München,
December 84.
Liebe
Mama,
Prost Neujahr! – Viel Glück und Segen
und alles Gute des Himmels und der Erde, der Liebe und des Lebens, seelischen und
leiblichen Wohles!! Die besten Glückwünsche unseren lieben Geschwistern; sie
mögen groß und stark werden, innen und außen, und ihre fernen BrüderFrank und Armin Wedekind verbrachten die Weihnachtsferien an ihrem Studienort München. nicht
vergessen! ––
Beiliegend senden wir Euch unser BildDie überlieferte Fotografie, die Frank Wedekind (stehend) mit seinem Bruder Armin und Walter Oschwald (beide sitzend) um ein Tischchen gruppiert zeigt, liegt dem Brief nicht mehr bei [abgedruckt in: Vinçon 2021, Bd. 2, S. 69]..
Ich hab leider keine Beine darauf und sehe aus eher aus wie ein
Tafelaufsatz, aber | die Pfeife ist dafür umso besser, ebenso der Nasenklemmer und
mein stattlicher neugeborener Vollbart, der nun endlich doch auch einmal
anfängt von der Cultur beleckt zu werden. –– Die Idee stammt von Tante Jahn und
die Ausführung ist
soweit ganz gut gelungen, indem jeder der drei Betheiligten sich selber für den
am besten Getroffenen hält.
Am heiligen Abend waren wir bei Walter
OschwaldWalter Oschwald, Jurastudent und späterer Schwager Wedekinds aus Lenzburg, wohnte in München in der Theresienstraße 38, 2. Stock rechts [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 63]. zu Thee und Christbaum gebeten. Er hatte alle möglichen eß- und trinkbaren
Herrlichkeiten von zu Hause bekommen und regalirteversorgte. uns zum Schlusse noch mit
einem delikaten Punsch. Um Mitternacht gingen wir vereint in die LudwigskircheDie 1844 geweihte katholische Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in der Ludwigstraße, rund 700 Meter von Wedekinds Wohnung (Türkenstraße 30) entfernt. zur
Messe, wo dann allmählig einer den andern verlor, so daß endlich ein jeder | in
Nacht und Einsamkeit nach Hause schlich. –– Unseren besten Dank für die zwanzig
Markvermutlich ein Weihnachtsgeschenk der Mutter; das Schreiben zu der Sendung ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 23.12.1884.. Sie kamen wirklich sehr gelegen; denn wenn wir auch jetzt längst aller
Noth enthoben sind, so waren wir doch damals gerade dort angekommen, wo es sich kaum mehr di der Mühe
lohnt, am anderen Morgen aufzustehen. Da erschien glücklicher weise jener Deus ex machina oder vielmehr ex Lenzburg und bewerkstelligte den Übergang
des einen Quartals ins andere ohne die geringste Pumperei. Da nun unsere Finanzen
wieder besserdurch die Zuwendungen des Vaters; vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 28.12.1884. bestellt sind, werden werd wir in nächster Zeit auch ein großes
Bacchanal auf unserer Bude geben veranstalten, wobei es hoch hergehen
soll. ––
Das beste Weihnachtsgeschenk war aber
doch die Geschichte mit d dem Rector KellerJakob Keller war von 1876 bis 1886 Rektor des Töchterinstituts und Lehrerinnenseminars in Aarau, das Erika Wedekind seit April besuchte, zugleich dort Lehrer für Deutsch, Pädagogik und Religion [vgl. Adreß-Buch der Stadt Aarau 1884, S. 78]. und dem | Schluffinicht identifiziert.. Das freute
uns beide unbändig und Walter O. ebenfalls, dem es Armin vorlas. Ich gratulire von ganzem Herzen zu
dem herrlichen Siege der Wahrheit und Deiner trefflichen Energie über die
miserable Niedertracht dieses Jesuiten. Und nun leb wohl liebe Mama. Ich muß mich leider wieder mit schreiben
beeilen, sonst kommen die Briefeneben dem Neujahrsbrief an die Mutter weitere Briefe zu diesem Anlass, darunter einer an Bertha Jahn [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 31.12.1884] und der dort erwähnte Brief Armin Wedekinds nach Hause sowie der Walter Oschwalds an seine Mutter. zu spät. Walter und Armin sind auf dem Eis und
wenn er/sie/ heimkommen so soll alles expedirtverschickt. sein. – Ich bleibe mit
tausend herzlichen Grüßen Dein treuer Sohn Franklin.
Prost Neujahr!