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Kennung: 1898

Festung Königstein, 24. Oktober 1899 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Thomas Theodor

Inhalt

Lieber Herr Heine,

ich habe Ihnen noch für Ihren Briefvgl. Thomas Theodor Heine an Wedekind, 6.10.1899 und 9.10.1899. zu danken, in dem Sie mir Ihren AbstiegThomas Theodor Heines Entlassung aus der Festungshaft am 29.9.1899, seine brieflich geschilderte Abreise von der hoch gelegenen Festung Königstein, deren Topografie er betonte [vgl. Thomas Theodor Heine an Wedekind, 6.10.1899]. erzählen, den ich allerdings nicht beobachten konnte so sehr ich nach Ihnen ausschaute. Daß ich mich seither nicht sehr lebhaft amüsiere können Sie sich wol denken. Der brave Preiskerder Briefträger Paul Richard Preißker in Königstein (Schandauerstraße 173) [vgl. Adreß- und Geschäfts-Handbuch Königstein 1894/96, S. 19]. ist der einzige der mir hie und da etwas Unterhaltung zukommen läßt. Von unsern beiden Mitgefangenennicht identifiziert. ist der Eine, Ihr pfeifendes Vis à visGegenüber; von (frz.) Vis-à-vis (von Angesicht zu Angesicht). abgezogen, der Andere fängt immer noch Mäuse. Ich selbst bin mit meinen Gedanken | meistens in München, auch sehr viel in Münch bei Ihnen. Welchen Eindruck hat Ihr BildThomas Theodor Heine muss noch in Festungshaft die Zeichnung angefertigt haben, die unter dem Titel „Entlassung eine Sträflings“ (ausgewiesen: „Zeichnung von Th. Th. Heine“) Ende September 1899 auf dem Titelblatt des „Simplicissimus“ erschienen ist [vgl. Simplicissimus, Jg. 4, Nr. 27, Titelseite]. Die Presse hat darüber berichtet: „Die Nr. 27 des ‚Simplicissimus‘ [...] bringt nach langer Pause wieder das erste Titelbild von seinem geistreichsten Mitarbeiter Thomas Theodor Heine, der seine sechsmonatliche Festungshaft auf dem Königstein jetzt verbüßt hat. Der geniale Künstler, den sein beißender Humor in die Haft gebracht hat, zeigt mit der ersten Zeichnung schon deutlich, daß ihm sein Witz treu geblieben ist. In geistreicher Selbstpersiflage zeichnet er uns die ‚Entlassung eines Sträflings‘, dem vom Vorsitzenden des Bundes zur Besserung entlassener Sträflinge als erstes Requisit eines anständigen Menschen die Schnurrbartbinde überreicht wird. Auch der übrige Inhalt dieser übrigens glänzenden Nummer beschäftigt sich zum Teil mit seiner Befreiung aus der Haft. Wir schließen uns den Wünschen der Redaktion an und freuen uns, jetzt wieder regelmäßig im Simplicissimus die künstlerisch genialen Zeichnungen und geistreichen Einfälle des eminenten Satirikers bewundern zu können.“ [Thomas Theodor Heine. In: Wittener Zeitung, Jg. 48, Nr. 265, 26.9.1899, S. (3)] gemacht? Es müßte doch auch jedenfalls als Photographie im Kunsthandel einen kräftigen Erfolg haben. ‒ Meine geistige Nahrung beziehe ich augenblicklich aus Friedrich dem GroßenDer Preußenkönig Friedrich II. ließ seine Truppen 1756 ohne Kriegserklärung in das Kürfürstentum Sachen einmarschieren und eröffnete so den Siebenjährigen Krieg, der Preußen zur Großmacht werden ließ. Der sächsische Kurfürst Friedrich August II. musste von der Festung Königstein aus gleich zu Kriegsbeginn erleben, wie seine Armee vor der preußischen kampflos kapitulierte.; Siebenjähriger Krieg von Archenholz, bei ReclamWedekind hat eine zweibändige Ausgabe der im Verlag Philipp Reclam jun. in Leipzig neu aufgelegten „Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland“ (1868) von Johann Wilhelm von Archenholz benutzt [vgl. Joh. Wilh. von Archenholtz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland. 2 Bde. Leipzig o.J.]. erschienen, würde Sie im Beginn jedenfalls sehr interessieren, starkes Zeitcolorit, CamarillaKreis von Günstlingen um eine Herrscherfigur., speciell sächsisch polnisch. Die Handlung bewegt sich zum Beginn fortwährend um Königstein. Dann die Briefe Friedrichs II (auch ReclamWedekind dürfte die von Adolf Kannengießer in der Reihe „Reclams Universal-Bibliothek“ herausgegebene Briefausgabe benutzt haben [vgl. Dreihundert ausgewählte Briefe Friedrichs des Großen. Zusammengesetzt, übersetzt und erläutert von A. Kannengießer. Leipzig 1898].) werfen sehr viel Schlaglichter auf unsere Zeit, ließen sich eventuell | auch mit Erfolg zu Witzen ausbeuten. Meine Arbeit geht bei alledem sehr langsam vorwärts, aber ich hoffe es wird etwas. In München haben Sie derweil wieder ein literarisches Ereignis gehabt, Schaumbergers TrauerspieJulius Schaumbergers Schauspiel „Pepi Danegger“ (1898) wurde am 14.10.1899 im Münchner Schauspielhaus unter der Regie von Siegfried Raabe mit Centa Bré in der Titelrolle uraufgeführt [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 473, 13.10.1899, Morgenblatt, S. 2].l, der Name ist mir entfallen. Waren Sie dabei? Es ist das Einzige was ich seit Wochen aus München gehört habe und auch das nur aus dem Berliner TagblattWedekind hat am 15.10.1899 im „Berliner Tageblatt“ lesen können: „Aus München meldet uns ein Privattelegramm: Julius Schaumbergers dreiaktiges Schauspiel ‚Pepi Danegger‘ fand bei der gestrigen Erstaufführung im hiesigen Schauspielhaus eine freundliche Aufnahme. Nach den ersten beiden Akten war der Beifall stark, am Schlusse des Stückes stieß er auf Widerspruch.“ [Berliner Tagblatt, Jg. 28, Nr. 526, 15.10.1899, S. (3)] Eine ausführlichere Besprechung des Münchner Korrespondenten konnte er zwei Tage später lesen: „Das Stück behandelt eine Episode aus der chronique scandaleuse einer Kleinstadt. Pepi Danegger, die Frau eines Kirchenchordirigenten in einem baierischen Provinzstädtchen, fühlt sich an der Seite ihres braven, spießbürgerlichen Mannes tief unglücklich: sie empfindet die bekannte ‚innere Leere‘ und sehnt sich nach dem pulsirenden Leben, nach den Freuden der Großstadt, die sie in ihrer Jugend schon genossen hat. Und als ein Vertreter dieser Großstadt, ein junger Assessor, der aus moralischen Rücksichten in das Provinznest verbannt wurde, auf der Bildfläche erscheint [...], da wirft sich Frau Pepi dem eleganten jungen Mann [...] an den Hals. [...] Diese Freude ist jedoch von kurzer Dauer. Die frühere Geliebte des Assessors [...] ist ihrem Liebhaber in die Provinzstadt nachgereist. Der Don Juan zögert keinen Augenblick; er verabschiedet mit ziemlich kühlen Worten seine Hausfrau [...]. Die verabschiedete Pepi [...] wird ganz rabiat und will die Nebenbuhlerin erdolchen, trifft aber unglücklicherweise den Geliebten. [...] Mag das Stück auch in der Hauptsache verfehlt sein, es zeigt trotzdem eine Reihe feiner Züge, scharfer Beobachtungen und wirksam gezeichneter Charaktere wie den des Assessors und die der Typen aus der Kleinstadt. Die starke dramatische Ader des Autors ist unverkennbar. Die Vorstellung zeichnete sich wie alle Darbietungen des Münchener Schauspielhauses durch vortreffliches Zusammenspiel aus. [...] Entsprechend dem zwiespältigen Charakter des Stückes war die Aufnahme, die es beim Publikum fand; der starke Beifall am Schlusse stieß auf energischen Protest.“ [Münchener Theater. In: Berliner Tagblatt, Jg. 28, Nr. 529, 16.10.1899, Abend-Ausgabe, S. (3)]. Vor meinem Fenster hat gegenwärtig das Exercieren begonnen, so daß die Ruhe keine Ruhe mehr ist und die Einsamkeit keine Einsamkeit. So wenig ich Ihnen, Herr Heine mitzutheilen habe drängt es mich doch sehr, Sie wissen zu lassen, daß ich die mit Ihnen verlebten | TageWedekind und Thomas Theodor Heine, beide wegen Majestätsbeleidigung in der Palästina-Nummer des „Simplicissimus“ verurteilt [vgl. KSA 1/II, S. 1710], verbrachten acht Tage ihrer Haft auf der Festung Königstein in der Zeit vom 21. bis 29.9.1899 gemeinsam. nicht vergesse. Sie sagen, das ist kein Kunststück wenn man niemand anders hat, aber ich sehne mich auch nicht nach neuen Gefährten. Witze kann ich Ihnen auch nicht schreiben, es sind mir keine mehr eingefallen. Haben Sie die beiden Miss Coeurnekeine Anspielung auf Miss Isabel Coeurne [vgl. KSA 4, S. 12], die Figur aus Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ (1899), auch nicht auf deren Vorbild, die „Amerikanerin Edla Isabel Coern (der Name ist in den verschiedensten Schreibweisen überliefert [...]), die [...] der Autor [...] 1886 in München kennenlernte“ [KSA 4, S. 351], mit der er eine kleine Reise unternommen hat [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 13.9.1891] und von der eine Widmung an ihn überliefert ist [vgl. Edla Isabel Coeurn an Wedekind, 15.9.1891]; gemeint sind ihre Stiefschwestern Jenny Linda Corne und Fanny Elizabeth Corne aus den USA, Schwestern des Komponisten Louis Adolph Coerne, der in München studiert hatte. gesehen? Ich möchte Sie nicht veranlassen, mir nur aus Freundlichkeit zu antworten, da ich selbst kein Held im brieflichen Verkehr bin, aber von mir werden Sie wol noch einige Zuschriften erhalten bevor wir uns wiedersehen. Also seien Sie herzlichst gegrüßt. Mit den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen
Ihr
Frank Wedekind.


Festng. Königstein

24.X.99.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oben auf Seite 1 befindet sich ein archivalischer Bleistiftvermerk „(Th. Th. Heine)“ von fremder Hand.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Festung Königstein
    24. Oktober 1899 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Festung Königstein
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Privatbesitz

Danksagung

Wir danken für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Thomas Theodor Heine, 24.10.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

09.09.2024 10:41
Kennung: 1898

Festung Königstein, 24. Oktober 1899 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Heine, Thomas Theodor
 
 

Inhalt

Lieber Herr Heine,

ich habe Ihnen noch für Ihren Briefvgl. Thomas Theodor Heine an Wedekind, 6.10.1899 und 9.10.1899. zu danken, in dem Sie mir Ihren AbstiegThomas Theodor Heines Entlassung aus der Festungshaft am 29.9.1899, seine brieflich geschilderte Abreise von der hoch gelegenen Festung Königstein, deren Topografie er betonte [vgl. Thomas Theodor Heine an Wedekind, 6.10.1899]. erzählen, den ich allerdings nicht beobachten konnte so sehr ich nach Ihnen ausschaute. Daß ich mich seither nicht sehr lebhaft amüsiere können Sie sich wol denken. Der brave Preiskerder Briefträger Paul Richard Preißker in Königstein (Schandauerstraße 173) [vgl. Adreß- und Geschäfts-Handbuch Königstein 1894/96, S. 19]. ist der einzige der mir hie und da etwas Unterhaltung zukommen läßt. Von unsern beiden Mitgefangenennicht identifiziert. ist der Eine, Ihr pfeifendes Vis à visGegenüber; von (frz.) Vis-à-vis (von Angesicht zu Angesicht). abgezogen, der Andere fängt immer noch Mäuse. Ich selbst bin mit meinen Gedanken | meistens in München, auch sehr viel in Münch bei Ihnen. Welchen Eindruck hat Ihr BildThomas Theodor Heine muss noch in Festungshaft die Zeichnung angefertigt haben, die unter dem Titel „Entlassung eine Sträflings“ (ausgewiesen: „Zeichnung von Th. Th. Heine“) Ende September 1899 auf dem Titelblatt des „Simplicissimus“ erschienen ist [vgl. Simplicissimus, Jg. 4, Nr. 27, Titelseite]. Die Presse hat darüber berichtet: „Die Nr. 27 des ‚Simplicissimus‘ [...] bringt nach langer Pause wieder das erste Titelbild von seinem geistreichsten Mitarbeiter Thomas Theodor Heine, der seine sechsmonatliche Festungshaft auf dem Königstein jetzt verbüßt hat. Der geniale Künstler, den sein beißender Humor in die Haft gebracht hat, zeigt mit der ersten Zeichnung schon deutlich, daß ihm sein Witz treu geblieben ist. In geistreicher Selbstpersiflage zeichnet er uns die ‚Entlassung eines Sträflings‘, dem vom Vorsitzenden des Bundes zur Besserung entlassener Sträflinge als erstes Requisit eines anständigen Menschen die Schnurrbartbinde überreicht wird. Auch der übrige Inhalt dieser übrigens glänzenden Nummer beschäftigt sich zum Teil mit seiner Befreiung aus der Haft. Wir schließen uns den Wünschen der Redaktion an und freuen uns, jetzt wieder regelmäßig im Simplicissimus die künstlerisch genialen Zeichnungen und geistreichen Einfälle des eminenten Satirikers bewundern zu können.“ [Thomas Theodor Heine. In: Wittener Zeitung, Jg. 48, Nr. 265, 26.9.1899, S. (3)] gemacht? Es müßte doch auch jedenfalls als Photographie im Kunsthandel einen kräftigen Erfolg haben. ‒ Meine geistige Nahrung beziehe ich augenblicklich aus Friedrich dem GroßenDer Preußenkönig Friedrich II. ließ seine Truppen 1756 ohne Kriegserklärung in das Kürfürstentum Sachen einmarschieren und eröffnete so den Siebenjährigen Krieg, der Preußen zur Großmacht werden ließ. Der sächsische Kurfürst Friedrich August II. musste von der Festung Königstein aus gleich zu Kriegsbeginn erleben, wie seine Armee vor der preußischen kampflos kapitulierte.; Siebenjähriger Krieg von Archenholz, bei ReclamWedekind hat eine zweibändige Ausgabe der im Verlag Philipp Reclam jun. in Leipzig neu aufgelegten „Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland“ (1868) von Johann Wilhelm von Archenholz benutzt [vgl. Joh. Wilh. von Archenholtz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland. 2 Bde. Leipzig o.J.]. erschienen, würde Sie im Beginn jedenfalls sehr interessieren, starkes Zeitcolorit, CamarillaKreis von Günstlingen um eine Herrscherfigur., speciell sächsisch polnisch. Die Handlung bewegt sich zum Beginn fortwährend um Königstein. Dann die Briefe Friedrichs II (auch ReclamWedekind dürfte die von Adolf Kannengießer in der Reihe „Reclams Universal-Bibliothek“ herausgegebene Briefausgabe benutzt haben [vgl. Dreihundert ausgewählte Briefe Friedrichs des Großen. Zusammengesetzt, übersetzt und erläutert von A. Kannengießer. Leipzig 1898].) werfen sehr viel Schlaglichter auf unsere Zeit, ließen sich eventuell | auch mit Erfolg zu Witzen ausbeuten. Meine Arbeit geht bei alledem sehr langsam vorwärts, aber ich hoffe es wird etwas. In München haben Sie derweil wieder ein literarisches Ereignis gehabt, Schaumbergers TrauerspieJulius Schaumbergers Schauspiel „Pepi Danegger“ (1898) wurde am 14.10.1899 im Münchner Schauspielhaus unter der Regie von Siegfried Raabe mit Centa Bré in der Titelrolle uraufgeführt [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 473, 13.10.1899, Morgenblatt, S. 2].l, der Name ist mir entfallen. Waren Sie dabei? Es ist das Einzige was ich seit Wochen aus München gehört habe und auch das nur aus dem Berliner TagblattWedekind hat am 15.10.1899 im „Berliner Tageblatt“ lesen können: „Aus München meldet uns ein Privattelegramm: Julius Schaumbergers dreiaktiges Schauspiel ‚Pepi Danegger‘ fand bei der gestrigen Erstaufführung im hiesigen Schauspielhaus eine freundliche Aufnahme. Nach den ersten beiden Akten war der Beifall stark, am Schlusse des Stückes stieß er auf Widerspruch.“ [Berliner Tagblatt, Jg. 28, Nr. 526, 15.10.1899, S. (3)] Eine ausführlichere Besprechung des Münchner Korrespondenten konnte er zwei Tage später lesen: „Das Stück behandelt eine Episode aus der chronique scandaleuse einer Kleinstadt. Pepi Danegger, die Frau eines Kirchenchordirigenten in einem baierischen Provinzstädtchen, fühlt sich an der Seite ihres braven, spießbürgerlichen Mannes tief unglücklich: sie empfindet die bekannte ‚innere Leere‘ und sehnt sich nach dem pulsirenden Leben, nach den Freuden der Großstadt, die sie in ihrer Jugend schon genossen hat. Und als ein Vertreter dieser Großstadt, ein junger Assessor, der aus moralischen Rücksichten in das Provinznest verbannt wurde, auf der Bildfläche erscheint [...], da wirft sich Frau Pepi dem eleganten jungen Mann [...] an den Hals. [...] Diese Freude ist jedoch von kurzer Dauer. Die frühere Geliebte des Assessors [...] ist ihrem Liebhaber in die Provinzstadt nachgereist. Der Don Juan zögert keinen Augenblick; er verabschiedet mit ziemlich kühlen Worten seine Hausfrau [...]. Die verabschiedete Pepi [...] wird ganz rabiat und will die Nebenbuhlerin erdolchen, trifft aber unglücklicherweise den Geliebten. [...] Mag das Stück auch in der Hauptsache verfehlt sein, es zeigt trotzdem eine Reihe feiner Züge, scharfer Beobachtungen und wirksam gezeichneter Charaktere wie den des Assessors und die der Typen aus der Kleinstadt. Die starke dramatische Ader des Autors ist unverkennbar. Die Vorstellung zeichnete sich wie alle Darbietungen des Münchener Schauspielhauses durch vortreffliches Zusammenspiel aus. [...] Entsprechend dem zwiespältigen Charakter des Stückes war die Aufnahme, die es beim Publikum fand; der starke Beifall am Schlusse stieß auf energischen Protest.“ [Münchener Theater. In: Berliner Tagblatt, Jg. 28, Nr. 529, 16.10.1899, Abend-Ausgabe, S. (3)]. Vor meinem Fenster hat gegenwärtig das Exercieren begonnen, so daß die Ruhe keine Ruhe mehr ist und die Einsamkeit keine Einsamkeit. So wenig ich Ihnen, Herr Heine mitzutheilen habe drängt es mich doch sehr, Sie wissen zu lassen, daß ich die mit Ihnen verlebten | TageWedekind und Thomas Theodor Heine, beide wegen Majestätsbeleidigung in der Palästina-Nummer des „Simplicissimus“ verurteilt [vgl. KSA 1/II, S. 1710], verbrachten acht Tage ihrer Haft auf der Festung Königstein in der Zeit vom 21. bis 29.9.1899 gemeinsam. nicht vergesse. Sie sagen, das ist kein Kunststück wenn man niemand anders hat, aber ich sehne mich auch nicht nach neuen Gefährten. Witze kann ich Ihnen auch nicht schreiben, es sind mir keine mehr eingefallen. Haben Sie die beiden Miss Coeurnekeine Anspielung auf Miss Isabel Coeurne [vgl. KSA 4, S. 12], die Figur aus Wedekinds Einakter „Der Kammersänger“ (1899), auch nicht auf deren Vorbild, die „Amerikanerin Edla Isabel Coern (der Name ist in den verschiedensten Schreibweisen überliefert [...]), die [...] der Autor [...] 1886 in München kennenlernte“ [KSA 4, S. 351], mit der er eine kleine Reise unternommen hat [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 13.9.1891] und von der eine Widmung an ihn überliefert ist [vgl. Edla Isabel Coeurn an Wedekind, 15.9.1891]; gemeint sind ihre Stiefschwestern Jenny Linda Corne und Fanny Elizabeth Corne aus den USA, Schwestern des Komponisten Louis Adolph Coerne, der in München studiert hatte. gesehen? Ich möchte Sie nicht veranlassen, mir nur aus Freundlichkeit zu antworten, da ich selbst kein Held im brieflichen Verkehr bin, aber von mir werden Sie wol noch einige Zuschriften erhalten bevor wir uns wiedersehen. Also seien Sie herzlichst gegrüßt. Mit den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen
Ihr
Frank Wedekind.


Festng. Königstein

24.X.99.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oben auf Seite 1 befindet sich ein archivalischer Bleistiftvermerk „(Th. Th. Heine)“ von fremder Hand.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Festung Königstein
    24. Oktober 1899 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Festung Königstein
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Privatbesitz

Danksagung

Wir danken für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Thomas Theodor Heine, 24.10.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

09.09.2024 10:41