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Kennung: 19

Lausanne, 31. Mai 1884 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Greyerz, Minna von

Inhalt

Lausanne Mai 84


Liebe Cousine,

Du bist gewiß wütend auf mich, weil ich dir das Bild nicht sende. Aber siehst du, so gehts, wenn man immer unvorsichtig ist. Deinen lieben Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 8.5.1884. – Minna von Greyerz hatte Wedekind im Brief dringend um Rückgabe der Fotografie gebeten. warf ich in alle vier Ecken des Zimmers bevor ich ihn nur ausgelesen hatte und wenn du wüßtest wie manche schlaflose Nacht er mich gekostet so hättest du ihn gewiß nicht geschrieben. Kaum hatt ich ihn nämlich erhalten so entwarf ich eine lebensgroße Skizze von der Photographie und habe sie soeben erst nach vieler Mühe und Arbeit vollendet. Frau Dr AmslerDie noch nicht 20 Jahre alte Fanny Amsler, geborene Laué aus Wildegg, eine Cousine von Wedekinds Schulfreund Walter Laué, war mit dem Arzt Dr. Gerold Amsler verheiratet. ists nun freilich nicht. Aber man sieht doch so ungefähr daß sies sein soll. Das OriginalDie Fotografie liegt dem Brief nicht mehr bei. erhältst du also hiemit wieder zurück. Ich hab’ es gehütet wie meinen Augapfel und trenne mich nur mit Schmerzen davon. Denn obschon hier in Lausanne sehr viele sehr schöne Originale zu sehn sind, so hatt ich mich halt doch schon ein wenig vertieft in diese kindlich ruhigen und trotzdem scharfen edlen Züge und den tiefen und unschuldigen Blick der Augen, den ich vergebens wiederzugeben suchte. | Ueberhaupt wenn ich meine Zeichnung 1894 anstatt 84 datiere, so wird sie ungefähr naturgetreu sein. Es ist ein durchaus prophetisches Werk, das erst im Laufe der Zeit seine Rechtfertigung finden wird, da die sanften weichen Formen der Photographie schon einigermaßen etwas Hartes, Markiges erhalten haben. Als das Bild heute morgen vollendet war trat WillyFrank Wedekinds Bruder William Lincoln machte seit Herbst 1883 eine Lehre bei Emile Ruffieux, Commission & Expédition, Assurances et Importation in Lausanne. Die Brüder wohnten bei dem Tierarzt E. Gros in der Villa Mon Caprice am Chemin de Montchoisy. ins Zimmer und gab mit kritischem Kennerblick sein Urteil ab. Dann sprachen wir von vergangenen Tagen, da wir noch selbander(schweiz.) zusammen. nach Wildegg hinunter ritten und dort das HausDie Villa „Laué“ in der Bruggerstraße 18 in Wildegg lag etwa 5 Kilometer entfernt von Schloss Lenzburg. Die Geschwister Wedekind unternahmen Ausritte mit den Schlosseseln. umlagerten und an die Fenster hinauflechzten. Es war das im Winter 78 auf 79. Mich überkam bei diesen Erinnerungen eine eigentümliche Wehmut ich sprang unwillkürlich in die Ecke auf Willys geladenes Flobertgewehr„Flobertgewehr, Flobertpistole, Flobertsalongewehr, Floberttesching, nach Flobert, dem Erfinder der Einheitspatrone (1845/46), benannte Handfeuerwaffen, bei denen die treibende Kraft aus einer im Boden der Patrone eingelagerten Zündmasse besteht. Der Hahn bildet den Verschluß, durch den Hahnschlag wird der Patronenrand gequetscht und der Zündstoff entzündet. Das Geschoß besteht aus einem starken Schrotkorn oder einem kleinen Langgeschoß und vermag nur auf nahe Entfernung einen kleinen Vogel u. s. w. zu töten. Derartige Waffen sind für militär. Zwecke und für die Jagd ohne Bedeutung, sie dienen hauptsächlich als Spielzeug für die Jugend und bisweilen zu Übungs- und Ausbildungszwecken.“ [Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 14. Aufl., Bd. 6, Leipzig u. a. 1902, S. 806] los, zielte und schoß das schöne Weib mitten ins Herz. Diese Tat war zwar vollständig unlogisch, da ich ja die Wunde trug und noch trage, aber sie symbolisierte wenigstens „bildlich“ die Gegenseitigkeit, die ich umsonst in der Wirklichkeit anstrebte. Weiß ich doch noch wie heute, wie mir Fanny Laueder Mädchenname von Frau Dr. Amsler., noch ein l5jähriges Mädchen einst durch Marie Ringier eine Nichte von Fanny Oschwald und Bertha Jahn; die Lenzburger Familie Ringier war weit verzweigt. – Die gleichaltrigen Mädchen dürften gemeinsam die Bezirksschule in Lenzburg besucht haben.sagen ließ, wenn ich jetzt dann nicht aufhöre ihr immer nachzulaufen, so werde sie es ihrem VaterEmil Laué, Fabrikbesitzer in Wildegg und Mitglied im Verwaltungsrat der Schweizerischen Nordostbahngesellschaft. sagen. | Doch war es nicht das einzige Mal, daß ich so schnöde, so wegwerfend behandelt wurde. Im Gegenteil! Es war das nur eine der vielen Variationen meines ewigen, unabänderlichen Schicksals, das mich wie ein treuer Freund auf allen Wegen und Stegen begleitet. –––

Warum willst du mir denn eigentlich nichts von Blanches LiebenswürdigkeitFür Blanche Zweifel, geborene Gaudard, schwärmte Wedekind im Winter 1883/84. schreiben? Sei überzeugt, du würdest einen sehr aufmerksamen Leser finden und gerade solche Kleinigkeiten laßen sich in Briefen bei weitem beßer behandeln als bedeutende Ereignisse und wichtige Fragen von Weltbedeutung. Denn sieh, das ist auch der Fehler an meinem Briefwechsel mit Frl. BarckZuletzt hatte Anny Barck aus Freiburg im Breisgau – Wedekinds Schwarm im Sommer 1883 – geschrieben [vgl. Anny Barck an Wedekind, 14.4.1884]. Spätere Korrespondenzen sind nicht überliefert.. Wir schreiben uns gegenseitig über Meinungen und Ansichten, wie man in jedem wissenschaftlichen Buche ebenso gut lesen kann und darum will auch die Correspondenz immer noch nicht recht in Fluß kommen. Solch einen Brief, den liest man einmal und weiß dann was darin steht. Während dem, wenn sie mir von sich selbst, von ihrem Leben etc | schreiben würde, ihre Persönlichkeit viel mehr zur Geltung, zum Ausdruck käme und ich nicht mit toten Buchstaben, sondern mit ihren eigenen gesprochenen Worten mich unterhalten könnte. Schreibe mir also immerhin à la Blanches Gedanken am Arbeitstisch über alles Erdenkliche, über die Lenzburger Damenwelt, über das Wetter, über Stadtgespräche, denn gerade für solchen Klatsch sind die Briefe erfunden und gerade in der Behandlung solcher Kleinigkeiten wird die Schreiberin selber am Besten zur Geltung kommen. –

Du hast also wiederMinna von Greyerz hatte ihren ersten Brief an Wedekinds sogenannte Tante Olga Plümacher im Januar 1884 geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 13.1.1884]. an Tante Plümacher geschrieben. Nun, das wird sie sehr freuen, denn selbst der größte Geist ist nicht gegen alle Flatusenauch Fladusen (regional) Schmeichelei. schlag- und stichfest. Ich hab ihr leider noch nicht geantwortet auf ihren lieben BriefOlga Plümacher an Wedekind, 19.4.1884. und weiß in Folge dessen auch nichts neues von ihr, was etwa dein Schreiben betreffen könnte. |

Lausanne ist im allgemeinen ein äußerst langweiliges Nest, besonders wenn man die verschiedenen Curiosa abgeweidet und sich an das hiesige Leben einmal gewöhnt hat. Das einzige Bemerkenswerte sind die EngländerDie Schweiz war beliebtes Reiseziel der Engländer, die wesentlich zur Entwicklung des schweizerischen Tourismus im 19. Jahrhundert beitrugen. Seit 1863 bot Thomas Cook geführte Reisen durch die Alpenlandschaft an, die dank der Werke der englischen Romantiker (George Byron, Mary Shelley, Samuel Taylor, William Turner) dem Bildungsbürgertum bekannt geworden war und nach der Schweizreise von Queen Victoria (1868) noch einmal an Beliebtheit gewann [vgl. Beat Kümin; Kaspar von Greyerz; Neville Wylie; Sacha Zala: „Grossbritannien“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.01.2018. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003356/2018-01-11/, konsultiert am 18.01.2024]. und besonders die Engländerinnen. Ueber ihre Toiletten allein könnte man schon ein ganzes Werk schreiben. Potz Blitz! – Da solltest du ein mal sehn! Alles roth, nicht etwa rosa oder kirschrot, nein alles ziegelrot, grelles schreiendes Ziegelrot. Dabei tragen sich auch viele Engländerinnen ganz weiß oder hellgelb. Aber immer, trotz aller Extravaganz, geschmackvoll und einfach. Am anziehendsten sind die runden vollen Gesichtchen der jungen Mädchen unter 16 Jahren. Der große Mund mit blendendweißen Zähnen, die großen runden Augen, umrahmt von starken Augenbrauen machen sich sehr gut, meistens frische gesunde altgermanische PhisionomienSchreibversehen oder Lesefehler, statt: Physiognomien.. Das schönste aber sind | die herrlichen Figuren, der hohe schlanke Wuchs deßen feine Eleganz bei der vornehmen Lässigkeit der Bewegung sehr vorteilhaft hervortritt. Die Frisuren sind meistens einfach. Junge Mädchen tragen ihre hellblonde dichte Lockenfülle gewöhnlich ganz offen. Am besten hat mir ein Kopf gefallen mit ebenfalls blonden aber ganz kurz geschorenen Locken. Ein leichter koketter Hut setzte der ganzen Erscheinung die Krone auf.emendiert aus: auf. (auf u.– wohl ein Schreibversehen Sophie Hämmerli-Martis. Aber aus dem geschmacklosen zweckwidrigen Modeschwindel einer Pariser oder Berliner Zeitung sind gewiß all diese Herrlichkeiten nicht geschöpft.

Wann wird man wohl auch in Lenzburg mal so vernünftig werden? o jemine!! ––

Schöner als die Stadt Lausanne selber ist die Umgegend, der See, die Berge, die Sonnigen Rebgelände, o das ist alles bezaubernd schön. Aber man hat weit zu gehen, will man die wahre, unzersetzte Natur finden, will man die letzten der störenden Civilisation hinter sich lassen. Entweder weit im See draußen oder auf den höchsten Bergesspitzen findet man erst Gelegenheit mit sich allein zu sein, sich zu sammeln. | Aber die Zeiten, da RousseauJean Jacques Rousseau, in Genf geboren, unternahm 1730/31 eine Fußreise durch die Schweiz, die ihn unter anderem durch Lausanne und Nyon am Nordufer des Genfersees führte. Schauplatz seines Romans „Die neue Héloïse“ ist Clarens am Ostufer des Sees., da ByronsGemeint sind George Byron, sein Leibarzt und Geliebter John William Polidori sowie Percy Shelley mit seiner Geliebten Mary Godwin (spätere Shelley), und deren Halbschwester Claire Clairmont, die zwischen Mai und Oktober 1816 in der Villa Diodati in Cologny am Genfersee in einer Ménage zu fünft lebten. Mary Godwin begann hier mit der Niederschrift ihres Romans „Frankenstein“. hier sich von der Schönheit der Natur begeistern ließen sind vorbei und gerade jene Lobgesänge haben wohl am meisten dazu beigetragen. – Und nun leb wolalte Schreibweise für: wohl., schreibe mir bald und zürne mir nicht wegen des geliebten Bildes und sei herzlich gegrüßt von deinem treuen Vetter Franklin.


[Beilage:]


O, dürft’ ich dich küssen, geliebtes Bild!
Wie wäre mein heißes Verlangen
Im Strudel der seligsten Wonne gestillt!
Wie würd’ ich dich küssen so froh und so wild
Auf deine geheiligten Wangen! –


Wir müssen uns trennen; die Zeit ist vorbei,
Da ich, in Gedanken versunken,
Tagtäglich in süßester Träumerei
Aus deinen Zügen so zart und so frei
Den Becher der Freude getrunken!


So zieh’ denn wohl und verrath es nicht,
Daß du meine Liebe gesehen!
Denn was mir aus deinen zwei Augen spricht,
Und meine Gefühle, so klar und so licht,
Wird doch kein Dritter verstehen.

                             

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Schrift:
Beilage: Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Beilage: Feder. Tinte.
Schriftträger:
Beilage: Liniertes Papier. 17 x 18 cm.
Schreibraum:
Beilage: Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brief liegt nur als Abschrift von Sophie Haemmerli-Marti im Heft „Franklin / Jugendbriefe / An M. v. Greyerz“ (S. 3v-6v) vor. Unter den in lateinischer Schrift geschriebenen Brieftext (S. 6v) hat vermutlich Minna von Greyerz in Kurrent Wedekinds Unterschrift („Dein Franklin a/g Zephyr.“) ergänzt (hier nicht wiedergegeben). – Die mitgesandte Beilage (1 Bl., 1 S.) liegt im Original vor. Minna von Greyerz hat am oberen Rand der beschriebenen Seite notiert: „Bei Zurückgabe des Bildes von Fanny-Amsler-Laué“ (hier nicht wiedergegeben). Die Abschrift der Beilage von Sophie Haemmerli-Marti (Überschrift „Die Zurückgabe des Bildes“) ist in der Sammlung „Lose Blätter an Minna von Greyerz“ bei Heft „Franklin Wedekind / Jugendgedichte“ überliefert. Von der Hand Wedekinds existiert eine weitere Fassung: „Φανι Άμσλερ’ς Βιλδ“ (Fany Amslers Bild) [Aa, Wedekind-Archiv B, Nr. 48, („Lebensfreuden“, S. 4r); vgl. KSA 1/II, S. 1532-1535].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 31.5.1884 ist als Ankerdatum gesetzt – das späteste mögliche Schreibdatum, ausgehend davon, dass der Brief am Sonntag, den 1.6.1884, in Lenzburg eintraf [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.6.1884] – einen Tag für den Postweg von Lausanne nach Lenzburg gerechnet.

  • Schreibort

    Lausanne
    31. Mai 1884 (Samstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Lausanne
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
371-374
Kommentar:
Beilage, S. 374.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Stadtarchiv Lenzburg

CH 5600 Lenzburg
Schweiz
Rathaus

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Sophie Haemmerli-Marti
Signatur des Dokuments:
III C 3 (Beilage: Le1, Nachlass Frank Wedekind, D 540)
Standort:
Stadtarchiv Lenzburg (Lenzburg)

Danksagung

Wir danken dem Stadtarchiv Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

01.04.2024 01:45
Kennung: 19

Lausanne, 31. Mai 1884 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Greyerz, Minna von
 
 

Inhalt

Lausanne Mai 84


Liebe Cousine,

Du bist gewiß wütend auf mich, weil ich dir das Bild nicht sende. Aber siehst du, so gehts, wenn man immer unvorsichtig ist. Deinen lieben Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 8.5.1884. – Minna von Greyerz hatte Wedekind im Brief dringend um Rückgabe der Fotografie gebeten. warf ich in alle vier Ecken des Zimmers bevor ich ihn nur ausgelesen hatte und wenn du wüßtest wie manche schlaflose Nacht er mich gekostet so hättest du ihn gewiß nicht geschrieben. Kaum hatt ich ihn nämlich erhalten so entwarf ich eine lebensgroße Skizze von der Photographie und habe sie soeben erst nach vieler Mühe und Arbeit vollendet. Frau Dr AmslerDie noch nicht 20 Jahre alte Fanny Amsler, geborene Laué aus Wildegg, eine Cousine von Wedekinds Schulfreund Walter Laué, war mit dem Arzt Dr. Gerold Amsler verheiratet. ists nun freilich nicht. Aber man sieht doch so ungefähr daß sies sein soll. Das OriginalDie Fotografie liegt dem Brief nicht mehr bei. erhältst du also hiemit wieder zurück. Ich hab’ es gehütet wie meinen Augapfel und trenne mich nur mit Schmerzen davon. Denn obschon hier in Lausanne sehr viele sehr schöne Originale zu sehn sind, so hatt ich mich halt doch schon ein wenig vertieft in diese kindlich ruhigen und trotzdem scharfen edlen Züge und den tiefen und unschuldigen Blick der Augen, den ich vergebens wiederzugeben suchte. | Ueberhaupt wenn ich meine Zeichnung 1894 anstatt 84 datiere, so wird sie ungefähr naturgetreu sein. Es ist ein durchaus prophetisches Werk, das erst im Laufe der Zeit seine Rechtfertigung finden wird, da die sanften weichen Formen der Photographie schon einigermaßen etwas Hartes, Markiges erhalten haben. Als das Bild heute morgen vollendet war trat WillyFrank Wedekinds Bruder William Lincoln machte seit Herbst 1883 eine Lehre bei Emile Ruffieux, Commission & Expédition, Assurances et Importation in Lausanne. Die Brüder wohnten bei dem Tierarzt E. Gros in der Villa Mon Caprice am Chemin de Montchoisy. ins Zimmer und gab mit kritischem Kennerblick sein Urteil ab. Dann sprachen wir von vergangenen Tagen, da wir noch selbander(schweiz.) zusammen. nach Wildegg hinunter ritten und dort das HausDie Villa „Laué“ in der Bruggerstraße 18 in Wildegg lag etwa 5 Kilometer entfernt von Schloss Lenzburg. Die Geschwister Wedekind unternahmen Ausritte mit den Schlosseseln. umlagerten und an die Fenster hinauflechzten. Es war das im Winter 78 auf 79. Mich überkam bei diesen Erinnerungen eine eigentümliche Wehmut ich sprang unwillkürlich in die Ecke auf Willys geladenes Flobertgewehr„Flobertgewehr, Flobertpistole, Flobertsalongewehr, Floberttesching, nach Flobert, dem Erfinder der Einheitspatrone (1845/46), benannte Handfeuerwaffen, bei denen die treibende Kraft aus einer im Boden der Patrone eingelagerten Zündmasse besteht. Der Hahn bildet den Verschluß, durch den Hahnschlag wird der Patronenrand gequetscht und der Zündstoff entzündet. Das Geschoß besteht aus einem starken Schrotkorn oder einem kleinen Langgeschoß und vermag nur auf nahe Entfernung einen kleinen Vogel u. s. w. zu töten. Derartige Waffen sind für militär. Zwecke und für die Jagd ohne Bedeutung, sie dienen hauptsächlich als Spielzeug für die Jugend und bisweilen zu Übungs- und Ausbildungszwecken.“ [Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 14. Aufl., Bd. 6, Leipzig u. a. 1902, S. 806] los, zielte und schoß das schöne Weib mitten ins Herz. Diese Tat war zwar vollständig unlogisch, da ich ja die Wunde trug und noch trage, aber sie symbolisierte wenigstens „bildlich“ die Gegenseitigkeit, die ich umsonst in der Wirklichkeit anstrebte. Weiß ich doch noch wie heute, wie mir Fanny Laueder Mädchenname von Frau Dr. Amsler., noch ein l5jähriges Mädchen einst durch Marie Ringier eine Nichte von Fanny Oschwald und Bertha Jahn; die Lenzburger Familie Ringier war weit verzweigt. – Die gleichaltrigen Mädchen dürften gemeinsam die Bezirksschule in Lenzburg besucht haben.sagen ließ, wenn ich jetzt dann nicht aufhöre ihr immer nachzulaufen, so werde sie es ihrem VaterEmil Laué, Fabrikbesitzer in Wildegg und Mitglied im Verwaltungsrat der Schweizerischen Nordostbahngesellschaft. sagen. | Doch war es nicht das einzige Mal, daß ich so schnöde, so wegwerfend behandelt wurde. Im Gegenteil! Es war das nur eine der vielen Variationen meines ewigen, unabänderlichen Schicksals, das mich wie ein treuer Freund auf allen Wegen und Stegen begleitet. –––

Warum willst du mir denn eigentlich nichts von Blanches LiebenswürdigkeitFür Blanche Zweifel, geborene Gaudard, schwärmte Wedekind im Winter 1883/84. schreiben? Sei überzeugt, du würdest einen sehr aufmerksamen Leser finden und gerade solche Kleinigkeiten laßen sich in Briefen bei weitem beßer behandeln als bedeutende Ereignisse und wichtige Fragen von Weltbedeutung. Denn sieh, das ist auch der Fehler an meinem Briefwechsel mit Frl. BarckZuletzt hatte Anny Barck aus Freiburg im Breisgau – Wedekinds Schwarm im Sommer 1883 – geschrieben [vgl. Anny Barck an Wedekind, 14.4.1884]. Spätere Korrespondenzen sind nicht überliefert.. Wir schreiben uns gegenseitig über Meinungen und Ansichten, wie man in jedem wissenschaftlichen Buche ebenso gut lesen kann und darum will auch die Correspondenz immer noch nicht recht in Fluß kommen. Solch einen Brief, den liest man einmal und weiß dann was darin steht. Während dem, wenn sie mir von sich selbst, von ihrem Leben etc | schreiben würde, ihre Persönlichkeit viel mehr zur Geltung, zum Ausdruck käme und ich nicht mit toten Buchstaben, sondern mit ihren eigenen gesprochenen Worten mich unterhalten könnte. Schreibe mir also immerhin à la Blanches Gedanken am Arbeitstisch über alles Erdenkliche, über die Lenzburger Damenwelt, über das Wetter, über Stadtgespräche, denn gerade für solchen Klatsch sind die Briefe erfunden und gerade in der Behandlung solcher Kleinigkeiten wird die Schreiberin selber am Besten zur Geltung kommen. –

Du hast also wiederMinna von Greyerz hatte ihren ersten Brief an Wedekinds sogenannte Tante Olga Plümacher im Januar 1884 geschrieben [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 13.1.1884]. an Tante Plümacher geschrieben. Nun, das wird sie sehr freuen, denn selbst der größte Geist ist nicht gegen alle Flatusenauch Fladusen (regional) Schmeichelei. schlag- und stichfest. Ich hab ihr leider noch nicht geantwortet auf ihren lieben BriefOlga Plümacher an Wedekind, 19.4.1884. und weiß in Folge dessen auch nichts neues von ihr, was etwa dein Schreiben betreffen könnte. |

Lausanne ist im allgemeinen ein äußerst langweiliges Nest, besonders wenn man die verschiedenen Curiosa abgeweidet und sich an das hiesige Leben einmal gewöhnt hat. Das einzige Bemerkenswerte sind die EngländerDie Schweiz war beliebtes Reiseziel der Engländer, die wesentlich zur Entwicklung des schweizerischen Tourismus im 19. Jahrhundert beitrugen. Seit 1863 bot Thomas Cook geführte Reisen durch die Alpenlandschaft an, die dank der Werke der englischen Romantiker (George Byron, Mary Shelley, Samuel Taylor, William Turner) dem Bildungsbürgertum bekannt geworden war und nach der Schweizreise von Queen Victoria (1868) noch einmal an Beliebtheit gewann [vgl. Beat Kümin; Kaspar von Greyerz; Neville Wylie; Sacha Zala: „Grossbritannien“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.01.2018. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003356/2018-01-11/, konsultiert am 18.01.2024]. und besonders die Engländerinnen. Ueber ihre Toiletten allein könnte man schon ein ganzes Werk schreiben. Potz Blitz! – Da solltest du ein mal sehn! Alles roth, nicht etwa rosa oder kirschrot, nein alles ziegelrot, grelles schreiendes Ziegelrot. Dabei tragen sich auch viele Engländerinnen ganz weiß oder hellgelb. Aber immer, trotz aller Extravaganz, geschmackvoll und einfach. Am anziehendsten sind die runden vollen Gesichtchen der jungen Mädchen unter 16 Jahren. Der große Mund mit blendendweißen Zähnen, die großen runden Augen, umrahmt von starken Augenbrauen machen sich sehr gut, meistens frische gesunde altgermanische PhisionomienSchreibversehen oder Lesefehler, statt: Physiognomien.. Das schönste aber sind | die herrlichen Figuren, der hohe schlanke Wuchs deßen feine Eleganz bei der vornehmen Lässigkeit der Bewegung sehr vorteilhaft hervortritt. Die Frisuren sind meistens einfach. Junge Mädchen tragen ihre hellblonde dichte Lockenfülle gewöhnlich ganz offen. Am besten hat mir ein Kopf gefallen mit ebenfalls blonden aber ganz kurz geschorenen Locken. Ein leichter koketter Hut setzte der ganzen Erscheinung die Krone auf.emendiert aus: auf. (auf u.– wohl ein Schreibversehen Sophie Hämmerli-Martis. Aber aus dem geschmacklosen zweckwidrigen Modeschwindel einer Pariser oder Berliner Zeitung sind gewiß all diese Herrlichkeiten nicht geschöpft.

Wann wird man wohl auch in Lenzburg mal so vernünftig werden? o jemine!! ––

Schöner als die Stadt Lausanne selber ist die Umgegend, der See, die Berge, die Sonnigen Rebgelände, o das ist alles bezaubernd schön. Aber man hat weit zu gehen, will man die wahre, unzersetzte Natur finden, will man die letzten der störenden Civilisation hinter sich lassen. Entweder weit im See draußen oder auf den höchsten Bergesspitzen findet man erst Gelegenheit mit sich allein zu sein, sich zu sammeln. | Aber die Zeiten, da RousseauJean Jacques Rousseau, in Genf geboren, unternahm 1730/31 eine Fußreise durch die Schweiz, die ihn unter anderem durch Lausanne und Nyon am Nordufer des Genfersees führte. Schauplatz seines Romans „Die neue Héloïse“ ist Clarens am Ostufer des Sees., da ByronsGemeint sind George Byron, sein Leibarzt und Geliebter John William Polidori sowie Percy Shelley mit seiner Geliebten Mary Godwin (spätere Shelley), und deren Halbschwester Claire Clairmont, die zwischen Mai und Oktober 1816 in der Villa Diodati in Cologny am Genfersee in einer Ménage zu fünft lebten. Mary Godwin begann hier mit der Niederschrift ihres Romans „Frankenstein“. hier sich von der Schönheit der Natur begeistern ließen sind vorbei und gerade jene Lobgesänge haben wohl am meisten dazu beigetragen. – Und nun leb wolalte Schreibweise für: wohl., schreibe mir bald und zürne mir nicht wegen des geliebten Bildes und sei herzlich gegrüßt von deinem treuen Vetter Franklin.


[Beilage:]


O, dürft’ ich dich küssen, geliebtes Bild!
Wie wäre mein heißes Verlangen
Im Strudel der seligsten Wonne gestillt!
Wie würd’ ich dich küssen so froh und so wild
Auf deine geheiligten Wangen! –


Wir müssen uns trennen; die Zeit ist vorbei,
Da ich, in Gedanken versunken,
Tagtäglich in süßester Träumerei
Aus deinen Zügen so zart und so frei
Den Becher der Freude getrunken!


So zieh’ denn wohl und verrath es nicht,
Daß du meine Liebe gesehen!
Denn was mir aus deinen zwei Augen spricht,
Und meine Gefühle, so klar und so licht,
Wird doch kein Dritter verstehen.

                             

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Schrift:
Beilage: Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Beilage: Feder. Tinte.
Schriftträger:
Beilage: Liniertes Papier. 17 x 18 cm.
Schreibraum:
Beilage: Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brief liegt nur als Abschrift von Sophie Haemmerli-Marti im Heft „Franklin / Jugendbriefe / An M. v. Greyerz“ (S. 3v-6v) vor. Unter den in lateinischer Schrift geschriebenen Brieftext (S. 6v) hat vermutlich Minna von Greyerz in Kurrent Wedekinds Unterschrift („Dein Franklin a/g Zephyr.“) ergänzt (hier nicht wiedergegeben). – Die mitgesandte Beilage (1 Bl., 1 S.) liegt im Original vor. Minna von Greyerz hat am oberen Rand der beschriebenen Seite notiert: „Bei Zurückgabe des Bildes von Fanny-Amsler-Laué“ (hier nicht wiedergegeben). Die Abschrift der Beilage von Sophie Haemmerli-Marti (Überschrift „Die Zurückgabe des Bildes“) ist in der Sammlung „Lose Blätter an Minna von Greyerz“ bei Heft „Franklin Wedekind / Jugendgedichte“ überliefert. Von der Hand Wedekinds existiert eine weitere Fassung: „Φανι Άμσλερ’ς Βιλδ“ (Fany Amslers Bild) [Aa, Wedekind-Archiv B, Nr. 48, („Lebensfreuden“, S. 4r); vgl. KSA 1/II, S. 1532-1535].

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 31.5.1884 ist als Ankerdatum gesetzt – das späteste mögliche Schreibdatum, ausgehend davon, dass der Brief am Sonntag, den 1.6.1884, in Lenzburg eintraf [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.6.1884] – einen Tag für den Postweg von Lausanne nach Lenzburg gerechnet.

  • Schreibort

    Lausanne
    31. Mai 1884 (Samstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Lausanne
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
371-374
Kommentar:
Beilage, S. 374.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Stadtarchiv Lenzburg

CH 5600 Lenzburg
Schweiz
Rathaus

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Sophie Haemmerli-Marti
Signatur des Dokuments:
III C 3 (Beilage: Le1, Nachlass Frank Wedekind, D 540)
Standort:
Stadtarchiv Lenzburg (Lenzburg)

Danksagung

Wir danken dem Stadtarchiv Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 31.5.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

01.04.2024 01:45