Hochverehrter Meister!
ich danke Ihnen herzlich für Ihre liebenswürdigen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Georg Brandes an Wedekind, 13.1.1909..
Gewiß, die Harfe ist kein Schild. Die Kappsche SchriftGeorg Brandes hatte die Monographie „Frank Wedekind. Seine Eigenart und seine Werke“ (1909) von Julius Kapp offenbar kritisch beurteilt und stilistisch bemängelt, wie die Bemerkung von Artur Kutscher nahelegt, der zu dem Verfasser meinte, „er will ein Führer zu Wedekind sein“, „dem Georg Brandes erst den Stil verbessern mußte“ [Kutscher 3, S. 242] – unter Hinweis auf den nicht überlieferten Brief [vgl. Georg Brandes an Wedekind, 13.1.1909]. Wedekind hat sich bald darauf mit Julius Kapp in Frankfurt am Main getroffen, wie er im Tagebuch notierte – so am 2.2.1909 („Dr. Julius Kapp besucht mich. Mittagessen im Ratskeller. Besichtigung von Römer und Göthehaus. [...] Mit Heines und Dr. Kapp im Kaiserkeller“), 3.2.1909 („Abendessen im Kaiserkeller Mit Dr. Kapp lange Sitzung in der Bar“) und 4.2.1909 („mit Kapp Lanz Pottof im Kaiserkeller und d. Bar Kapp schickt Tilly einen herrlichen Strauß und schenkt mir sein Liszt Wagnerbuch“). kenne ich wohl. Ich
glaube aber nicht, daß ich das Gefallen Herrn Kapps finden würde, wenn ich
unbekannt wäre. In lebhafter Erinnerung ist mir ein PassusWedekind hatte in der letzten Folge der im „Morgen“ publizierten „Erinnerungen“ (siehe unten) in der Passage über den Philosophen Eduard von Hartmann gelesen: „Immer wieder kam er darauf zurück, daß seine Zeitgenossen ihn nicht nach Verdienst anerkannten. In Zeitschriften und Zeitungen würde er aus purem Neide – er sprach dieses Wort mit einer ganz eigenartigen Betonung aus – totgeschwiegen, würde nie gelobt wie es ihm zukam.“ [Georg Brandes: Erinnerungen. In: Morgen, Jg. 2, Nr. 33, 14.8.1908, S. 1069] aus Ihren Berliner |
ErinnerungenGeorg Brandes hatte von 1877 bis 1883 in Berlin gelebt; seine „Erinnerungen“ daran erschienen in vier Folgen (die erste Folge zusätzlich mit dem Untertitel „Einleben in Berlin“ überschrieben) mit insgesamt 13 römisch bezifferten Abschnitten in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift „Morgen“ [vgl. Georg Brandes: Erinnerungen. In: Morgen, Jg. 2, Nr. 23/24, 5.6.1908, S. 738-741 (I-IV), Nr. 26, 26.6.1908, S. 819-825 (V-VIII), Nr. 30, 24.7.1908, S. 967-971 (IX-X), Nr. 33, 14.8.1908, S. 1064-1071 (XII-XIII)]., wo sich E. v. Hartmann auf der Höhe seines Ruhmes über Mangel an
Anerkennung beklagt. Ich nahm mir gleich beim Lesen ein warnendes Beispiel
daran.
Die Notizeneine umfangreiche handschriftliche Briefbeilage [vgl. Wedekind an Georg Brandes, 10.1.1909], die ich mir erlaubte Ihnen zu senden habe ich
in Abschrift in meinem Notizbuch für den Fall, da ich jemals etwas davon nötig
haben sollte.
Für Landsberger hat mein Freund BierbaumWedekind hatte Otto Julius Bierbaum, der wie er selbst Autor der von Artur Landsberger redigierten und von Georg Brandes mitherausgegebenen Zeitschrift „Morgen“ gewesen ist, dem Tagebuch zufolge in den letzten Tagen häufig gesehen – so am 14.1.1909 („Ich treffe Bierbaum“), 16.1.1909 („Bierbaum kommt zum Abendessen“) und 18.1.1909 („Mit Tilly und Bierbaum im Intimen Theater“). seither eine |
Lanze in der ÖffentlichkeitOtto Julius Bierbaum hatte sich in der „Frankfurter Zeitung“ gegen einen Artikel in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ empört, in dem die Nachricht vom Selbstmordersuch Dolly Landsbergers (Artur Landsbergers Gattin) in der Silvesternacht als „so ziemlich der widerlichste Skandal, den Berlin seit langem gesehen hat“ [Richard Nordhausen: Der fröhliche Anfang. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 62, Nr. 7, 6.1.1909, S. 1] kommentiert worden ist: „Eine junge Frau stürzt sich vom dritten Stockwerke auf die Straße und bleibt mit zerschmetterten Gliedmaßen liegen. Nur wie durch ein Wunder ist die noch nicht Siebzehnjährige dem Tode entgangen, und es bleibt noch ungewiß, ob sie mit dem Leben davonkommen wird. Ein trauriger Fall, nicht wahr? Nein doch, der Anlaß zu einem Feuilleton mit der Überschrift ‚Der fröhliche Anfang‘. [...] Herr Richard Nordhausen [...] gibt die Zeitungsnotiz wieder und fügt unmittelbar hinzu: ‚Es ist so ziemlich der widerlichste Skandal, den Berlin seit langem gesehen hat.‘ Wie? Kein trauriges Ereignis, das Mitleiden erweckt? Die Tat der jungen Frau, die vielleicht Zeit ihres Lebens verkrüppelt bleiben wird, ist ein Skandal? [...] Ist es zu glauben? Ist es möglich, daß eine so widerliche Gefühlsroheit sich in einer deutschen Zeitung äußern durfte? [...] Die Roheit drapiert sich [...] auch noch als Idealismus. Gerade darum gehört sie an den Pranger. Gerade, weil es wahr ist, daß unserer Kultur die Gefahr droht, die man [...] als die amerikanische bezeichnen kann, dürfen wir es nicht schweigend hinnehmen, daß diese Wahrheit zum Deckmantel roher Gehässigkeit und Klatschgier mißbraucht wird.“ [Otto Julius Bierbaum. Roheit. In: Frankfurter Zeitung, Jg. 53, Nr. 8, 8.1.1909, 2. Morgenblatt, S. 1] Richard Nordhausen wiederum reagierte öffentlich auf Bierbaums Entgegnung: „Herr Otto Julius Bierbaum nennt in der Frankfurter Zeitung meinen Aufsatz ‚Der fröhliche Anfang‘ eine Roheit. [...] Er behauptet, ich hätte die Verzweiflungstat der jungen Frau Dolly L. einen Skandal genannt. [...] Herr Bierbaum hat mich, absichtlich oder unabsichtlich, falsch verstanden. [...] Herr Bierbaum behauptet weiter, ich hätte eine Wahrheit zum Deckmantel roher Gehässigkeit und Klatschgier mißbraucht, Klatsch verbreitet, auf Klatsch gespannt gemacht. Tragisches unter dem Gesichtswinkel des Klatsches betrachtet.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 62, Nr. 15, 12.1.1909, Vorabendblatt, S. 2] gebrochen. Aber Bierbaum hat seit dem Unglückdie von Wedekind bereits angesprochenen „Schicksalsschläge“ [Wedekind an Georg Brandes, 10.1.1909], Artur Landsbergers juristische Querelen mit den Schwiegereltern und vor allem der Selbstmordversuch seiner jungen Gattin in der Silvesternacht (siehe oben), ein Gesellschaftsskandal und für ihn in der Tat ein „Unglück“ [Wedekind an Artur Landsberger, 13.1.1909]. auch
nichts näheres erfahren als Sie und ich.
Ich hoffe, daß ich recht bald wieder die Freude haben werde,
Ihnen zu begegnen.
Mit herzlichen Wünschen und Grüßen
in Verehrung
Ihr
Frank Wedekind.
19.1.9.