Leipzig, 23.XII.1897.
Lieber Freund,
Ihr Brief nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Weinhöppel an Wedekind, 20.12.1897.hat mich mit großer Betrübnis erfüllt. Ich bedaure,
Ihnen vor der Hand nichts schreiben zu können, was geeignet wäre, Sie zu
erheitern, denn mir geht es nicht viel besser und die trübe Stimmung ist immer
die vorherrschende. Ich habe AussichtenBezieht sich hier und im Folgenden zunächst auf die geplante Uraufführung von Wedekinds Stück „Der Ergeist“, die am 25.2.1898 unter der Regie von Carl Heine im Theatersaal des Krystallpalasts in Leipzig stattfand. Die veranstaltende Litterarische Gesellschaft zu Leipzig hatte sich diesbezüglich im Oktober 1897 an Wedekind gewandt und bereits am 26.11.1897 eine Lesung mit ihm vernstaltet [vgl. Kurt Martens’ Brief an Wedekind vom 9.10.1897]. Ermutigt durch diesen Erfolg blieb Wedekind anschließend in Leipzig, wo ihn Heine ab Januar 1898 für ein Fixum von 150 Mark auf zunächst drei Monate an das Ibsen-Theater verpflichtete und mit dramaturgischen Aufgaben beschäftigte. Nach der Uraufführung des "Erdgeist" ging Wedekind von März bis Juni 1898 mit Heines Ibsen-Theater auf Tournee., aber das ist auch alles, und meine
Energie ist so gut wie zum Teufel. Ich habe, trotzdem mir Ihr Brief eine große
Freude war, wie Sie sehen drei Tage gebraucht, um nur die Feder in die Hand zu
nehmen. Ich hörte von MorgensternDer mit Wedekind befreundete Varietékünstler Willi Rudinoff (eigentlich: Wilhelm Morgenstern) hatte Wedekinds Vorlesung in der Litterarischen Gesellschaft zu Leipzig (26.11.1897) besucht [vgl. Wedekinds Brief an Emilie Wedekind-Kammerer vom 2.12.1897]., daß Sie sehr krank waren; Ihnen fehlt auch
nur das Eine, hinauszukommen in die Oeffentlichkeit und deshalb gratuliere ich
Ihnen von Herzen zu der Aquisition eines zahlenden Verlegersnicht ermittelt. Zahlreiche Drucke von Weinhöppels Liedern erschienen ab 1902 im Verlag von Friedrich Hofmeister (Leipzig).. Von mir kann ich
Ihnen wirklich wenig anderes schreiben, als daß ich in ekelhafter Weise
LohnsklavenarbeitWedekinds Haupteinnahmequelle bestand seit 1896 in seiner regelmäßigen, aber relativ schlecht bezahlten Mitarbeit an Albert Langens satirischer Zeitschrift „Simplicissimus“. Ab dem zweiten Jahrgang (1897/98) veröffentlichte Wedekind hier unter verschiedenen Pseudonymen (u. a. Hieronymus Jobsius, Hermann) eine lange Reihe von politisch-satirischen Gedichten. verrichte, dabei habe ich Aussichten auf alle möglichen
Herrlichkeiten, doch wage ich kaum mehr davon zu sprechen. Ich glaube an nichts
mehr, außer wenn es geschehen ist. Sie sehen der Brief wird sehr traurig. Sie
haben wenigstens Frauen, die Ihnen gut sind. Grüßen Sie bitte Frl. S.
herzlichst von mir, vielleicht komme ich gegen den Frühling nach München,
vielleicht, vielleicht auch nicht. Weiß der Teufel, ich bin flügellahm von dem
ewigen Reißen an meiner Kette; wer weiß, ob Sie mich überhaupt wiedererkennten;
ich bin energielos, hart, zerschlagen. Wie gesagt, ich habe wieder einmal
Aussicht aufgeführt zu werden, auch eine Stellungan Carl Heines Leipziger Theaterunternehmungen. zu bekommen, aber daran
glauben kann ich noch nicht.
Kann ich Ihnen irgend etwas bei meiner Schwester helfenbei der Vermittlung von Weinhöppels Liedern an die Sängerin Erika Wedekind [vgl. Wedekinds Brief an Weinhöppel vom 8.10.1897]., für den
Fall daß Ihre Sachen gedruckt sind, dann schreiben Sie es mir bitte.
Von BierbaumOtto Julius Bierbaum hatte wenige Tage zuvor, am 17.12.1897, vor den Mitgliedern der Litterarischen Gesellschaft in Leipzig aus seinem kürzlich erschienenen Buch „Stilpe. Ein Roman aus der Froschperpektive“ (1897) vorgelesen [vgl. Beyerlein 1923, S. 104]. Wedekind dürfte ihn bei dieser Gelegenheit gesprochen haben. hörte ich allerhand über Dr. Conrad e. ct.Der Zusammenhang ist nicht ermittelt. Wenn Sie
mir darüber schreiben wollen, dann schreiben Sie mir bitte aufrichtig.
Wenn es sich in der That so verhält, dann kann ich ja nur zufrieden darüber
sein.
Ich hoffe sehr darauf, daß uns das Schicksal bald wieder
zusammenführt. Was mich betrifft, würde der erste freie Athemzug, den ich thun
darf, dazu genügen.
Ich wünsche Ihnen gesundheitlich das allerbeste. Lassen Sie es
sich nicht nahekommen, daß Sie auch körperlich leiden. Ihre Nerven sind
vielleicht doch die Hauptschuld, und daran mag die versumpfte Luft in München
und die Eintönigkeit der Menschen Ursache sein. Sie glücklicher, daß Sie wenigstens
eine Frau haben, die mit Ihnen fühlt. Ich habe hier sehr liebe Leute gefunden,
aber bis jetzt noch nichts versöhnendes, nichts Weibliches. Lange werde ich
nicht hier bleiben, vielleicht bis 1. März, dann gehe ich nach München oder
nach Berlin zurück, oder auch sonst wohin. Ich sehne mich ungeheuer nach
München, aber ich wage nicht hinzugehen, ohne das geringste erreicht zu haben,
d. h. wagen würde ich es schon, aber ich mag das gleiche Hundeleben dort nicht
von neuem beginnen, und doch habe ich seit München so schöne Tage nicht mehr
erlebt. Ich schicke Ihnen tausend herzliche Grüße und die besten Wünsche, auch
für die Feiertage.
In alter Freundschaft Ihr
Frank Wedekind.