Vergleichsansicht

Bitte wählen Sie je ein Dokument für die linke und rechte Seite über die Eingabefelder aus.

Kennung: 1886

München, 7. Dezember 1912 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Mann, Thomas

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

MÜNCHEN, DEN 7.XII.1912.
MAUERKIRCHERSTR. 13


Sehr geehrter Herr Wedekind:

Gleich nach Empfang Ihres BriefesWedekind an Thomas Mann, 6.12.1912. Der abgesandte Brief, in dem die Worte „Anstoß“ und „Maßregeln“ fielen, ist verschollen; erhalten ist ein Briefentwurf mit dem Entwurf einer Beilage. habe ich mich natürlich an das Polizei-Präsidium mit der Frage gewandt, wie ein Gespräch gleich dem von Ihnen fixierten habe stattfinden können. Ich mußte mich belehren lassen, daß überhaupt keines stattgefunden habe.

Sollte es Ihnen, geehrter Herr Wedekind, irgendwelche Schwierigkeiten machen, mir den Widerspruch zwischen dieser bündigen Versicherung der Behörde und Ihrem Schreiben zu erklären, so verzichte ich gern auf die Lösung des Rätsels.

Unter allen Umständen können Sie | sich überzeugt halten, daß ich nicht der Mann bin, an Ihren Dichtungen „Anstoß“ zu nehmen und die Behörde zu irgendwelchen „Maßregeln“ dagegen zu veranlassen. Dieser Gedanke ist absurd, und ich bedauere, daß Sie ihn überhaupt zuließen. Im Gegenteil sehe ich meine Aufgabe als Mitglied des Censur-BeiratesDer Münchner Polizeipräsident Julius von der Heydte hatte im Frühjahr 1908 einen Zensurbeirat berufen, ein der Polizeidirektion München unterstelltes und von Wedekind publizistisch heftig bekämpftes Gremium mit wechselnden Mitgliedern, das sich aus Universitätsprofessoren, Honoratioren der Stadt und Schriftstellern zusammensetzte, darunter seit Frühjahr 1912 Thomas Mann ‒ er erklärte dem Polizeipräsidenten am 26.5.1913 kollegialer Rücksichten wegen dann seinen Austritt [vgl. Mayer 1982, S. 288]. darin, die Aufseher der oeffentlichen Ordnung vor Eingriffen in Werke von Dichtungsrang zu warnen. Diese Möglichkeit, die Censur-Behörde, so lange sie nun einmal besteht, von Fall zu Fall meine Meinung wissen zu lassen, ist mir von Wert, und ich beabsichtige nicht, sie aufzugeben. Auch heute habe ich die Gelegenheit nicht versäumt, dem Polizeipräsidenten die Freigabe des von ihm be|anstandeten SatzesStreichungsauflagen der Münchner Polizeidirektion für die öffentliche Aufführung von „Franziska“ waren zwar reduziert worden [vgl. KSA 7/II, S. 1156], gestrichen blieb aber laut Verfügung der Polizeidirektion vom 4.12.1912 [vgl. KSA 7/II, S. 1198] u.a. eine Replik von Veit Kunz (in der Uraufführung von Wedekind gespielt) in der Szene V/3: „Immerhin finde ich es weniger unsittlich, von zwei Männern ein uneheliches Kind zu haben, als von einem zwei.“ [KSA 7/I, S. 385] Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim schrieb am 23.12.1912 an Maximilian Harden über Wedekind, dieser habe „vor dem Zensurbeirat eine hysterische Wansinnsscene aufgeführt und sich schließlich mit – Thomas Mann entzweit, den er – natürlich fälschlicherweise – für den Anlaß hält; daß die Censur, die in unglaublicher, nie dagewesener Toleranz und fast sträflicher Liberalität die Aufführung selbst der heikelsten Scenen dieses ‚Mysteriums‘ [...] gestattet hatte, daß die Censur ihm einen Satz schließlich strich. Dieser Satz lautet, echt wedekindisch ‚ich halte es immer noch für anständiger, zwei Väter zu einem Kind, als zwei Kinder von einem Vater zu haben‘.“ [Neumann 2006, S. 122f.] zu empfehlen; leider glaubte er nicht, sich dazu entschließen zu dürfen.

Lassen Sie mich übrigens hinzufügen, daß die betreffende Replik vielleicht zu den im Theatersinne wirksamsten, aber gewiß nicht zu den bedeutendsten Ihres Mysteriums gehört. Mir schienThomas Mann saß also am 30.11.1912 bei der Uraufführung von Wedekinds ‚modernem Mysterium‘ „Franziska“ in den Münchner Kammerspielen (Regie: Eugen Robert, in den Hauptrollen Tilly und Frank Wedekind) im Publikum. Es handelte sich um eine geschlossene Vorstellung, bei der das Stück unzensiert gespielt wurde. bei der ersten oeffentlichen Aufführung sogar, als ob die dankbare Heiterkeit des Publikums an dieser Stelle Sie selbst enerviere und als ob Sie, abgewandt, mit einer gewissen Ungeduld das Aufhören des Gelächters erwarteten.

In unveränderter, unveränderlicher Wertschätzung,
sehr geehrter Herr Wedekind,
Ihr ergebener
Thomas Mann.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13 x 20,5 cm. Mit gedrucktem Briefkopf. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat eine größere Passage auf Seite 2 mit rotem Buntstift angestrichen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    7. Dezember 1912 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Briefe 1889‒1936

Autor:
Thomas Mann
Herausgeber:
Erika Mann
Verlag:
Frankfurt am Main: S. Fischer
Jahrgang:
1961
Seitenangabe:
97-98
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 110
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Thomas Mann an Frank Wedekind, 7.12.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

28.08.2024 16:47
Kennung: 1886

München, 7. Dezember 1912 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Mann, Thomas

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

MÜNCHEN, DEN 7.XII.1912.
MAUERKIRCHERSTR. 13


Sehr geehrter Herr Wedekind:

Gleich nach Empfang Ihres BriefesWedekind an Thomas Mann, 6.12.1912. Der abgesandte Brief, in dem die Worte „Anstoß“ und „Maßregeln“ fielen, ist verschollen; erhalten ist ein Briefentwurf mit dem Entwurf einer Beilage. habe ich mich natürlich an das Polizei-Präsidium mit der Frage gewandt, wie ein Gespräch gleich dem von Ihnen fixierten habe stattfinden können. Ich mußte mich belehren lassen, daß überhaupt keines stattgefunden habe.

Sollte es Ihnen, geehrter Herr Wedekind, irgendwelche Schwierigkeiten machen, mir den Widerspruch zwischen dieser bündigen Versicherung der Behörde und Ihrem Schreiben zu erklären, so verzichte ich gern auf die Lösung des Rätsels.

Unter allen Umständen können Sie | sich überzeugt halten, daß ich nicht der Mann bin, an Ihren Dichtungen „Anstoß“ zu nehmen und die Behörde zu irgendwelchen „Maßregeln“ dagegen zu veranlassen. Dieser Gedanke ist absurd, und ich bedauere, daß Sie ihn überhaupt zuließen. Im Gegenteil sehe ich meine Aufgabe als Mitglied des Censur-BeiratesDer Münchner Polizeipräsident Julius von der Heydte hatte im Frühjahr 1908 einen Zensurbeirat berufen, ein der Polizeidirektion München unterstelltes und von Wedekind publizistisch heftig bekämpftes Gremium mit wechselnden Mitgliedern, das sich aus Universitätsprofessoren, Honoratioren der Stadt und Schriftstellern zusammensetzte, darunter seit Frühjahr 1912 Thomas Mann ‒ er erklärte dem Polizeipräsidenten am 26.5.1913 kollegialer Rücksichten wegen dann seinen Austritt [vgl. Mayer 1982, S. 288]. darin, die Aufseher der oeffentlichen Ordnung vor Eingriffen in Werke von Dichtungsrang zu warnen. Diese Möglichkeit, die Censur-Behörde, so lange sie nun einmal besteht, von Fall zu Fall meine Meinung wissen zu lassen, ist mir von Wert, und ich beabsichtige nicht, sie aufzugeben. Auch heute habe ich die Gelegenheit nicht versäumt, dem Polizeipräsidenten die Freigabe des von ihm be|anstandeten SatzesStreichungsauflagen der Münchner Polizeidirektion für die öffentliche Aufführung von „Franziska“ waren zwar reduziert worden [vgl. KSA 7/II, S. 1156], gestrichen blieb aber laut Verfügung der Polizeidirektion vom 4.12.1912 [vgl. KSA 7/II, S. 1198] u.a. eine Replik von Veit Kunz (in der Uraufführung von Wedekind gespielt) in der Szene V/3: „Immerhin finde ich es weniger unsittlich, von zwei Männern ein uneheliches Kind zu haben, als von einem zwei.“ [KSA 7/I, S. 385] Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim schrieb am 23.12.1912 an Maximilian Harden über Wedekind, dieser habe „vor dem Zensurbeirat eine hysterische Wansinnsscene aufgeführt und sich schließlich mit – Thomas Mann entzweit, den er – natürlich fälschlicherweise – für den Anlaß hält; daß die Censur, die in unglaublicher, nie dagewesener Toleranz und fast sträflicher Liberalität die Aufführung selbst der heikelsten Scenen dieses ‚Mysteriums‘ [...] gestattet hatte, daß die Censur ihm einen Satz schließlich strich. Dieser Satz lautet, echt wedekindisch ‚ich halte es immer noch für anständiger, zwei Väter zu einem Kind, als zwei Kinder von einem Vater zu haben‘.“ [Neumann 2006, S. 122f.] zu empfehlen; leider glaubte er nicht, sich dazu entschließen zu dürfen.

Lassen Sie mich übrigens hinzufügen, daß die betreffende Replik vielleicht zu den im Theatersinne wirksamsten, aber gewiß nicht zu den bedeutendsten Ihres Mysteriums gehört. Mir schienThomas Mann saß also am 30.11.1912 bei der Uraufführung von Wedekinds ‚modernem Mysterium‘ „Franziska“ in den Münchner Kammerspielen (Regie: Eugen Robert, in den Hauptrollen Tilly und Frank Wedekind) im Publikum. Es handelte sich um eine geschlossene Vorstellung, bei der das Stück unzensiert gespielt wurde. bei der ersten oeffentlichen Aufführung sogar, als ob die dankbare Heiterkeit des Publikums an dieser Stelle Sie selbst enerviere und als ob Sie, abgewandt, mit einer gewissen Ungeduld das Aufhören des Gelächters erwarteten.

In unveränderter, unveränderlicher Wertschätzung,
sehr geehrter Herr Wedekind,
Ihr ergebener
Thomas Mann.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 13 x 20,5 cm. Mit gedrucktem Briefkopf. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat eine größere Passage auf Seite 2 mit rotem Buntstift angestrichen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    7. Dezember 1912 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Briefe 1889‒1936

Autor:
Thomas Mann
Herausgeber:
Erika Mann
Verlag:
Frankfurt am Main: S. Fischer
Jahrgang:
1961
Seitenangabe:
97-98
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 110
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Thomas Mann an Frank Wedekind, 7.12.1912. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

28.08.2024 16:47