemerkt. – Gleichviel: mag ich in diesem Punkte irren: das unberufne Gesammturtheil halt’ ich mit Überzeugung aufrecht. Und weiss: es ist schwerer, Werk und Menschen ganz zu begreifen als zu lieben.

Nochmals, Dank. Vergessen Sie mich nicht ganz. Denn ich habe den aufrichtigen Wunsch, Sie wiederzusehen und – verzeihen Sie der MenschensuchtIn Rathenaus Aufsatz (siehe oben) ist zum Stichwort „Menschensucht“ ausgeführt: „Einsamkeit nährt die Furcht. Deshalb flüchtet er unter Menschen, zumal Seinesgleichen, die ihm zu Allerlei dienen. [...] So groß ist bei Einzelnen die Menschensucht, daß sie kaum ihren Nächsten erblicken, ohne seiner im Geist zu begehren. Sie wollen wissen, wer er ist und was er treibt; sie wollen einen Eindruck irgendwelcher Art auf ihn machen, ihm gefallen, imponiren oder auffallen, und, wenn Alles versagt, wenigstens in ihrer Art ihn dadurch überwinden und besitzen, daß sie ihn kritisiren.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 227] Wedekind hatte diese Ausführungen angesprochen [vgl. Wedekind an Walther Rathenau, 19.11.1904]. – kennen zu lernen.

Mit ergebenstem Gruss
Ihr W Rathenau.


Berlin, 3 Victoriastr.
– 21.11.04 –

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 8 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 22 x 28 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Walther Rathenau hat die Seiten jeweils oben rechts von 1 bis 8 paginiert (hier nicht wiedergegeben); auf Seite 7 finden sich mit Bleistift vorgenommene Unterstreichungen, die möglicherweise von Wedekind stammen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    21. November 1904 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Briefe. Teilband 1: 1871-1913

Autor:
Walther Rathenau
Herausgeber:
Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin
Verlag:
Düsseldorf: Droste
Jahrgang:
2006
Seitenangabe:
712-716
Briefnummer:
488
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 134
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Walther Rathenau an Frank Wedekind, 21.11.1904. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Cordula Greinert

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

29.09.2023 18:31