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Kennung: 11

Lenzburg, 2. Dezember 1883 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Greyerz, Minna von

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

[Zeichnung: Regenbogensymbol]

Bundesbruderim „Fidelitas“ genannten Freundschaftsbund, zu dem sich die Brüder Armin (Boreas) und Frank Wedekind (Zephyr/Cephyr), Minna von Greyerz, Mary Gaudard (Nordpol) und Anny Barck (Glanzpunkt) verschwistert hatten.,
lieber Zephyr!

Habe keine GeisterstundeAnspielung auf Wedekinds Datierung („Geisterstunde“) seines letzten Briefs [Wedekind an Minna von Greyerz, 30.11.1883]. aufzuweisen, denn sie ist schon vorüber u die andre noch nicht angekommen, weßhalb mein jetziges Schreiben schwerlich einen schauerlichschönen, gruseligfeinen Eindruck machen wird, umsoweniger, da ich meine Seelenzustände nicht in klaren Worten definiren u klar legen kann, weil dieselben gegenwärtig in chaotischer Unordnung durcheinanderwogen. Ach ja, das Menschenherz ist ein gar wunderliches Ding! Doch um mich nicht auf Abweg führende Reflexionen bringen zu lassen, will ich mich gleich an die scharf gewünschte Kritik wagen. Ja wahrlich, es ist für mich dies ein Wagniß, umsomehr weil ich entweder nicht mehr stark zu denken vermag, oder mein sonst nicht scharf ausgeprägter Verstand, heut besonders viel zu wünschen übrig läßt, oder weil es überhaupt ein Unternehmen für mich ist. So höre denn, | und entrüste Dich! Das Sonett das Gedicht „Blanche Zweifel“, dessen Titel Wedekind in hebräischen Lettern geschrieben hatte und das er seinem Brief an Minna von Greyerz beigelegt hatte.ist mir (abgesehen von der Form, die wol kaum hätte besser sein können, darfst Dir zwar nichts auf dieses einklammirte Lob einbilden, denn ich verstehe blutwenig von Formen) leider nicht leicht verständlich, vielmehr kann ich gar keinen Zusammenhang zwischen dem Titel u der Poesie finden. „Bette zuweilenTransliterationsfehler Minna von Greyerz’ bei der Entschlüsselung der hebräischen Lettern, statt: Blanche Zweifel.“ in Folge dieser Ueberschrift, glaubte ich zuerst es wäre an mich gerichtet, fand aber diesen Zuruf, besonders aus Deinem Mund und an mich, sehr sonderlich(schweiz./österr.) sonderbar.; bin dann aber noch mehr von dieser Vermuthung abgekommen, als Du die anzuredende Person mit kühlem, unnahbarem „Sie“ titulirst, was dem Ganzen etwas Fremdes gibt, denn „Du“ ist weit p poetischer. Doch abgesehen von diesem, in meinen Augen scheinenden Verstoß, (ich weiß zwar wol Heine dichtete auch per Sie,) kann ich gar nicht begreifen, wie sich die in der Du-Anrede befindliche Ueberschrift, mit dem quasi in einer Liebeserklärung u per Sie abgehaltenen Entzückungsrede verhält. Oder sollte ich Dich nicht verstehen? Das thäte mir leid, glaubte ich doch bis anhin, daß auch uns die Harmonie der Freundschaft mit ihren süßen Klängen umwehe. Der 2te Vers d. h. Strophe gefällt | mir am besten im Ganzen. An wenBlanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard; sie war seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. kann dieses sonderliche Sonett also gerichtet sein, an eine s/S/chwars/z/- oder Blauäugige, beinah glaube’ ich an Erstere, da Du momentan für Brünetten zu schwärmen scheinst, oder sollte ich mich irren, ist’s nicht eine „Emmamehrdeutig, vielleicht Emma Bertschinger. Ein Liebesgedicht mit dem Titel „Emma“ nahm Wedekind nach Mitte Januar 1884 in seine Sammlung „Stunden der Andacht“ auf [vgl. KSA 1/I, S. 139-140; (Kommentar) S. 956f.]., welche solch’ eigenthümliches Augenspiel entwickelte? Wundern thuts mich allerdings, daß das feurig gespielte Erglühen für meine AnnyAnny Barck aus Freiburg im Breisgau, die im Juli 1883 ihre Freundin Minna von Greyerz in Lenzburg besucht und die Wedekind während des Aufenthalts kennengelernt hatte., so schnell erloschen ist, aber darin begreif’ ich Dich doch, obwohl ich selbst nur einen Stern kenne, doch lodert auch in mir so etwas, wie soll ich’s nennen – Wildromantisches, u verstehe ich daher Deine leicht erregte Dichterseele, wenn Du bald vom/n/ jener Farbenpracht, bald von diesem Duft berauscht verschiedene Blumen zu Deinen Königinnen erhebst. Zudem stehst Du bereits in dem Alter da Du Deinen Hut mit lustig flatterndem Mohn d. h. Studentenliebe schmücken darfst, worüber ich Dir nicht zürnen kann, denn wäre ich Student, wer weiß was da gescheh’. – Also am Montag Morgenden 26.11.1883. hast Du das Poem verfaßt? Du warst noch duftberauscht, Dein Auge noch entzückt? Kater hattest Du schwerlich, da Du zu solchen/r/ Produktionen fähig gewesen. | Schade, daß es DonnerstagAm Donnerstag, den 29.11.1883, trafen sich die Mitglieder des Lenzburger Frauenvereins. war, als Du Besuche machen wolltest u Du daher Deine Liebenswürdigkeit nicht entfalten konntest u sogar um den halbjährigen Genuß eines viertelstündigen Gesprächs mit „ihr“ gekommen bist. Doch der gefällige Amor wird Dir nächsten SonntagAm Sonntag, den 9.12.1883, fand in Lenzburg im Rahmen des Cäcilienfests die nächste Tanzveranstaltung statt [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 10.12.1883]. hoffentlich um so schöner den Weg bahnen! Kommt Dein Freund OskarOskar Schibler, der langjährige Freund Wedekinds, der im Sommer 1883 die Matura gemacht hatte., vielmehr hast Du ihn davon benachrichtigt? Jedenfalls war er ein geschätzter TänzerSehr „erbaut von der Eleganz, mit der Freund Schibler“ tanzte, war auch Frank Wedekinds Vater, der zudem bemerkte, dass Oskar Schibler zum Ball auf Schloss Lenzburg (am 10.11.1883) „in voller Rüstung, grad’ aus der Kaserne heraus, von Zürich [...] herbeigekommen“ war, [Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21., 26., 28.11.1883 (Familienarchiv Wedekind, Leichlingen)]. u ausgezeichneter Unterhalter. Ich bin begierig zu erfahren welchen Eindruck Dir mein Schreiben macht. Deines glich einem wild dahinbrausenden Bergstrom, bald über das u jenes hüf/p/fend ohne Rast noch Ruh. Nun allzu lange wirst Du Dich auch nicht bei meinen Zeilen aufhalten, ich meine sie sind klar zu überschauen, trotz der himmelstürmenden Schrift; Du wolltest also Deine Schmerzen all eh in ein einzig Wort gießen? Das müßte eine Erlösung sein. Hiemitveraltet, für: Hiermit. eröffne ich wiedrum einen Streit á lavorwärts, Don RodrigoIn Herders Romanze „Der Cid“ ruft die Infantin viermal: „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo! / Deine Ehre ist verloren! / Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid!“ [Johann Gottfried Herder: Der Cid. Tübingen 1806, S. 88 u. 89], in der Umdichtung Schwetschkes heißen die Verse dagegen „Vorwärts, vorwärts! Don Rodrigo, / Don Rodrigo von Schönhausen! / Auf zum Kampfe!“ [Karl Gustav Schwetschke: Bismarckias. Didactisches Epos, Halle 1867, S. 25]“ denn Heine sang nicht „ich wollt’ meine SchmerzenErster Vers aus Heines Lied LXI: „Ich wollt’, meine Schmerzen ergössen / Sich all’ in ein einziges Wort, / Das gäb’ ich den lustigen Winden, / Die trügen es lustig fort.“ [Heinrich Heine: Buch der Lieder. Hamburg 1827, S. 233; vgl. DHA Bd. 1/1, S. 272].“, sondern „ich wollt’ meine LiebeZitat („Ich wollt’, meine Lieb’ ergösse / sich all’ in ein einzig Wort“) aus Felix Mendelssohn-Bartholdys parodiertem Heine-Gedicht, das er unter „op. 63, Nr. 1“ vertonte [Felix Mendelssohn-Bartholdy: Sechs zweistimmige Lieder mit Begleitung des Pianoforte. Op. 63. Leipzig (1844)]. ergösse sich all in ein einzig Wort.“ Klage mir jedoch immerhin Deine Schmerzen, wenn es Dich einigermaßen erleichtert, denn „getheilter Schmerznach dem Sprichwort: „Geteilte Freud’ ist doppelte Freude, / Geteilter Schmerz ist halber Schmerz“ [Büchmann 1879, S. 140]. ist halber Schmerz“, sagen sie. Vielleicht hastWechsel der Schreibrichtung: Minna von Greyerz überschreibt ihren Brieftext der Seite 4 ab hier im Querformat. Du eine Kritik in Jamben oder DrochäenSchreibversehen, statt: Jamben und Trochäen – zweisilbrige Versfüsse bestehend aus einer unbetonten und einer betonten Silbe (Jambus) beziehungsweise einer betonten und einer unbetonten Silbe (Trochäus). erwartet, allein mit den bunten Blättern des Herbstes ist auch meine Poesie davongeflogen – ach mir ist so wimmerlich, ich wollt, s’wär’ Alles vorbei! Mit diesem pessimistischen Wunsch, wenn ein Wunsch überhaupt zum Pessimismus gehört, grüßt Dich Deine trauernde Bundesschwester
SturmwindBundesschwester im Freundschaftsbund „Fidelitas“, in dem Minna von Greyerz das Pseudonym „Sturmwind“ führte..

Sonntag den 2. Dez. 9 Uhr 3/5/0 M.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 21,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Über die Anrede "Bundesbruder / lieber Zephyr!" ist das Regenbogen-Symbol des Bundes gezeichnet. Auf Seite 1 hat Wedekind mit Bleistift das Datum „3 XII 83“ notiert. Seite 4 ist zuerst im Hochformat beschrieben, dann – in der linken unteren Blattecke beginnend („hast Du eine Kritik“) – sind darüber 6 Zeilen im Querformat geschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Jahr des Schreibdatums, von dem Tag („2.“) und Monat („Dez.“) gegeben sind, ist durch den Kontext sicher erschlossen. Als Schreibort kann der Wohnort Minna von Greyerz’ angenommen werden.

  • Schreibort

    Lenzburg
    2. Dezember 1883 (Sonntag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Aarau
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
360-362
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 56
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Minna von Greyerz an Frank Wedekind, 2.12.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

16.04.2024 12:59
Kennung: 11

Lenzburg, 2. Dezember 1883 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Greyerz, Minna von

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

[Zeichnung: Regenbogensymbol]

Bundesbruderim „Fidelitas“ genannten Freundschaftsbund, zu dem sich die Brüder Armin (Boreas) und Frank Wedekind (Zephyr/Cephyr), Minna von Greyerz, Mary Gaudard (Nordpol) und Anny Barck (Glanzpunkt) verschwistert hatten.,
lieber Zephyr!

Habe keine GeisterstundeAnspielung auf Wedekinds Datierung („Geisterstunde“) seines letzten Briefs [Wedekind an Minna von Greyerz, 30.11.1883]. aufzuweisen, denn sie ist schon vorüber u die andre noch nicht angekommen, weßhalb mein jetziges Schreiben schwerlich einen schauerlichschönen, gruseligfeinen Eindruck machen wird, umsoweniger, da ich meine Seelenzustände nicht in klaren Worten definiren u klar legen kann, weil dieselben gegenwärtig in chaotischer Unordnung durcheinanderwogen. Ach ja, das Menschenherz ist ein gar wunderliches Ding! Doch um mich nicht auf Abweg führende Reflexionen bringen zu lassen, will ich mich gleich an die scharf gewünschte Kritik wagen. Ja wahrlich, es ist für mich dies ein Wagniß, umsomehr weil ich entweder nicht mehr stark zu denken vermag, oder mein sonst nicht scharf ausgeprägter Verstand, heut besonders viel zu wünschen übrig läßt, oder weil es überhaupt ein Unternehmen für mich ist. So höre denn, | und entrüste Dich! Das Sonett das Gedicht „Blanche Zweifel“, dessen Titel Wedekind in hebräischen Lettern geschrieben hatte und das er seinem Brief an Minna von Greyerz beigelegt hatte.ist mir (abgesehen von der Form, die wol kaum hätte besser sein können, darfst Dir zwar nichts auf dieses einklammirte Lob einbilden, denn ich verstehe blutwenig von Formen) leider nicht leicht verständlich, vielmehr kann ich gar keinen Zusammenhang zwischen dem Titel u der Poesie finden. „Bette zuweilenTransliterationsfehler Minna von Greyerz’ bei der Entschlüsselung der hebräischen Lettern, statt: Blanche Zweifel.“ in Folge dieser Ueberschrift, glaubte ich zuerst es wäre an mich gerichtet, fand aber diesen Zuruf, besonders aus Deinem Mund und an mich, sehr sonderlich(schweiz./österr.) sonderbar.; bin dann aber noch mehr von dieser Vermuthung abgekommen, als Du die anzuredende Person mit kühlem, unnahbarem „Sie“ titulirst, was dem Ganzen etwas Fremdes gibt, denn „Du“ ist weit p poetischer. Doch abgesehen von diesem, in meinen Augen scheinenden Verstoß, (ich weiß zwar wol Heine dichtete auch per Sie,) kann ich gar nicht begreifen, wie sich die in der Du-Anrede befindliche Ueberschrift, mit dem quasi in einer Liebeserklärung u per Sie abgehaltenen Entzückungsrede verhält. Oder sollte ich Dich nicht verstehen? Das thäte mir leid, glaubte ich doch bis anhin, daß auch uns die Harmonie der Freundschaft mit ihren süßen Klängen umwehe. Der 2te Vers d. h. Strophe gefällt | mir am besten im Ganzen. An wenBlanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard; sie war seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. kann dieses sonderliche Sonett also gerichtet sein, an eine s/S/chwars/z/- oder Blauäugige, beinah glaube’ ich an Erstere, da Du momentan für Brünetten zu schwärmen scheinst, oder sollte ich mich irren, ist’s nicht eine „Emmamehrdeutig, vielleicht Emma Bertschinger. Ein Liebesgedicht mit dem Titel „Emma“ nahm Wedekind nach Mitte Januar 1884 in seine Sammlung „Stunden der Andacht“ auf [vgl. KSA 1/I, S. 139-140; (Kommentar) S. 956f.]., welche solch’ eigenthümliches Augenspiel entwickelte? Wundern thuts mich allerdings, daß das feurig gespielte Erglühen für meine AnnyAnny Barck aus Freiburg im Breisgau, die im Juli 1883 ihre Freundin Minna von Greyerz in Lenzburg besucht und die Wedekind während des Aufenthalts kennengelernt hatte., so schnell erloschen ist, aber darin begreif’ ich Dich doch, obwohl ich selbst nur einen Stern kenne, doch lodert auch in mir so etwas, wie soll ich’s nennen – Wildromantisches, u verstehe ich daher Deine leicht erregte Dichterseele, wenn Du bald vom/n/ jener Farbenpracht, bald von diesem Duft berauscht verschiedene Blumen zu Deinen Königinnen erhebst. Zudem stehst Du bereits in dem Alter da Du Deinen Hut mit lustig flatterndem Mohn d. h. Studentenliebe schmücken darfst, worüber ich Dir nicht zürnen kann, denn wäre ich Student, wer weiß was da gescheh’. – Also am Montag Morgenden 26.11.1883. hast Du das Poem verfaßt? Du warst noch duftberauscht, Dein Auge noch entzückt? Kater hattest Du schwerlich, da Du zu solchen/r/ Produktionen fähig gewesen. | Schade, daß es DonnerstagAm Donnerstag, den 29.11.1883, trafen sich die Mitglieder des Lenzburger Frauenvereins. war, als Du Besuche machen wolltest u Du daher Deine Liebenswürdigkeit nicht entfalten konntest u sogar um den halbjährigen Genuß eines viertelstündigen Gesprächs mit „ihr“ gekommen bist. Doch der gefällige Amor wird Dir nächsten SonntagAm Sonntag, den 9.12.1883, fand in Lenzburg im Rahmen des Cäcilienfests die nächste Tanzveranstaltung statt [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 10.12.1883]. hoffentlich um so schöner den Weg bahnen! Kommt Dein Freund OskarOskar Schibler, der langjährige Freund Wedekinds, der im Sommer 1883 die Matura gemacht hatte., vielmehr hast Du ihn davon benachrichtigt? Jedenfalls war er ein geschätzter TänzerSehr „erbaut von der Eleganz, mit der Freund Schibler“ tanzte, war auch Frank Wedekinds Vater, der zudem bemerkte, dass Oskar Schibler zum Ball auf Schloss Lenzburg (am 10.11.1883) „in voller Rüstung, grad’ aus der Kaserne heraus, von Zürich [...] herbeigekommen“ war, [Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21., 26., 28.11.1883 (Familienarchiv Wedekind, Leichlingen)]. u ausgezeichneter Unterhalter. Ich bin begierig zu erfahren welchen Eindruck Dir mein Schreiben macht. Deines glich einem wild dahinbrausenden Bergstrom, bald über das u jenes hüf/p/fend ohne Rast noch Ruh. Nun allzu lange wirst Du Dich auch nicht bei meinen Zeilen aufhalten, ich meine sie sind klar zu überschauen, trotz der himmelstürmenden Schrift; Du wolltest also Deine Schmerzen all eh in ein einzig Wort gießen? Das müßte eine Erlösung sein. Hiemitveraltet, für: Hiermit. eröffne ich wiedrum einen Streit á lavorwärts, Don RodrigoIn Herders Romanze „Der Cid“ ruft die Infantin viermal: „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo! / Deine Ehre ist verloren! / Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid!“ [Johann Gottfried Herder: Der Cid. Tübingen 1806, S. 88 u. 89], in der Umdichtung Schwetschkes heißen die Verse dagegen „Vorwärts, vorwärts! Don Rodrigo, / Don Rodrigo von Schönhausen! / Auf zum Kampfe!“ [Karl Gustav Schwetschke: Bismarckias. Didactisches Epos, Halle 1867, S. 25]“ denn Heine sang nicht „ich wollt’ meine SchmerzenErster Vers aus Heines Lied LXI: „Ich wollt’, meine Schmerzen ergössen / Sich all’ in ein einziges Wort, / Das gäb’ ich den lustigen Winden, / Die trügen es lustig fort.“ [Heinrich Heine: Buch der Lieder. Hamburg 1827, S. 233; vgl. DHA Bd. 1/1, S. 272].“, sondern „ich wollt’ meine LiebeZitat („Ich wollt’, meine Lieb’ ergösse / sich all’ in ein einzig Wort“) aus Felix Mendelssohn-Bartholdys parodiertem Heine-Gedicht, das er unter „op. 63, Nr. 1“ vertonte [Felix Mendelssohn-Bartholdy: Sechs zweistimmige Lieder mit Begleitung des Pianoforte. Op. 63. Leipzig (1844)]. ergösse sich all in ein einzig Wort.“ Klage mir jedoch immerhin Deine Schmerzen, wenn es Dich einigermaßen erleichtert, denn „getheilter Schmerznach dem Sprichwort: „Geteilte Freud’ ist doppelte Freude, / Geteilter Schmerz ist halber Schmerz“ [Büchmann 1879, S. 140]. ist halber Schmerz“, sagen sie. Vielleicht hastWechsel der Schreibrichtung: Minna von Greyerz überschreibt ihren Brieftext der Seite 4 ab hier im Querformat. Du eine Kritik in Jamben oder DrochäenSchreibversehen, statt: Jamben und Trochäen – zweisilbrige Versfüsse bestehend aus einer unbetonten und einer betonten Silbe (Jambus) beziehungsweise einer betonten und einer unbetonten Silbe (Trochäus). erwartet, allein mit den bunten Blättern des Herbstes ist auch meine Poesie davongeflogen – ach mir ist so wimmerlich, ich wollt, s’wär’ Alles vorbei! Mit diesem pessimistischen Wunsch, wenn ein Wunsch überhaupt zum Pessimismus gehört, grüßt Dich Deine trauernde Bundesschwester
SturmwindBundesschwester im Freundschaftsbund „Fidelitas“, in dem Minna von Greyerz das Pseudonym „Sturmwind“ führte..

Sonntag den 2. Dez. 9 Uhr 3/5/0 M.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 21,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Über die Anrede "Bundesbruder / lieber Zephyr!" ist das Regenbogen-Symbol des Bundes gezeichnet. Auf Seite 1 hat Wedekind mit Bleistift das Datum „3 XII 83“ notiert. Seite 4 ist zuerst im Hochformat beschrieben, dann – in der linken unteren Blattecke beginnend („hast Du eine Kritik“) – sind darüber 6 Zeilen im Querformat geschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Jahr des Schreibdatums, von dem Tag („2.“) und Monat („Dez.“) gegeben sind, ist durch den Kontext sicher erschlossen. Als Schreibort kann der Wohnort Minna von Greyerz’ angenommen werden.

  • Schreibort

    Lenzburg
    2. Dezember 1883 (Sonntag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Aarau
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
360-362
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 56
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Minna von Greyerz an Frank Wedekind, 2.12.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

16.04.2024 12:59