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Kennung: 126

Zürich, 2. Februar 1908 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Donald (Doda)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Mein lieber Frank!

Herzlichen Dank für die Sendungvermutlich die Geldsendung kurz vor Weihnachten, die Frank Wedekind über seinen Bruder Armin an Donald Wedekind schickte [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 23.12.1907]. und Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 27.1.1907.. Hier die Aufklärung einiger Mißverständnisse. Als ich vor zwei Jahren Berlin verließam 30.1.1906; Frank Wedekind notierte am 29.1.1906 im Tagebuch: „Donald reist morgen in die Schweiz.“ Zwei Tage zuvor schrieb er: „Donald theilt mir mit, er wolle sich in Baden in der Schweiz niederlassen.“ [Tb, 27.1.1906], hatte ich dir mein Vorhaben mitgeteilt, Aufenthalt in Baden zu nehmen; und Du hattest nicht nur nichts dagegen einzuwenden, sondern, ich erinnere mich dessen ganz genau, ermuntertest mich noch. Die „teure | Pension“ war ein Landwirtshausdie Pension Ruhfels in Baden., in dem ich für volle Verpflegung achtzig Franken monatlich bezahlte. Ich lebte dort von 200 Mark, die mir Mieze schickte, von Anfang Januar bis beinahe Ende März. Hätte ich für weitere sechs Wochen Subsistenz gehabt, so wäre mein Roman „Berlin“ damals fertig geworden, während er so bis heute auf der Hälfte stehen geblieben ist. Dieses nur, um die Gereiztheit meines Briefes von damalsvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 27.3.1906. zu erklären.

Armin hielt es für nötig, mich lezten Sommer | auf offener Straße zu beleidigen und nur die Rücksicht darauf, daß er mein Bruder ist, verhinderte mich, mit einer Tätlichkeit zu antworten. Natürlich verkehre ich seit der Zeit nicht mehr bei ihm und gab ihm, als ich in den Weihnachtstagen an’s Telephon gerufen wurde, den Bescheid, daß ich gerne irgend wo auswärts zur Dispositionzur Verfügung. stehe. Das war die grobe Antwort. Daß Ihr Beide wieder ausgesöhnt zu sein scheint, freut mich herzlich und ich hoffe nur, daß dieses Euer gutes Einvernehmen sich niemals mehr trüben möge. Si|cher kommt das Armins wie Deinen Kindern zu Gute.

Ich ging nunFrank Wedekind hatte Donald angeblich schon vor zwei Jahren empfohlen, seinen psychischen Gesundheitszustand überprüfen zu lassen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 25.1.1908]., um auf meine Angelegenheit zu sprechen zu kommen, sofort zu Herrn Professor Dr. v. MonakowConstantin vom Monakow, russisch-schweizerischer Neurologe, Neuroanatom und Neuropathologe, hatte seit 1885 in Zürich eine Praxis (Dufourstraße 116) [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1908, Teil I, S. 294] und war seit 1894 Professor an der Universität Zürich., Düfourstraße 116. und setzte ihm mein Anliegen auseinander. Er muß es wohl, nach Allem, was ich ihm aus meinem Leben rückhaltslos erzählte, für ganz natürlich gefunden haben, daß ich bis zu einem gewissen Grade nervös gewordenAnspielung auf die zeitgenössische Modediagnose „Nervenschwäche (lat. Nervosität, griech. Neurasthenie), eine Störung des gesamten Nervensystems, d. h. des Gehirns des Rückenmarks, des peripherischen und sympathischen Nervensystems. In diesem weitesten Sinne gefaßt, sind es die ‚Nerven‘, die bei den erhöhten Ansprüchen, die das gegenwärtige Leben der Kulturvölker an die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit stellt, angegriffen werden und einer abnormen Reizbarkeit und leichten Erschöpfbarkeit verfallen. In den höheren Gesellschaftsklassen sind dabei die gesellschaftlichen Strapazen vielfach von großer ursachlicher Bedeutung, bei Lebemännern der gehäufte gesundheitsschädliche Lebensgenuß auf Kosten des Schlafes, ebenso aber tritt eine Schädigung des Nervensystems auch ein bei den Männern, denen eine schwere Berufspflicht, eine angespannte Geistesarbeit, ein rastloser Kampf ums Dasein mehr zugemutet hat, als Körper und Geist auf Dauer ohne Schaden ertragen können. Nicht minder als gesteigerte geistige Leistungen sind aber dauernde niederdrückende Einwirkungen auf das Gemüt, Not und Sorge um den Lebensunterhalt, Kummer, Enttäuschung und ähnliches wichtige Ursachen der N.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 14. Leipzig 1908, S. 528] bin. Nach einer sehr eingehenden, vollkommenen Untersuchung fand er indessen keine bemer|kenswerten, organischen Veränderungen vor und meinte, daß meine Mutlosigkeit und Concentrationsunfähigkeit auf ein freiwillig gewähltes ArbeitsT/t/hema Folgen von Vereinsamung seien, wie sie an einen jeden Junggesellen hie und da herantreten. Er constatirte auch eine fortgesetzte UnternährungSchreibversehen, statt: Unterernährung., herbeigeführt durch den gänzlichen Mangel eines Kauapparates und meinte zum Schluß, um ein festes Urteil sich zu bilden, müßte ich ihn wohl in nächster Zeit noch einige Male aufsuchen. So werde ich Ende dieser Woche | wieder einen Besuch machen. Professor v. Monakow genießt jedenfalls den Ruf einer ersten Autorität, er besitzt eine Art und Weise des Eingehens in die Interessensphäre des Patienten, die außerordentlich wohltuend wirkt und auch er sprach sich dafür aus, daß ein längeres Ausruhen und ein längeres Überhobensein von Nahrungssorgen von sehr gutem Erfolg sein möchten. Das sind die Resultate meiner Schritte und ich denke, vorderhand müssen wir uns wohl den Anordnungen des Psychiaters fügen. Noch | zwei Punkte brachte die Untersuchung zum Vorschein, nämlich ein Lungenemphysem und eine angeborene Deformirung zweier linksseitiger Rippen, die gerade über dem Herzen liegen. Sobald sich nun Professor v. M. bereit erklärt, den Befund schriftlich niederzulegen, so werde ich Dir denselben zuschicken.

Damit bin ich, mein lieber Frank, dir nochmals für deine Hülfe aufrichtig dankend und dir an’s Herz legend, daß es mein Bestreben ist, irgendwohin als Correspondent, nach Rom, | nach Paris oder anderswohin, zu kommen und auf diese Weise des besten Mittels, das noch nie versagt hat, einer radikalen Luftveränderung, teilhaftig zu werden, mit der Bitte, daraufhin, insofern sich in deiner Umgebung zufällig so etwas bietet, dein Augenmerk zu richten, bin ich, Dich und Deine Frau herzlich grüßend, Dein treuer Bruder
Donald


Zürich, Mythenstraße 17.
am 2. Februar 1908

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 1 oben rechts hat Frank Wedekind mit Bleistift das Datum „2.2.8“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Zürich
    2. Februar 1908 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 304
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Donald (Doda) Wedekind an Frank Wedekind, 2.2.1908. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

14.11.2023 14:38
Kennung: 126

Zürich, 2. Februar 1908 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Donald (Doda)

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

Mein lieber Frank!

Herzlichen Dank für die Sendungvermutlich die Geldsendung kurz vor Weihnachten, die Frank Wedekind über seinen Bruder Armin an Donald Wedekind schickte [vgl. Frank Wedekind an Donald Wedekind, 23.12.1907]. und Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 27.1.1907.. Hier die Aufklärung einiger Mißverständnisse. Als ich vor zwei Jahren Berlin verließam 30.1.1906; Frank Wedekind notierte am 29.1.1906 im Tagebuch: „Donald reist morgen in die Schweiz.“ Zwei Tage zuvor schrieb er: „Donald theilt mir mit, er wolle sich in Baden in der Schweiz niederlassen.“ [Tb, 27.1.1906], hatte ich dir mein Vorhaben mitgeteilt, Aufenthalt in Baden zu nehmen; und Du hattest nicht nur nichts dagegen einzuwenden, sondern, ich erinnere mich dessen ganz genau, ermuntertest mich noch. Die „teure | Pension“ war ein Landwirtshausdie Pension Ruhfels in Baden., in dem ich für volle Verpflegung achtzig Franken monatlich bezahlte. Ich lebte dort von 200 Mark, die mir Mieze schickte, von Anfang Januar bis beinahe Ende März. Hätte ich für weitere sechs Wochen Subsistenz gehabt, so wäre mein Roman „Berlin“ damals fertig geworden, während er so bis heute auf der Hälfte stehen geblieben ist. Dieses nur, um die Gereiztheit meines Briefes von damalsvgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 27.3.1906. zu erklären.

Armin hielt es für nötig, mich lezten Sommer | auf offener Straße zu beleidigen und nur die Rücksicht darauf, daß er mein Bruder ist, verhinderte mich, mit einer Tätlichkeit zu antworten. Natürlich verkehre ich seit der Zeit nicht mehr bei ihm und gab ihm, als ich in den Weihnachtstagen an’s Telephon gerufen wurde, den Bescheid, daß ich gerne irgend wo auswärts zur Dispositionzur Verfügung. stehe. Das war die grobe Antwort. Daß Ihr Beide wieder ausgesöhnt zu sein scheint, freut mich herzlich und ich hoffe nur, daß dieses Euer gutes Einvernehmen sich niemals mehr trüben möge. Si|cher kommt das Armins wie Deinen Kindern zu Gute.

Ich ging nunFrank Wedekind hatte Donald angeblich schon vor zwei Jahren empfohlen, seinen psychischen Gesundheitszustand überprüfen zu lassen [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 25.1.1908]., um auf meine Angelegenheit zu sprechen zu kommen, sofort zu Herrn Professor Dr. v. MonakowConstantin vom Monakow, russisch-schweizerischer Neurologe, Neuroanatom und Neuropathologe, hatte seit 1885 in Zürich eine Praxis (Dufourstraße 116) [vgl. Adreßbuch der Stadt Zürich 1908, Teil I, S. 294] und war seit 1894 Professor an der Universität Zürich., Düfourstraße 116. und setzte ihm mein Anliegen auseinander. Er muß es wohl, nach Allem, was ich ihm aus meinem Leben rückhaltslos erzählte, für ganz natürlich gefunden haben, daß ich bis zu einem gewissen Grade nervös gewordenAnspielung auf die zeitgenössische Modediagnose „Nervenschwäche (lat. Nervosität, griech. Neurasthenie), eine Störung des gesamten Nervensystems, d. h. des Gehirns des Rückenmarks, des peripherischen und sympathischen Nervensystems. In diesem weitesten Sinne gefaßt, sind es die ‚Nerven‘, die bei den erhöhten Ansprüchen, die das gegenwärtige Leben der Kulturvölker an die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit stellt, angegriffen werden und einer abnormen Reizbarkeit und leichten Erschöpfbarkeit verfallen. In den höheren Gesellschaftsklassen sind dabei die gesellschaftlichen Strapazen vielfach von großer ursachlicher Bedeutung, bei Lebemännern der gehäufte gesundheitsschädliche Lebensgenuß auf Kosten des Schlafes, ebenso aber tritt eine Schädigung des Nervensystems auch ein bei den Männern, denen eine schwere Berufspflicht, eine angespannte Geistesarbeit, ein rastloser Kampf ums Dasein mehr zugemutet hat, als Körper und Geist auf Dauer ohne Schaden ertragen können. Nicht minder als gesteigerte geistige Leistungen sind aber dauernde niederdrückende Einwirkungen auf das Gemüt, Not und Sorge um den Lebensunterhalt, Kummer, Enttäuschung und ähnliches wichtige Ursachen der N.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 14. Leipzig 1908, S. 528] bin. Nach einer sehr eingehenden, vollkommenen Untersuchung fand er indessen keine bemer|kenswerten, organischen Veränderungen vor und meinte, daß meine Mutlosigkeit und Concentrationsunfähigkeit auf ein freiwillig gewähltes ArbeitsT/t/hema Folgen von Vereinsamung seien, wie sie an einen jeden Junggesellen hie und da herantreten. Er constatirte auch eine fortgesetzte UnternährungSchreibversehen, statt: Unterernährung., herbeigeführt durch den gänzlichen Mangel eines Kauapparates und meinte zum Schluß, um ein festes Urteil sich zu bilden, müßte ich ihn wohl in nächster Zeit noch einige Male aufsuchen. So werde ich Ende dieser Woche | wieder einen Besuch machen. Professor v. Monakow genießt jedenfalls den Ruf einer ersten Autorität, er besitzt eine Art und Weise des Eingehens in die Interessensphäre des Patienten, die außerordentlich wohltuend wirkt und auch er sprach sich dafür aus, daß ein längeres Ausruhen und ein längeres Überhobensein von Nahrungssorgen von sehr gutem Erfolg sein möchten. Das sind die Resultate meiner Schritte und ich denke, vorderhand müssen wir uns wohl den Anordnungen des Psychiaters fügen. Noch | zwei Punkte brachte die Untersuchung zum Vorschein, nämlich ein Lungenemphysem und eine angeborene Deformirung zweier linksseitiger Rippen, die gerade über dem Herzen liegen. Sobald sich nun Professor v. M. bereit erklärt, den Befund schriftlich niederzulegen, so werde ich Dir denselben zuschicken.

Damit bin ich, mein lieber Frank, dir nochmals für deine Hülfe aufrichtig dankend und dir an’s Herz legend, daß es mein Bestreben ist, irgendwohin als Correspondent, nach Rom, | nach Paris oder anderswohin, zu kommen und auf diese Weise des besten Mittels, das noch nie versagt hat, einer radikalen Luftveränderung, teilhaftig zu werden, mit der Bitte, daraufhin, insofern sich in deiner Umgebung zufällig so etwas bietet, dein Augenmerk zu richten, bin ich, Dich und Deine Frau herzlich grüßend, Dein treuer Bruder
Donald


Zürich, Mythenstraße 17.
am 2. Februar 1908

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 1 oben rechts hat Frank Wedekind mit Bleistift das Datum „2.2.8“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Zürich
    2. Februar 1908 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Zürich
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 304
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Donald (Doda) Wedekind an Frank Wedekind, 2.2.1908. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

14.11.2023 14:38