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Kennung: 1489

München, 21. Oktober 1914 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kutscher, Artur

Inhalt

München, 21. Oktober 1914.


Mein lieber Artur!

Nimm den herzlichsten Dank für Deine liebe Karte vom 4.10nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 4.10.1914., die mir eine große Freude war. Jeder Satz darauf ist mir ein Labsal, ich habe die Karte schon mehr als zehn Mal gelesen. Daß Du wohl und munter bist, (hoffentlich treffen Dich diese Zeilen ebenso an!) daß Du zwei PferdeDas Privileg stand im Zusammenhang mit der Funktion des Kompanieführers: „Am 1. September [1914] wurde ich Führer der 240 Mann starken Kompanie und bekam meine zwei Pferde“ [Kutscher 1960, S. 106]. Im „Kriegstagebuch“ notierte Kutscher: „Ich bekomme zwei Burschen und zwei Pferde“ [Kutscher 1915, S. 78]. zur Erholung hast und vor allem das Eiserne KreuzNach dem Angriff auf Reims bekam Artur Kutscher Mitte September 1914 diesen aus der Zeit der Befreiungskriege 1813 stammenden und oft verliehenen Orden (erneuert 1870 zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges sowie zu Beginn des Ersten Weltkriegs von Wilhelm II. wiederum erneuert): „Der Oberstleutnant kommt zu unserem Lagerplatz und bringt jedem Offizier ‒ wir sind sechs ‒ das Eiserne Kreuz.“ [Kutscher 1915, S. 109]. Artur Kutscher war sehr stolz darauf und trug ihn nach seiner Rückkehr ins Zivilleben als Dozent, wie Ernst Toller sich 1933 in seiner Autobiografie erinnerte: „Ich vergnüge mich im literaturgeschichtlichen Seminar des Professor Kutscher. In Hauptmannsuniform, das Eiserne Kreuz auf der Brust, [...] steht er auf dem Katheder, schmuck und ein Freund der Modernen“ [Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 54f.]., zu dem ich Dich von ganzem Herzen beglückwünsche. Um unsere Sache kann es wohl nicht besser stehen, als daß unser Land vom Feinde frei ist und in Österreich der Feind zurückgeht. Sicherlich hast Du bis jetzt den schwersten und interessantesten Theil | des Feldzuges mitgemacht. Seit meinem Briefvgl. Wedekind an Artur Kutscher, 13.9.1914. den Du erhalten hast habe ich Dir zwei oder drei Kartennicht überliefert; nur eine der Postkarten ist konkret erschließbar (die nachfolgend erschlossene Gruppenkarte). geschrieben. Eine Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind, Joachim Friedenthal, Albert Goldschmidt, Bernhard von Jacobi, Lucy von Jacobi, Max Halbe, Wilhelm Herzog, Carl Georg von Maaßen, Heinrich Mann, Erich Mühsam, Jodocus Schmitz, Albert Steinrück an Artur Kutscher, 19.9.1914. schrieben wir, Halbe, Jacobi e.ct aus der TorggelstubeWedekind notierte am 19.9.1914 zur Torggelstube, dem Schreibort der Gruppenpostkarte (siehe oben): „T.St. Bernhardt von Jacoby mit Halbe und seiner Gesellschaft“ [Tb]. Erich Mühsam hielt zu dem Abend des 19.9.1914 am 20.9.1914 fest: „‚Was bedeuten gewonnene Schlachten? Sieg und Niederlage sind Begriffe. Wie kann ein Volk siegen, das in der ganzen Welt gehaßt wird?‘ Das sind Worte, die mir gestern abend Heinrich Mann sagte. Wedekind saß am Tisch und Halbe, B. v. Jacobi und Frau, v. Maaßen, Schmitz, Steinrück, Herzog, Dr. Goldschmidt und Friedenthal. Mann sagte seine sehr herben Dinge nur zu mir. Es hätte sich auch trotz des neutralen Raumes (die Kegelbahn unter der Torggelstube) wenig empfohlen, sie laut zu sagen.“ [Tb Mühsam]. Seitdem war ich einige Tage in SalzburgWedekind reiste am 26.9.1914 nach Salzburg und traf dort seinen inzwischen 17jährigen unehelichen Sohn aus der Beziehung mit Frida Strindberg: „Fahrt nach Salzburg. Hotel d l’Europe. Treffe Friedrich Strindberg bei Tisch“ [Tb]. Er reiste am Tag darauf abends bereits zurück, notierte an diesem 27.9.1914 aber noch zu seinem Sohn, mit dem er wohl noch den Tag verbrachte: „Friedrich weckt mich Frühstück im Hotel“ [Tb]., erzählte Friedrich Strindberg von Dir, der mich bat, Dir einen Gruß zu bestellen, und bis gesternam 20.10.1914. Wedekind traf allerdings bereits am 19.10.1914 wieder in München ein (siehe unten). 14 TageWedekind war vom 4. bis 19.10.1914 in der Schweiz, überwiegend in Lenzburg, mit Aufenthalten in Zürich [vgl. Tb]. in der Schweiz, in Lenzburg, wo ich kurz vor der Abreise Deine Karte erhielt. Am SonntagWedekinds Neffe Armin Wedekind (Sohn seines gleichnamigen Bruders in Zürich) besuchte mit seiner Schwester Lili seinen schon fast im Aufbruch befindlichen Onkel am 18.10.1914 in Lenzburg: „Armin jun und Lili kommen“ [Tb]. las ich Deine Karte Armin Wedekind vor, der mich gleichfalls bittet, Dich zu grüßen. Er steht unter den Schweizern an der Französischen GrenzeDie Schweiz hatte zur Sicherung ihrer Neutralität eine sogenannte Grenzbesetzung durch Soldaten eingerichtet, einer davon der seinen Militärdienst leistende Neffe Wedekinds.. Seit meiner Rückkehr habe ich hier noch niemanden gesehen, werde aber Deine Grüße bei der nächsten Gelegenheit bestellen und bin sicher, allen, eine große Freude damit zu bereiten. An Deine liebe FrauGertrud Kutscher (geb. Schaper) war inzwischen von Artur Kutscher geschieden (Scheidung am 10.12.1913), das Paar hatte zu Kriegsbeginn aber offenbar eine versöhnliche Aussprache, wie er im „Kriegstagebuch“, ohne ihren Namen zu nennen (er sprach formalhaft von „Frau und Kind“), andeutete: „Wir können uns dann doch auch noch aussprechen.“ [Kutscher 1915, S. 6] schreibe ich heute nochHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Gertrud Kutscher, 21.10.1914. und frage an, ob ich mir Dein TagebuchArtur Kutscher hatte gleich Ende Juli 1914 bei der Generalmobilmachung begonnen, ein dann weitgehend veröffentlichtes „Kriegstagebuch“ zu schreiben [vgl. Kutscher 1960, S. 104], worüber er Wedekind informiert haben muss. Das bisher fertiggestellte Manuskript lag in München bei der Schriftstellerin Gertrud Kutscher (geb. Schaper), der geschiedenen ersten Ehefrau Artur Kutschers (siehe oben). bei ihr abholen | kann. Die Stimmung hier in München ist zuversichtlich aber eher gedrückt als gehoben. Das Theaterleben schleppt sich mühselig fort. Von sämmtlichen Künstlern, Schriftstellern, Malern, Musikern hört man, daß es ihnen furchtbar schwer wird, ja ganz unmöglich ist, etwas zu arbeiten. Ich meinerseits beschäftige mich seit Ausbruch des Krieges mit dem Studium der DiplomatieLektüren in Vorbereitung des „Bismarck“-Dramas [vgl. KSA 8, S. 657f., 697-711].. Bei einer patriotischen FeierWedekind hielt zu seinem am 18.9.1914 in den Münchner Kammerspielen gehaltenen Kriegsvortrag fest: „Patriotischer Abend in den Kammerspielen. Ich spreche die Einleitung“ [Tb]; angekündigt war: „Die Münchner Kammerspiele bereiten für Ende nächster Woche eine Vaterländische Feier vor, die hauptsächlich älteren und jüngeren Vertretern der modernen zeitgenössischen Kunst gewidmet sein wird. Frank Wedekind wird den Abend mit einer Ansprache eröffnen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 463, 10.9.1914, Vorabendblatt, S. 3]. Im Programm hieß es: „Münchener Kammerspiele. Freitag, den 18. September / Vaterländische Feier. (Der gesamte Reingewinn wird der Sammlung Ostpreußen überwiesen.) Einleitende Worte: ‚Vom deutschen Vaterlandsstolz‘ – ‚Deutschland bringt die Freiheit‘. (Frank Wedekind).“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 4479, 18.9.1914, General-Anzeiger, S. 2] Nach Wedekind sprachen auf der Veranstaltung am 18.9.1914 (von 19.30 Uhr bis gegen 22 Uhr) Detlev von Liliencron, Erich Ziegel, Richard Dehmel, Cäsar Flaischlen, Peter Scher, Katharina Botsky, Johannes R. Becher und Ludwig Thoma; nach einer Gesangseinlage wurde Klabunds Einakter „Rußland marschiert“ uraufgeführt, es folgten musikalisch gerahmte Gedichtvorträge. in den Kammerspielen hielt ich einen einleitenden Vortrag, den ich Dir hier beilegeDie Beilage ist nicht überliefert. Es dürfte sich um den Durchschlag eines nicht erhaltenen Typoskripts [vgl. KSA 5/III, S. 496] von Wedekinds Vortrag (siehe oben) gehandelt haben. Artur Kutscher vermerkte den Erhalt in seinem „Kriegstagebuch“ („Frank Wedekind schickt mir einen prächtigen Aufsatz mit dem Titel: ‚Deutschland bringt die Freiheit‘“), zitierte den Text durch Auslassungen gekürzt und fügte eine Schlussbemerkung an: „Ich habe diesen Ausführungen nichts hinzuzufügen, ich habe sie selbst erlebt und betätigt.“ [Kutscher 1915, S. 163f.] Wedekinds Vortrag erschien am selben Tag, an dem er den vorliegenden Brief schrieb, als „Kriegsworte Frank Wedekinds (Vortrag des Dichters, gehalten in der Vaterländischen Feier der Münchner Kammerspiele)“ im „Berliner Börsen-Courier“, dann am 27.9.1914 im „Berliner Tageblatt“ in abweichender Fassung unter dem Titel „Deutschland bringt die Freiheit“ [vgl. KSA 5/III, S. 496f.], unter dem auch Artur Kutscher den Text erhalten hat.. Seit drei Wochen haben wir hier das herrlichste sonnigste Wetter, während ich mit tiefer Betrübnis höre, daß bei Euch schwere Regengüsse fallen. Als einziges Literarisches Ereignis in München ist die Premieredie Uraufführung von Hermann Bahrs Komödie „Der Querulant“ am 16.10.1914 um 19.30 Uhr im Münchner Schauspielhaus: „Uraufführung: Der Querulant. Komödie in 4 Aufzügen von H. Bahr.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 531, 16.10.1914, General-Anzeiger, S. 2] Wedekind besuchte die Vorstellung vom 5.11.1914: „Mit Tilly in Querulant von Bahr.“ [Tb] von ,,Der Querulant“ von Hermann Bahr zu verzeichnen, die vor wenigen Tagen im Schauspielhaus stattfand. Daneben hat Alfred Henschke mit Kriegsein|akternmit den drei Einaktern „Rußland marschiert. Eine russische Scene“, „Der feiste Kapaun. Ein französischer Schwank“ und „Tommy Atkins. Eine englische Komödie“ des von Artur Kutscher geförderten Schriftstellers Klabund (Alfred Henschke), die sich über die Kriegsgegner Russland, Frankreich und England lustig machten und unter dem Gesamttitel „Kleines Kaliber. Drei Komödien vom Feinde“ am 10.10.1914 in den Münchner Kammerspielen zusammen uraufgeführt wurden [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 520, 10.10.1914, General-Anzeiger, S. 2]. Wedekind kann sie nicht gesehen haben, da er in der Schweiz war und dem Tagebuch vom 19. und 20.10.1914 zufolge zuhause geblieben ist. Gesehen hat sie dagegen Erich Mühsam [vgl. Tb Mühsam, 11.10.1914]. in den Kammerspielen sehr wohlverdiente Erfolge. Aber über allen Veranstaltungen liegt eine bleierne Schwere.

Der Himmel gebe, daß Dich diese Zeilen so frisch und munter treffen wie Du mir Deine letzte Karte schriebst. Meine Frau geht diesen Nachmittag (22.) Deine liebe Frau aufzusuchenTilly Wedekind traf Gertrud Kutscher am 22.10.1914 nicht an [vgl. Wedekind an Artur Kutscher, 9.11.1914].. Von Friedensaussichten zeigt sich bis jetzt leider noch nichts am Horizont, was zu ernsten Hoffnungen berechtigte. Alles deutet jetzt darauf hin als sollte die Entscheidung auf Englischem Boden gesucht werden. Das würde Euch in Frankreich wol auch etwas entlasten.

Nun sei herzlich gegrüßt. Mit den besten Wünschen für Dein Glück und Wohlergehen von meiner Frau und mir
Dein alter getreuer
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 22 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Empfangsort ist ungefähr auszumachen. Artur Kutscher gehörte dem Reserve-Infanterie-Regiment 92 an, das an der Westfront eingesetzt war. Er war vom 12.9.1914 bis 3.2.1915 „in wechselnder Stellung“ [Kutscher 1960, S. 106] in der Nähe von Reims stationiert. Dem „Kriegstagebuch“ zufolge war Artur Kutscher Ende Oktober 1914 überwiegend in Cernay eingesetzt [vgl. Kutscher 1915, S. 159-163], der wahrscheinliche Empfangsort des Briefes.

  • Schreibort

    München
    21. Oktober 1914 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Cernay
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
304-306
Briefnummer:
427
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Deutsches Literaturarchiv Marbach

Schillerhöhe 8-10
71672 Marbach am Neckar
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
A: Kutscher, Artur
Signatur des Dokuments:
A: Kutscher, 57.5404/5
Standort:
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Marbach am Neckar)

Danksagung

Wir danken dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Artur Kutscher, 21.10.1914. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

30.05.2024 15:13
Kennung: 1489

München, 21. Oktober 1914 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kutscher, Artur
 
 

Inhalt

München, 21. Oktober 1914.


Mein lieber Artur!

Nimm den herzlichsten Dank für Deine liebe Karte vom 4.10nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Artur Kutscher an Wedekind, 4.10.1914., die mir eine große Freude war. Jeder Satz darauf ist mir ein Labsal, ich habe die Karte schon mehr als zehn Mal gelesen. Daß Du wohl und munter bist, (hoffentlich treffen Dich diese Zeilen ebenso an!) daß Du zwei PferdeDas Privileg stand im Zusammenhang mit der Funktion des Kompanieführers: „Am 1. September [1914] wurde ich Führer der 240 Mann starken Kompanie und bekam meine zwei Pferde“ [Kutscher 1960, S. 106]. Im „Kriegstagebuch“ notierte Kutscher: „Ich bekomme zwei Burschen und zwei Pferde“ [Kutscher 1915, S. 78]. zur Erholung hast und vor allem das Eiserne KreuzNach dem Angriff auf Reims bekam Artur Kutscher Mitte September 1914 diesen aus der Zeit der Befreiungskriege 1813 stammenden und oft verliehenen Orden (erneuert 1870 zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges sowie zu Beginn des Ersten Weltkriegs von Wilhelm II. wiederum erneuert): „Der Oberstleutnant kommt zu unserem Lagerplatz und bringt jedem Offizier ‒ wir sind sechs ‒ das Eiserne Kreuz.“ [Kutscher 1915, S. 109]. Artur Kutscher war sehr stolz darauf und trug ihn nach seiner Rückkehr ins Zivilleben als Dozent, wie Ernst Toller sich 1933 in seiner Autobiografie erinnerte: „Ich vergnüge mich im literaturgeschichtlichen Seminar des Professor Kutscher. In Hauptmannsuniform, das Eiserne Kreuz auf der Brust, [...] steht er auf dem Katheder, schmuck und ein Freund der Modernen“ [Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 54f.]., zu dem ich Dich von ganzem Herzen beglückwünsche. Um unsere Sache kann es wohl nicht besser stehen, als daß unser Land vom Feinde frei ist und in Österreich der Feind zurückgeht. Sicherlich hast Du bis jetzt den schwersten und interessantesten Theil | des Feldzuges mitgemacht. Seit meinem Briefvgl. Wedekind an Artur Kutscher, 13.9.1914. den Du erhalten hast habe ich Dir zwei oder drei Kartennicht überliefert; nur eine der Postkarten ist konkret erschließbar (die nachfolgend erschlossene Gruppenkarte). geschrieben. Eine Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind, Joachim Friedenthal, Albert Goldschmidt, Bernhard von Jacobi, Lucy von Jacobi, Max Halbe, Wilhelm Herzog, Carl Georg von Maaßen, Heinrich Mann, Erich Mühsam, Jodocus Schmitz, Albert Steinrück an Artur Kutscher, 19.9.1914. schrieben wir, Halbe, Jacobi e.ct aus der TorggelstubeWedekind notierte am 19.9.1914 zur Torggelstube, dem Schreibort der Gruppenpostkarte (siehe oben): „T.St. Bernhardt von Jacoby mit Halbe und seiner Gesellschaft“ [Tb]. Erich Mühsam hielt zu dem Abend des 19.9.1914 am 20.9.1914 fest: „‚Was bedeuten gewonnene Schlachten? Sieg und Niederlage sind Begriffe. Wie kann ein Volk siegen, das in der ganzen Welt gehaßt wird?‘ Das sind Worte, die mir gestern abend Heinrich Mann sagte. Wedekind saß am Tisch und Halbe, B. v. Jacobi und Frau, v. Maaßen, Schmitz, Steinrück, Herzog, Dr. Goldschmidt und Friedenthal. Mann sagte seine sehr herben Dinge nur zu mir. Es hätte sich auch trotz des neutralen Raumes (die Kegelbahn unter der Torggelstube) wenig empfohlen, sie laut zu sagen.“ [Tb Mühsam]. Seitdem war ich einige Tage in SalzburgWedekind reiste am 26.9.1914 nach Salzburg und traf dort seinen inzwischen 17jährigen unehelichen Sohn aus der Beziehung mit Frida Strindberg: „Fahrt nach Salzburg. Hotel d l’Europe. Treffe Friedrich Strindberg bei Tisch“ [Tb]. Er reiste am Tag darauf abends bereits zurück, notierte an diesem 27.9.1914 aber noch zu seinem Sohn, mit dem er wohl noch den Tag verbrachte: „Friedrich weckt mich Frühstück im Hotel“ [Tb]., erzählte Friedrich Strindberg von Dir, der mich bat, Dir einen Gruß zu bestellen, und bis gesternam 20.10.1914. Wedekind traf allerdings bereits am 19.10.1914 wieder in München ein (siehe unten). 14 TageWedekind war vom 4. bis 19.10.1914 in der Schweiz, überwiegend in Lenzburg, mit Aufenthalten in Zürich [vgl. Tb]. in der Schweiz, in Lenzburg, wo ich kurz vor der Abreise Deine Karte erhielt. Am SonntagWedekinds Neffe Armin Wedekind (Sohn seines gleichnamigen Bruders in Zürich) besuchte mit seiner Schwester Lili seinen schon fast im Aufbruch befindlichen Onkel am 18.10.1914 in Lenzburg: „Armin jun und Lili kommen“ [Tb]. las ich Deine Karte Armin Wedekind vor, der mich gleichfalls bittet, Dich zu grüßen. Er steht unter den Schweizern an der Französischen GrenzeDie Schweiz hatte zur Sicherung ihrer Neutralität eine sogenannte Grenzbesetzung durch Soldaten eingerichtet, einer davon der seinen Militärdienst leistende Neffe Wedekinds.. Seit meiner Rückkehr habe ich hier noch niemanden gesehen, werde aber Deine Grüße bei der nächsten Gelegenheit bestellen und bin sicher, allen, eine große Freude damit zu bereiten. An Deine liebe FrauGertrud Kutscher (geb. Schaper) war inzwischen von Artur Kutscher geschieden (Scheidung am 10.12.1913), das Paar hatte zu Kriegsbeginn aber offenbar eine versöhnliche Aussprache, wie er im „Kriegstagebuch“, ohne ihren Namen zu nennen (er sprach formalhaft von „Frau und Kind“), andeutete: „Wir können uns dann doch auch noch aussprechen.“ [Kutscher 1915, S. 6] schreibe ich heute nochHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Gertrud Kutscher, 21.10.1914. und frage an, ob ich mir Dein TagebuchArtur Kutscher hatte gleich Ende Juli 1914 bei der Generalmobilmachung begonnen, ein dann weitgehend veröffentlichtes „Kriegstagebuch“ zu schreiben [vgl. Kutscher 1960, S. 104], worüber er Wedekind informiert haben muss. Das bisher fertiggestellte Manuskript lag in München bei der Schriftstellerin Gertrud Kutscher (geb. Schaper), der geschiedenen ersten Ehefrau Artur Kutschers (siehe oben). bei ihr abholen | kann. Die Stimmung hier in München ist zuversichtlich aber eher gedrückt als gehoben. Das Theaterleben schleppt sich mühselig fort. Von sämmtlichen Künstlern, Schriftstellern, Malern, Musikern hört man, daß es ihnen furchtbar schwer wird, ja ganz unmöglich ist, etwas zu arbeiten. Ich meinerseits beschäftige mich seit Ausbruch des Krieges mit dem Studium der DiplomatieLektüren in Vorbereitung des „Bismarck“-Dramas [vgl. KSA 8, S. 657f., 697-711].. Bei einer patriotischen FeierWedekind hielt zu seinem am 18.9.1914 in den Münchner Kammerspielen gehaltenen Kriegsvortrag fest: „Patriotischer Abend in den Kammerspielen. Ich spreche die Einleitung“ [Tb]; angekündigt war: „Die Münchner Kammerspiele bereiten für Ende nächster Woche eine Vaterländische Feier vor, die hauptsächlich älteren und jüngeren Vertretern der modernen zeitgenössischen Kunst gewidmet sein wird. Frank Wedekind wird den Abend mit einer Ansprache eröffnen.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 463, 10.9.1914, Vorabendblatt, S. 3]. Im Programm hieß es: „Münchener Kammerspiele. Freitag, den 18. September / Vaterländische Feier. (Der gesamte Reingewinn wird der Sammlung Ostpreußen überwiesen.) Einleitende Worte: ‚Vom deutschen Vaterlandsstolz‘ – ‚Deutschland bringt die Freiheit‘. (Frank Wedekind).“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 4479, 18.9.1914, General-Anzeiger, S. 2] Nach Wedekind sprachen auf der Veranstaltung am 18.9.1914 (von 19.30 Uhr bis gegen 22 Uhr) Detlev von Liliencron, Erich Ziegel, Richard Dehmel, Cäsar Flaischlen, Peter Scher, Katharina Botsky, Johannes R. Becher und Ludwig Thoma; nach einer Gesangseinlage wurde Klabunds Einakter „Rußland marschiert“ uraufgeführt, es folgten musikalisch gerahmte Gedichtvorträge. in den Kammerspielen hielt ich einen einleitenden Vortrag, den ich Dir hier beilegeDie Beilage ist nicht überliefert. Es dürfte sich um den Durchschlag eines nicht erhaltenen Typoskripts [vgl. KSA 5/III, S. 496] von Wedekinds Vortrag (siehe oben) gehandelt haben. Artur Kutscher vermerkte den Erhalt in seinem „Kriegstagebuch“ („Frank Wedekind schickt mir einen prächtigen Aufsatz mit dem Titel: ‚Deutschland bringt die Freiheit‘“), zitierte den Text durch Auslassungen gekürzt und fügte eine Schlussbemerkung an: „Ich habe diesen Ausführungen nichts hinzuzufügen, ich habe sie selbst erlebt und betätigt.“ [Kutscher 1915, S. 163f.] Wedekinds Vortrag erschien am selben Tag, an dem er den vorliegenden Brief schrieb, als „Kriegsworte Frank Wedekinds (Vortrag des Dichters, gehalten in der Vaterländischen Feier der Münchner Kammerspiele)“ im „Berliner Börsen-Courier“, dann am 27.9.1914 im „Berliner Tageblatt“ in abweichender Fassung unter dem Titel „Deutschland bringt die Freiheit“ [vgl. KSA 5/III, S. 496f.], unter dem auch Artur Kutscher den Text erhalten hat.. Seit drei Wochen haben wir hier das herrlichste sonnigste Wetter, während ich mit tiefer Betrübnis höre, daß bei Euch schwere Regengüsse fallen. Als einziges Literarisches Ereignis in München ist die Premieredie Uraufführung von Hermann Bahrs Komödie „Der Querulant“ am 16.10.1914 um 19.30 Uhr im Münchner Schauspielhaus: „Uraufführung: Der Querulant. Komödie in 4 Aufzügen von H. Bahr.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 531, 16.10.1914, General-Anzeiger, S. 2] Wedekind besuchte die Vorstellung vom 5.11.1914: „Mit Tilly in Querulant von Bahr.“ [Tb] von ,,Der Querulant“ von Hermann Bahr zu verzeichnen, die vor wenigen Tagen im Schauspielhaus stattfand. Daneben hat Alfred Henschke mit Kriegsein|akternmit den drei Einaktern „Rußland marschiert. Eine russische Scene“, „Der feiste Kapaun. Ein französischer Schwank“ und „Tommy Atkins. Eine englische Komödie“ des von Artur Kutscher geförderten Schriftstellers Klabund (Alfred Henschke), die sich über die Kriegsgegner Russland, Frankreich und England lustig machten und unter dem Gesamttitel „Kleines Kaliber. Drei Komödien vom Feinde“ am 10.10.1914 in den Münchner Kammerspielen zusammen uraufgeführt wurden [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 520, 10.10.1914, General-Anzeiger, S. 2]. Wedekind kann sie nicht gesehen haben, da er in der Schweiz war und dem Tagebuch vom 19. und 20.10.1914 zufolge zuhause geblieben ist. Gesehen hat sie dagegen Erich Mühsam [vgl. Tb Mühsam, 11.10.1914]. in den Kammerspielen sehr wohlverdiente Erfolge. Aber über allen Veranstaltungen liegt eine bleierne Schwere.

Der Himmel gebe, daß Dich diese Zeilen so frisch und munter treffen wie Du mir Deine letzte Karte schriebst. Meine Frau geht diesen Nachmittag (22.) Deine liebe Frau aufzusuchenTilly Wedekind traf Gertrud Kutscher am 22.10.1914 nicht an [vgl. Wedekind an Artur Kutscher, 9.11.1914].. Von Friedensaussichten zeigt sich bis jetzt leider noch nichts am Horizont, was zu ernsten Hoffnungen berechtigte. Alles deutet jetzt darauf hin als sollte die Entscheidung auf Englischem Boden gesucht werden. Das würde Euch in Frankreich wol auch etwas entlasten.

Nun sei herzlich gegrüßt. Mit den besten Wünschen für Dein Glück und Wohlergehen von meiner Frau und mir
Dein alter getreuer
Frank Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 22 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der Empfangsort ist ungefähr auszumachen. Artur Kutscher gehörte dem Reserve-Infanterie-Regiment 92 an, das an der Westfront eingesetzt war. Er war vom 12.9.1914 bis 3.2.1915 „in wechselnder Stellung“ [Kutscher 1960, S. 106] in der Nähe von Reims stationiert. Dem „Kriegstagebuch“ zufolge war Artur Kutscher Ende Oktober 1914 überwiegend in Cernay eingesetzt [vgl. Kutscher 1915, S. 159-163], der wahrscheinliche Empfangsort des Briefes.

  • Schreibort

    München
    21. Oktober 1914 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Cernay
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
304-306
Briefnummer:
427
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Deutsches Literaturarchiv Marbach

Schillerhöhe 8-10
71672 Marbach am Neckar
Deutschland

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
A: Kutscher, Artur
Signatur des Dokuments:
A: Kutscher, 57.5404/5
Standort:
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Marbach am Neckar)

Danksagung

Wir danken dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Artur Kutscher, 21.10.1914. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

30.05.2024 15:13