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Kennung: 1044

München, 7. Januar 1909 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kerr, Alfred

Inhalt

Sehr geehrter Herr KerrDr. phil. Alfred Kerr, Schriftsteller in Wilmersdorf bei Berlin (Kurfürstendamm 145) [vgl. Berliner Adreßbuch 1909, Teil I, S. 1242], besonders als Kritiker ausgewiesen [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1909, Teil II, Sp. 812].!

Ich hoffe nicht in den Verdacht der Zudringlichkeit zu kommen. Hätten Sie sich in der Neuen RundschauAlfred Kerr hat sich im aktuellen Heft der Monatsschrift „Die neue Rundschau“ (erschienen im S. Fischer Verlag in Berlin), das Besprechungen zufolge gerade erschienen ist [vgl. Neue Freie Presse, Nr. 15943, 9.1.1909, Morgenblatt, S. 19], über Wedekinds Stücke „Musik“ (1908) und „Oaha“ (1908) geäußert und meinte über den Autor: „Sein Feld sind die komischen Gekreuzigten.“ [Alfred Kerr: Thoma-Wedekind-Shaw. In: Die neue Rundschau, Jg. 20 (1909), Bd. 1, S. 137-142, hier S. 140] abfällig über mich geäußert, dann würde ich mich schwerlich an Sie wenden. Aber auch für die Fälle Gelegenheiten, bei denen Sie sich wieder abfällig über mich urteilen werden, bleibt, glaube ich ein berechtigter Wunsch auf meiner Seite bestehen, den mir auch die abfällige ablehnende Kritik nicht verargen kann, der Wunsch meine Absichten offen auszusprechen, wobei ich mir bewußt bin, daß diese Absichten natürlich ebenso der öffentlichen Kritik unterliegen wie die Ausführungen. Ich hatte einen fertigen Stoff vorgefundenWedekinds „Musik“ (1908) verarbeitet reale Vorkommnisse in München um den mit ihm befreundeten Gesangslehrer Anton Dreßler (verheiratet mit Lotte Dreßler) [vgl. KSA 6, S. 746f.] und dessen Schülerin Gertrude Rolffs [vgl. Martin 2018, S. 66-71, 113f.]., von dem Mancher gesagt haben würde,/:/ das ist eine | schriftstellerisch gänzlich unbrauchbare Biertischzote. Mancher Andere hätte vielleicht gesagt: in der/m/ Begebenheit Schicksal liegt der Stoff zu einem ernsten Drama. Ich hielt beides für unrichtig. Die Begebenheiten Der Stoff erschienen mir aber so original, plastisch und abgeschlossen, daß ich ihn zum mindesten vor dem Vergessenwerden bewahren wollte. Die künstlerisch einzig gerechtfertigte Form schien mir die der Parodie zu sein. In Offenbach besitzen wir eine künstlerisch sehr hoch stehende parodistische Musik. Warum sollte nicht auch ein künstlerisch achtbares parodistisches Drama möglich sein. Gumppenberg hat eine ganze Reihe solcher parodistischer DramenWedekind dachte an die Dramenparodien Hanns von Gumppenbergs (Pseudonym: Jodok), die seinerzeit bei den Elf Scharfrichtern gespielt wurden. geschrieben. So entstand „Musik“, eine anspruchslose leichte Ware, der gegenüber | ich aber künstlerisch ein völlig ziemlich reines Gewissen habe. Ich glaube heute noch, daß mir das wenige, was ich beabsichtigte, meinem unmaßgeblichen Gefühl nach beinahe restlos gelungen ist.

Sie kommen auf Ihre BesprechungAlfred Kerrs frühere Besprechung von „So ist das Leben“ (1902) ist nicht ermittelt; aktuell hatte er bemerkt: „Dramatisch kommen Schmerz und Schwäche zuerst in ‚So ist das Leben‘ zu Tage.“ [Alfred Kerr: Thoma-Wedekind-Shaw. In: Die neue Rundschau, Jg. 20 (1909), Bd. 1, S. 140] meines Dramas So ist das Leben zurück, die mit den Worten schloß Nein, F.W, so ist das Leben nicht. Darf ich auch hierüber etwas rein ÄußlichesSchreibversehen, statt: Äußerliches. bemerken? S. ist d. L. war das unmittelbare Produkt des Durchfalls meines M v. Keith, ein larmoyantes Schmerzenskind ohne individuelle Qualitäten, als was wie Sie es damals ganz sofort richtig charakterisierten hinstellten abschätzten. Allerdings konnte ich nicht darauf gefaßt sein, daß auch hierin wieder der szenische Humor völlig unbemerkt bleiben würde.

Erlauben Sie mir noch ein Wort | über Oaha. Meine einzige Rechtfertigung ist die Gewalt des Stoffes, die mich zwang nötigte, ihn auszuarbeiten, während ich garnicht das Bedürfnis hatte irgend etwas zu schreiben. Ich sagte mir dabei: Von dem Augenblick an, wo es meinem Helden schlecht geht, muß er sich als ein ganz durchaus liebenswürdiger korrekter Mensch zeigen. Dadurch sind die beiden letzten Akte schwächer geworden. Ich hielt dies Decrescendoin der Tonstärke schwächer, leiser werdend. für ästhetisch geboten. Von der Wuth, die man bei mir als Autor voraussetzt, habe ich während des Schreibens nichts empfunden. Übrigens habe ich der Arbeit gegenüber künstlerisch noch durchaus kein reines Gewissen. Ich hoffe noch manches daran zu bessern

Soll ich Ihnen nun noch für die anerkennenden Worte danken, die Sie | über mich schreiben? Ich glaube keine Ursache dazu zu haben. Jedenfalls war das nicht der Zweck dieser Zeilen. Ebensowenig Ursache habe ich allerdings Ihnen zu verhehlen, daß mir Ihre Anerkennung eine große Freude war.

Mit hochachtungsvollem Gruß
Ihr
FrW.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchblätter. Seitenmaß 10 x 16,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Es handelt sich um einen Briefentwurf [Nb 55, Blatt 16v-18v], auf dessen Grundlage ein nicht überlieferter Brief geschrieben und abgesandt wurde. Die Korrekturen sind teilweise in Tinte ausgeführt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Wedekind hat mit der Abfassung des Briefs in München am 6.1.1901 begonnen – „Im Hofbräuhaus Brief an Kerr“ [Tb] – und ihn am 7.1.1909 abgeschlossen: „Im Hofbräuhaus schreibe ich Brief an Kerr.“ [Tb]

  • Schreibort

    München
    7. Januar 1909 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Wilmersdorf bei Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
212-214
Briefnummer:
321
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief als „Entwurf“ ausgewiesen und datiert: „Berlin, Ende 1908 oder Anfang 1909.“
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/55
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Alfred Kerr, 7.1.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

05.06.2024 13:38
Kennung: 1044

München, 7. Januar 1909 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kerr, Alfred
 
 

Inhalt

Sehr geehrter Herr KerrDr. phil. Alfred Kerr, Schriftsteller in Wilmersdorf bei Berlin (Kurfürstendamm 145) [vgl. Berliner Adreßbuch 1909, Teil I, S. 1242], besonders als Kritiker ausgewiesen [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1909, Teil II, Sp. 812].!

Ich hoffe nicht in den Verdacht der Zudringlichkeit zu kommen. Hätten Sie sich in der Neuen RundschauAlfred Kerr hat sich im aktuellen Heft der Monatsschrift „Die neue Rundschau“ (erschienen im S. Fischer Verlag in Berlin), das Besprechungen zufolge gerade erschienen ist [vgl. Neue Freie Presse, Nr. 15943, 9.1.1909, Morgenblatt, S. 19], über Wedekinds Stücke „Musik“ (1908) und „Oaha“ (1908) geäußert und meinte über den Autor: „Sein Feld sind die komischen Gekreuzigten.“ [Alfred Kerr: Thoma-Wedekind-Shaw. In: Die neue Rundschau, Jg. 20 (1909), Bd. 1, S. 137-142, hier S. 140] abfällig über mich geäußert, dann würde ich mich schwerlich an Sie wenden. Aber auch für die Fälle Gelegenheiten, bei denen Sie sich wieder abfällig über mich urteilen werden, bleibt, glaube ich ein berechtigter Wunsch auf meiner Seite bestehen, den mir auch die abfällige ablehnende Kritik nicht verargen kann, der Wunsch meine Absichten offen auszusprechen, wobei ich mir bewußt bin, daß diese Absichten natürlich ebenso der öffentlichen Kritik unterliegen wie die Ausführungen. Ich hatte einen fertigen Stoff vorgefundenWedekinds „Musik“ (1908) verarbeitet reale Vorkommnisse in München um den mit ihm befreundeten Gesangslehrer Anton Dreßler (verheiratet mit Lotte Dreßler) [vgl. KSA 6, S. 746f.] und dessen Schülerin Gertrude Rolffs [vgl. Martin 2018, S. 66-71, 113f.]., von dem Mancher gesagt haben würde,/:/ das ist eine | schriftstellerisch gänzlich unbrauchbare Biertischzote. Mancher Andere hätte vielleicht gesagt: in der/m/ Begebenheit Schicksal liegt der Stoff zu einem ernsten Drama. Ich hielt beides für unrichtig. Die Begebenheiten Der Stoff erschienen mir aber so original, plastisch und abgeschlossen, daß ich ihn zum mindesten vor dem Vergessenwerden bewahren wollte. Die künstlerisch einzig gerechtfertigte Form schien mir die der Parodie zu sein. In Offenbach besitzen wir eine künstlerisch sehr hoch stehende parodistische Musik. Warum sollte nicht auch ein künstlerisch achtbares parodistisches Drama möglich sein. Gumppenberg hat eine ganze Reihe solcher parodistischer DramenWedekind dachte an die Dramenparodien Hanns von Gumppenbergs (Pseudonym: Jodok), die seinerzeit bei den Elf Scharfrichtern gespielt wurden. geschrieben. So entstand „Musik“, eine anspruchslose leichte Ware, der gegenüber | ich aber künstlerisch ein völlig ziemlich reines Gewissen habe. Ich glaube heute noch, daß mir das wenige, was ich beabsichtigte, meinem unmaßgeblichen Gefühl nach beinahe restlos gelungen ist.

Sie kommen auf Ihre BesprechungAlfred Kerrs frühere Besprechung von „So ist das Leben“ (1902) ist nicht ermittelt; aktuell hatte er bemerkt: „Dramatisch kommen Schmerz und Schwäche zuerst in ‚So ist das Leben‘ zu Tage.“ [Alfred Kerr: Thoma-Wedekind-Shaw. In: Die neue Rundschau, Jg. 20 (1909), Bd. 1, S. 140] meines Dramas So ist das Leben zurück, die mit den Worten schloß Nein, F.W, so ist das Leben nicht. Darf ich auch hierüber etwas rein ÄußlichesSchreibversehen, statt: Äußerliches. bemerken? S. ist d. L. war das unmittelbare Produkt des Durchfalls meines M v. Keith, ein larmoyantes Schmerzenskind ohne individuelle Qualitäten, als was wie Sie es damals ganz sofort richtig charakterisierten hinstellten abschätzten. Allerdings konnte ich nicht darauf gefaßt sein, daß auch hierin wieder der szenische Humor völlig unbemerkt bleiben würde.

Erlauben Sie mir noch ein Wort | über Oaha. Meine einzige Rechtfertigung ist die Gewalt des Stoffes, die mich zwang nötigte, ihn auszuarbeiten, während ich garnicht das Bedürfnis hatte irgend etwas zu schreiben. Ich sagte mir dabei: Von dem Augenblick an, wo es meinem Helden schlecht geht, muß er sich als ein ganz durchaus liebenswürdiger korrekter Mensch zeigen. Dadurch sind die beiden letzten Akte schwächer geworden. Ich hielt dies Decrescendoin der Tonstärke schwächer, leiser werdend. für ästhetisch geboten. Von der Wuth, die man bei mir als Autor voraussetzt, habe ich während des Schreibens nichts empfunden. Übrigens habe ich der Arbeit gegenüber künstlerisch noch durchaus kein reines Gewissen. Ich hoffe noch manches daran zu bessern

Soll ich Ihnen nun noch für die anerkennenden Worte danken, die Sie | über mich schreiben? Ich glaube keine Ursache dazu zu haben. Jedenfalls war das nicht der Zweck dieser Zeilen. Ebensowenig Ursache habe ich allerdings Ihnen zu verhehlen, daß mir Ihre Anerkennung eine große Freude war.

Mit hochachtungsvollem Gruß
Ihr
FrW.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 5 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchblätter. Seitenmaß 10 x 16,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Es handelt sich um einen Briefentwurf [Nb 55, Blatt 16v-18v], auf dessen Grundlage ein nicht überlieferter Brief geschrieben und abgesandt wurde. Die Korrekturen sind teilweise in Tinte ausgeführt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Wedekind hat mit der Abfassung des Briefs in München am 6.1.1901 begonnen – „Im Hofbräuhaus Brief an Kerr“ [Tb] – und ihn am 7.1.1909 abgeschlossen: „Im Hofbräuhaus schreibe ich Brief an Kerr.“ [Tb]

  • Schreibort

    München
    7. Januar 1909 (Donnerstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Wilmersdorf bei Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
212-214
Briefnummer:
321
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief als „Entwurf“ ausgewiesen und datiert: „Berlin, Ende 1908 oder Anfang 1909.“
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/55
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Alfred Kerr, 7.1.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

05.06.2024 13:38