Vergleichsansicht

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Kennung: 1162

München, 4. Mai 1905 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Somssich de Saárd, Ella

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

München, am 4. Mai.
Adalbertstrasse 46/IIElla Somssich de Saárd, eine „vermögende“ ungarische Gräfin, „die sich unter dem Namen Elohim Sorah in München als Malerin betätigte“ [Hettche 2011, S. 379], wohnte in der Adalbertstraße 46 (2. Stock) zur Untermiete entweder bei der Advokatenwitwe Christine Maurer oder bei der Arztwitwe Karoline Kern [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1905, Teil II, S. 15; Adreßbuch von München für das Jahr 1906, Teil II, S. 15]..


Es ist ein dringliches Klopfen!freies Zitat aus dem 5. Akt des Schauspiels „Hidalla oder Sein und Haben“ (1904): „HETMANN [...] (Da an die Tür gepocht wird) Da kommt schon jemand uns zu stören! FANNY Laß ihn nicht ein, ich bitte dich! (Es wird stärker gepocht.) HETMANN Der Mann klopft sehr eindringlich!“ [KSA 6, S. 93]
(Hetman, in Hidalla“,
letzter Akt.)


Sehr geehrter Herr Wedekind!

Im Falle dieser arme Brief das Glück gehabt hat, nicht schon uneröffnet in den Orkusin den Abgrund (redensartlich); in der römischen Mythologie die Unterwelt oder der Gott der Unterwelt (Orcus). hinabgeschleudert zu werden, hat er vielleicht Aussichten, zu Ende gelesen zu werden. Unter dem Eindruck von HidallaElla Somssich hat die „Hidalla“-Inszenierung im Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) mit Wedekind in der männlichen Hauptrolle des Karl Hetmann gesehen (dort mit großem Erfolg am 18.2.1905 uraufgeführt) und zwar am 29.4.1905 – das war die 25. Vorstellung [vgl. Tb]. 29. April 05 bitte ich Sie um eine AudienzFrank Wedekind hat zeitnah nur eine einzige Begegnung mit Ella Somssich notiert – am 20.7.1905, als er sie mit seinem Bruder Donald Wedekind und Ludwig Scharf traf: „Donald und Scharf kommen mit der Gräfin Somsich in die Torggelstube. Die Gräfin Somsich begleitet mich in meine Wohnung und vollführt einen Höllenskandal“ [Tb]. und hoffe daß Frank HetmanFrank Wedekind spielte in „Hidalla“ die Hauptrolle des Karl Hetmann (siehe oben) und wird hier mit seiner Figur identifiziert. auch im wirklichen Leben vor einem dringlichen AnklopfenAufgreifen des „Hidalla“-Zitats (siehe oben). nicht taub sein wird. | Gewähren Sie mir eine kurze Plauderstunde in – ländlich-sittlich – irgend einem Cafe! Zur Orientirung und Beruhigung diene Ihnen folgendes:

Ich bin

1.) kein Journalist, der Sie interviewen –

2.) keine Frauenrechtlerin, die Sie zur Rechenschaft ziehen

3) kein Blaustrumpf„gebräuchlich für gelehrte, schriftstellernde Damen, namentlich in tadelndem Sinn.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 3. Leipzig, Wien 1903, S. 38], der Ihnen Manuskripte unterbreiten

4) kein hysterisches Weib das Sie mit Geständnißen belästigen

5) kein halbflügges Zeitkind das Sie mit naseweisen Flunkereien langweilen –

6) kein Autographenjäger der Ihnen ein paar Zeilen erpressen

7) kein Amateurphotograph der seinen Kodak„photographische Handcamera der amerikanischen und englischen Eastman-Comp.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 11. Leipzig, Wien 1905, S. 223], hier: Kamera, Fotoapparat. auf Sie dirigiren

8) kein Engländer der Sie als münchner Kuriosität gesehen haben – überhaupt kein müßiger Gaffer | und Tagedieb der Ihnen nolens volens(lat.) wohl oder übel. ein litterarisches Gespräch abluchsen will, sondern blos ein Menschenkind, das wegen Studien verschiedenster Art in München verweilt, dem aber der Erscheinungen interessanteste immer der Mensch bleibt. Und stehe ich vor Wedekind-Hetman mit all seinen genialen Verschrobenheiten, so jubelt es in mir: hier ist ein Mensch! Aber wie konnte gerade er in seinem grandiosem Traum einer regenerirten Menschheit ein tiefmenschliches Momentwohl Anspielung auf Karl Hetmanns Reaktion auf Fanny Kettlers Angebot einer intimen Beziehung, das er zunächst ausschlägt: „Meiner scheußlichen grauenerregenden Mißgestaltung soll ich deine leuchtende Schönheit verkuppeln?!“ [KSA 6, S. 92] so ganz übersehen? Ich poche an die Thüremetaphorisch erneutes Aufgreifen des „Hidalla“-Zitats (siehe oben). Ihrer Nachsicht: erlauben Sie daß ich mich über diesen Punkt mit Ihnen auseinandersetze?

Was riskiren Sie auch dabei? Sie werden gewiß wie andere Erdgeborene mal eine über|flüssige Stunde in einem Cafe totschlagen und sitzen dabei nicht immer mit erwähnten Leuten zusammen – es gibt gar nicht so viel witzige Köpfe – wenn ich also blos ein Bischen weniger stumpfsinnig bin als die Allzuvielen, mit denen Sie in Berührung zu kommen nicht vermeiden können – so werden Sie die mir geschenkte Stunde nicht allzusehr bedauern.

Bestimmen Sie also Lokal und Zeit und vor allem: werfen Sie diesen unglücklichen Brief nicht ungelesen in den Papierkorb. Ich zittre, wenn ich bedenke, daß Sie, von SkriblereienSchreibereien; von (lat.) scribere = schreiben. aller Art angeödet, diese Zeilen uneröffnet, unbeantwortet der Vernichtung preisgeben könnten! Verlängern Sie mein Hungern und Bangen nicht unnötigerweise! In Erwartung einer freundl. Antwort bleibe ich in tiefer Verehrung

Ihre E Somssich

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat oben auf Seite 1 unter der Adresszeile mit Bleistift das Datum „4.5.5“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 4.5.1905 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum des mit Tag und Monat („4. Mai“) versehenen Briefs, dem Briefinhalt und Wedekinds Datumsnotiz zufolge.

  • Schreibort

    München
    4. Mai 1905 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 161
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Ella Somssich de Saárd an Frank Wedekind, 4.5.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

13.08.2024 15:20
Kennung: 1162

München, 4. Mai 1905 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Somssich de Saárd, Ella

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

München, am 4. Mai.
Adalbertstrasse 46/IIElla Somssich de Saárd, eine „vermögende“ ungarische Gräfin, „die sich unter dem Namen Elohim Sorah in München als Malerin betätigte“ [Hettche 2011, S. 379], wohnte in der Adalbertstraße 46 (2. Stock) zur Untermiete entweder bei der Advokatenwitwe Christine Maurer oder bei der Arztwitwe Karoline Kern [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1905, Teil II, S. 15; Adreßbuch von München für das Jahr 1906, Teil II, S. 15]..


Es ist ein dringliches Klopfen!freies Zitat aus dem 5. Akt des Schauspiels „Hidalla oder Sein und Haben“ (1904): „HETMANN [...] (Da an die Tür gepocht wird) Da kommt schon jemand uns zu stören! FANNY Laß ihn nicht ein, ich bitte dich! (Es wird stärker gepocht.) HETMANN Der Mann klopft sehr eindringlich!“ [KSA 6, S. 93]
(Hetman, in Hidalla“,
letzter Akt.)


Sehr geehrter Herr Wedekind!

Im Falle dieser arme Brief das Glück gehabt hat, nicht schon uneröffnet in den Orkusin den Abgrund (redensartlich); in der römischen Mythologie die Unterwelt oder der Gott der Unterwelt (Orcus). hinabgeschleudert zu werden, hat er vielleicht Aussichten, zu Ende gelesen zu werden. Unter dem Eindruck von HidallaElla Somssich hat die „Hidalla“-Inszenierung im Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) mit Wedekind in der männlichen Hauptrolle des Karl Hetmann gesehen (dort mit großem Erfolg am 18.2.1905 uraufgeführt) und zwar am 29.4.1905 – das war die 25. Vorstellung [vgl. Tb]. 29. April 05 bitte ich Sie um eine AudienzFrank Wedekind hat zeitnah nur eine einzige Begegnung mit Ella Somssich notiert – am 20.7.1905, als er sie mit seinem Bruder Donald Wedekind und Ludwig Scharf traf: „Donald und Scharf kommen mit der Gräfin Somsich in die Torggelstube. Die Gräfin Somsich begleitet mich in meine Wohnung und vollführt einen Höllenskandal“ [Tb]. und hoffe daß Frank HetmanFrank Wedekind spielte in „Hidalla“ die Hauptrolle des Karl Hetmann (siehe oben) und wird hier mit seiner Figur identifiziert. auch im wirklichen Leben vor einem dringlichen AnklopfenAufgreifen des „Hidalla“-Zitats (siehe oben). nicht taub sein wird. | Gewähren Sie mir eine kurze Plauderstunde in – ländlich-sittlich – irgend einem Cafe! Zur Orientirung und Beruhigung diene Ihnen folgendes:

Ich bin

1.) kein Journalist, der Sie interviewen –

2.) keine Frauenrechtlerin, die Sie zur Rechenschaft ziehen

3) kein Blaustrumpf„gebräuchlich für gelehrte, schriftstellernde Damen, namentlich in tadelndem Sinn.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 3. Leipzig, Wien 1903, S. 38], der Ihnen Manuskripte unterbreiten

4) kein hysterisches Weib das Sie mit Geständnißen belästigen

5) kein halbflügges Zeitkind das Sie mit naseweisen Flunkereien langweilen –

6) kein Autographenjäger der Ihnen ein paar Zeilen erpressen

7) kein Amateurphotograph der seinen Kodak„photographische Handcamera der amerikanischen und englischen Eastman-Comp.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 11. Leipzig, Wien 1905, S. 223], hier: Kamera, Fotoapparat. auf Sie dirigiren

8) kein Engländer der Sie als münchner Kuriosität gesehen haben – überhaupt kein müßiger Gaffer | und Tagedieb der Ihnen nolens volens(lat.) wohl oder übel. ein litterarisches Gespräch abluchsen will, sondern blos ein Menschenkind, das wegen Studien verschiedenster Art in München verweilt, dem aber der Erscheinungen interessanteste immer der Mensch bleibt. Und stehe ich vor Wedekind-Hetman mit all seinen genialen Verschrobenheiten, so jubelt es in mir: hier ist ein Mensch! Aber wie konnte gerade er in seinem grandiosem Traum einer regenerirten Menschheit ein tiefmenschliches Momentwohl Anspielung auf Karl Hetmanns Reaktion auf Fanny Kettlers Angebot einer intimen Beziehung, das er zunächst ausschlägt: „Meiner scheußlichen grauenerregenden Mißgestaltung soll ich deine leuchtende Schönheit verkuppeln?!“ [KSA 6, S. 92] so ganz übersehen? Ich poche an die Thüremetaphorisch erneutes Aufgreifen des „Hidalla“-Zitats (siehe oben). Ihrer Nachsicht: erlauben Sie daß ich mich über diesen Punkt mit Ihnen auseinandersetze?

Was riskiren Sie auch dabei? Sie werden gewiß wie andere Erdgeborene mal eine über|flüssige Stunde in einem Cafe totschlagen und sitzen dabei nicht immer mit erwähnten Leuten zusammen – es gibt gar nicht so viel witzige Köpfe – wenn ich also blos ein Bischen weniger stumpfsinnig bin als die Allzuvielen, mit denen Sie in Berührung zu kommen nicht vermeiden können – so werden Sie die mir geschenkte Stunde nicht allzusehr bedauern.

Bestimmen Sie also Lokal und Zeit und vor allem: werfen Sie diesen unglücklichen Brief nicht ungelesen in den Papierkorb. Ich zittre, wenn ich bedenke, daß Sie, von SkriblereienSchreibereien; von (lat.) scribere = schreiben. aller Art angeödet, diese Zeilen uneröffnet, unbeantwortet der Vernichtung preisgeben könnten! Verlängern Sie mein Hungern und Bangen nicht unnötigerweise! In Erwartung einer freundl. Antwort bleibe ich in tiefer Verehrung

Ihre E Somssich

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Wedekind hat oben auf Seite 1 unter der Adresszeile mit Bleistift das Datum „4.5.5“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 4.5.1905 ist als Ankerdatum gesetzt – das Schreibdatum des mit Tag und Monat („4. Mai“) versehenen Briefs, dem Briefinhalt und Wedekinds Datumsnotiz zufolge.

  • Schreibort

    München
    4. Mai 1905 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 161
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Ella Somssich de Saárd an Frank Wedekind, 4.5.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

13.08.2024 15:20