Stein
a/Rh
den 21/XII 1884.
Mein lieber Franklin!
Beßten Dank für Deinen lieben interessanten Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 1.12.1884.. Es hätte von Deiner
Seite durchaus keiner Entschuldigung wegen spätem Schreiben gebraucht. Die
Correspondenz mit mir soll Dir durchaus keine Last und keine übernommene
Pflicht sein. So sehr mich Deine Briefe freuen, bin ich doch nicht so
selbstsüchtig, um solche zu beanspruchen. Fühlst Du Dich angeregt dazu mit mir über Gesehenes,
Gehörtes, Gelesenes oder Empfundenes zu plaudern, so ist es mir eine Freude und
ein Genuß und kannst du meiner Theilnahme immer gewiß sein; wenn Dich aber das
Leben lustig schaukelt auf blauen Wogen des geistigen und ästhetischen Genußes,
dann | nimmt’s die philosophische Tante auch nicht schief, wenn Du sie mal für
einige Wochen oder Monate vergißest.
Also Du gefällst Dir in MünchenWedekind hatte zum Wintersemester 1884/85 ein Jurastudium an der Münchener Universität aufgenommen.
hast viel schönes gesehen und viel interessantes gehört und findest auch
Jurisprudentia nicht gar zu ledern. Das freut mich alles
herzlich. Dein Fachstudium kann dir in jedem Falle nur nützen, auch wenn Du
bestimmt sein solltest in ganz anderem Gebiete dereinst zu schaffen und zu
wirken. Gottf. Keller, Conrad Ferd. Meier waren Juristen; so
die Philosophen Lasson
und v. Kirchmann; nicht minder
der geistvolle JournalistFranz von Holtzendorff; Strafrechtler, seit 1872 Professor an der Universität München, Herausgeber juristischer und allgemeinwissenschaftlicher Periodika. v. Holzendorf und der Dichter und
Culturhistoriker Felix Dahn
– und so noch sehr viele bedeutende Schriftsteller und Dichter. Also nur gedultigSchreibversehen, statt: geduldig. auch das Trockene an
dem Fache mit geschluckt – es giebt daneben auch so viel Historisch- und
Kulturhistorisches in diesem Gebiete, | das sich auch dichterisch sehr gut verwerthen
läßt. – Was Du mir über G. Max
schreibst, war mir sehr interessant. Bezüglich des Mädchens mit dem Tod im AugeDas Bild ist nicht ermittelt., hast
Du vollständig recht;
das ist nicht mehr Kunst, sondern Kunststückchen, das ästhetisch
nicht höher steht als jene dreifachen Bilder, die man oft in der Schweiz bei
Bauern und kleinen Bürgern in der Stube hängen sieht, und von vorne gesehen den
Luther, von links
den Calvin, von
rechts den Zwingeauch: Zwingel; andere Schreibweisen für Huldrych (Ulrich) Zwingli aus Zürich, dem Begründer der Schweizer Reformation und Wegbereiter des Genfer Reformators Johannes Calvin. Zusammen mit dem Initiator der Reformation Martin Luther sind sie die Namensgeber der drei reformatorischen Kirchen. (oder Kaiser, Bismark und MolkeWilhelm I. von Preußen, seit der Reichsgründung 1871 erster Kaiser des Deutschen Reichs, sein Reichskanzler Otto von Bismarck (zuvor Ministerpräsident in Preußen) und Generalstabschef, ab 1871 Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke. u.s.w.) sehen laßen Du
kennst sie gewiß! Ich hoffe, daß es
Dir nicht an Gelegenheit fehlen wird noch andere Stücke von R. Wagner zu hören als RienziAm Sonntag, den 30.11.1884, wurde von 18.30 bis gegen 22.30 im Königlichen Hof- und National-Theater München „Rienzi“, Richard Wagners „Große tragische Oper in fünf Aufzügen“ aufgeführt [Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 37, Nrn. 335 u. 336, 30.11.1884, S. 3]. und die MeistersingerRichard Wagners Oper „Die Meistersinger“ wurde am 23.11.1884 im königlichen Hoftheater in München aufgeführt [vgl. Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger, Jg. 37, Nr. 328 u. 329, 23.11.1888, S. 3]., und daß Du dann einen beßern Eindruk von Wagner und seiner Kunst erhalten wirst. Rienzi ist noch kein
Drama nach Wagners TheorieRichard Wagner entwickelte seine Ideen von einer ‚neuen, wahren Kunst‘ für die zuvor alles Alte zerstört werden müsse, und von einem ‚Gesamtkunstwerk‘ erst Jahre später in seinen kunsttheoretischen Schriften [vgl. Richard Wagner: „Die Kunst und die Revolution“ (Leipzig 1849), Das Kunstwerk der Zukunft (Leipzig 1850), Oper und Drama (3 Tle., Leipzig 1852)].; im Anfang der 40 Jahre„Rienzi, der letzte der Tribunen“ wurde am 20.10.1842 am Hoftheater Dresden uraufgeführt. | entstanden, ist es
noch ganz nach dem Muster und Recept der „grand opera“,
wie sie Meierbeer
für Paris erfand
(in den 30 Jahren) gearbeitetEin Bonmot, Richard Wagners Freund Hans von Bülow zugeschrieben, nennt „Rienzi“ die beste Oper Giacomo Meyerbeers [vgl. Martin Gregor-Dellin: Richard Wagner. München 1982, S. 131] Der gefeierte Komponist der Grand Opera, der Wagner in Paris verschiedentlich finanziell unterstützte, wurde von diesem anfänglich bewundert, später in seinen kritischen Schriften antisemitisch diffamiert [vgl. „Das Judentum in der Musik“ (1850); „Oper und Drama“ (Leipzig 1852)]..
Um „Rienzi“ gerecht zu werden, muß man dieses Stück mit Meierbeer’s „Hugenotten“, „Robert der Teufel“ und „Prophet“, mit Auber’s „Stummen“ und „Halevy’s „Jüdin“ vergleichen. Dann erkennt mannSchreibversehen, statt: man., wie der junge
Wagner schon die Alt-Meister überragte. „Tannhäuser“ ist dann das Werk, wo Wagner’s
Genius die Form der grand
opera sprengt und
in „Lohengrin“ hebt
er zum ersten mal unbehemmtSchreibversehen, statt: ungehemmt.
die Schwingen.
Ich bin fest überzeugt, wenn Du diese Stücke siehst und
hörst, dann beginnst Du auch für Wagner zu schwärmen, denn hier ist er eben
schon ganz Wagner der Einzige, und doch bewegt er sich noch in solchen
Bahnen der Musi musikalischen Form, daß
ihn gewöhnliche Ohren, | d.h. das Ohr das nicht vorher schon für seine Werke
herangebildet ist, unmittelbar f genießend folgen kann.
Von seinen späteren Werken kenne ich leider so gut wie nichts. Bloß noch die Einleitung z. Parsifal – die mich entzückte und die noch
immer ganz lebendig in mir lebt. Die Ouvertüre zu den „Meistersinger“ habe ich auch gehört, weiß aber
nichts davon, als daß sie verworren, und sehr herbe und hart
klang. Sehr viele Leute stoßen sich an den Meists. und an den selben Scenen wie Du. Das Werk
ist wohl auch nicht
aus einem Guße. Es wurde conceptirt
in den 40. Jahren, als es Wagner, nach bösen Jahren, in Dresden anfing wohl
zu werden im Frieden bürgerlicher Auskömmlichkeit; dann kam die Revolution (49)Richard Wagner hatte sich im Dresdner Maiaufstand den Aufständischen angeschlossen, wurde seit dem 16.5.1849 steckbrieflich gesucht und floh in die Schweiz nach Zürich, wo er bis 1858 im Exil lebte. und es
folgten die künstlerisch so fruchtbaren Jahre des Schweizer|exiles. Aber in
diesen Jahren gingen die Wogen der Tragik hoch, und erst als W. amnestirtDurch König Johann von Sachsen erhielt Wagner im August 1860 eine Teilamnestie, 1862 die vollständige Amnestie. war und wieder deutsches Land betrat,
wurde rasch die/a/s seidherSchreibversehen, statt: seither.
liegen gelaßene humoristische Opus wieder hervorgezogen und nun vollendet. „Tristan u. Isolde“ wirst
Du wahrscheinlich auch Gelegenheit haben zu hören; es wird von Vielen über die Niebelungen gestellt und
nebst „Parsifal“ als das Schönste was W. geschaffen erklärt. – Wenn Du wieder in die Schack’sche Gemälde-Gall. gehstDie Gemäldesammlung des Grafen Adolf Friedrich Schack befand sich in seinem Palais an der Brienner Straße 19 und war seit 1865 öffentlich zugänglich [vgl. https://www.pinakothek.de/de/sammlung-schack]., so sieh’ doch mir zu
liebe nach Bildern von Böcklin
um. G. Schack hat nämlich
Böcklin sozusagen entdeckt und sehr protegirt1859 vermittelte der Dichter Paul Heyse „den Kontakt zu Arnold Böcklin, von dem Schack zwischen 1863 und 1874 insgesamt 16 Gemälde erwirbt. Er wird damit zum wichtigsten Förderer der noch jungen Karriere dieses Künstlers.“ [(Geschichte) https://www.pinakothek.de/de/sammlung-schack], und wenn Du mir dann wieder einmal schreibst, so sage
mir was Du gesehen und s was für einen Eindruck Dir das Geschaute
gemacht hattSchreibversehen, statt: hat.. – |
Ich danke Dir und Deinem Bruder ArminFrank und Armin Wedekind studierten im Wintersemester 1884/85 beide in München, Frank Jura, Armin Medizin. herzlich für die freundliche Einladung
meines Jungens. Ich
sende ihm heute genügend Geld, daß er nach München reisen kann, wenn sein Principal ihm Urlaub
geben kann. Ich weis aber noch nicht wie es damit stehen wirdSchon am 10.12.1884 hatte Hermann Plümacher den Freunden absagen müssen, da er von seinem Prinzipal Franz Xaver Steinhauser keinen Urlaub über die Weihnachtszeit erhielt [vgl. Hermann Plümacher an Frank Wedekind, 10.12.1884].. –
Anbei sende Dir ein Büchleinvielleicht der 1884 herausgekommene Roman „Der fahrende Geselle“ (Leipzig 1884) oder der Roman „Vor dem Attentat“ (Dresden 1884), der 1883 schon in der Zeitschrift „Über Land und Meer“ (Deutsche Roman-Bibliothek) erschienen war. von H. Lorm; die Sachen von Lorm, noch mehr als sie einem direct geben,
regen sehr wirksam zum Denken an.
Und nun lebe wohl lieber Franklin! Sammle Weisheit und
genieße das Schöne in vollen Zügen! Hoffentlich hat/b/en Dir der/ie/ frischen Winde, der/ie/ in München wehen sollen, die SpinnegewebeSchreibversehen, statt: Spinnengewebe. etwas
{etwelchen} g ungesunden
EmpfindensAnspielung auf die im September 1884 begonnene Liebschaft zwischen Wedekind und der verwitweten Bertha Jahn [vgl. die Korrespondenz]., welche sich in Lenzburg
um Dein junges Herz zu legen drohten, radikal fortgemacht. –
Wenn mein Junge zu Euch | kommt, so verführt mir ihn
nicht; zeigt ihm nicht gar zu hübsche MünchenerinenSchreibversehen, statt: Münchnerinnen. und schwärmt ihm nicht gar zu schönes vor vom freien
Studentenleben, damit ihm, zurückgekehrt, seine Schreibstube nicht gar zu grau vorkommt! Also
adieu, u. mögen Dich die Musen und die Gracien – aber
die echten, klassischenin der griech. Mythologie sind die neun Musen die Schutzgöttinnen der Künste, und ihre Schwestern, die drei Grazien, Göttinnen des Frohsinns (Euphrosyne), der Jugendlichkeit (Thalia) und des Glanzes (Aglaja).,
nicht die mit den Riegelhaubenschöne, junge Frauen; hier wohl in Anlehnung an die berühmte Münchner Schönheit Helene Sedlmayr, deren Porträt in Münchner Bürgertracht und Riegelhaube – einer Frauenhaube aus Leinen mit Gold- und Silberstickerei – zu den ersten 17 Bildern der Schönheitengalerie König Ludwig I. von Bayern gehörte.
– unter ihren Schutz u.
Schirm nehmenRedewendung antiken Ursprungs: sub tuum praesidium (lat.) unter deinen Schutz und Schirm.!
Empfehle mich Deinem Bruder Armin.
Ich verbleibe Deine Dich aufrichtig liebende Tante
O. Plümacher.