München,
12. November 1884.
Liebe
Mama,
Bitte, verzeih mir meine unartige
Kartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 6.11.1884., die ich eben nur darum schrieb, weil Armin die Adresse vergessenZu der nicht überlieferten Karte von Armin Wedekind nach Lenzburg vgl. Erika Wedekind an Armin und Frank Wedekind, 9.11.1884; die Karte dürfte spätestens am 3.11.1884 verschickt worden sein. hatte.
Sonst würd’ ich wol gewartet haben, bis ich ruhig gewesen wäre, und einen
vernünftigen Brief hätte nach Hause schreiben können. Damals aber stand ich
noch unter dem lebhaften Eindruck des v/V/orgefallenen und sch jetzt will es mir
scheinen, daß es b eigentlich doch besser ist, daß der Eindruck lebhaft
war, als wenn ich den herben Bissen so ohne Mundverziehen hätte
hinunterschlucken können. Es sind das Dinge, über die man nicht laut schimpfen
und fluchen kann, die | man in sich sein Inneres verschließt, dort hegt
und pflegt und mit denen man vergebens ab/sich/ abzufinden sucht, wenn e/E/inem
acht Tage lang solch’ süße Worte ohn Unterlaß in den Ohren klingen. Mein guter
Engel hat mich davor bewahrt, daß ich meinen anfänglichen Vorsatz nicht ausführte, und nicht sofort
nach unserer AnkunftDer Vorlesungsbeginn in München war im Wintersemester 1884/85 am 3.11.1884 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85, S. 2], so dass die beiden Brüder kurz zuvor in München angekommen sein dürften, vermutlich am 29. oder 30.10.1884 [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 6.11.1884]. von hier einen Brief an PapaFrank Wedekind schrieb – auch im Namen seines Bruders Armin – erst im Februar 1885 das nächste Mal an seinen Vater und kam noch einmal auf die Ereignisse bei der Abreise zu sprechen [vgl. Frank und Armin Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 19.2.1885]. schrieb, um mich bei ihm
speciell für den kräftigen väterlichen Abschiedssegen zu bedanken. –– Jetzt bin
ich ruhiger, objectiver geworden. Schmerz und Erstaunen, Gift und Galle sind
mühsam verkaut und verdaut, und wenn auch die Umstände damals zu bedeutend, die
Ausdrücke selber zu gewählt und beseelt waren, als daß ich die drückende
Erinnerung in mir/daran/ jemals in mir werde tilgen können, so will ich
die Sache doch zu verstehen, zu begreifen suchen. Aber | was mich dieses
Verständniß, diese Begriffe kosten, wieviel u/U/nersetzliches ich
dadurch auf immer verlieren muß, das kann ich allein ermessen und fühlen. ––
Verzeih mir noch einmal, daß ich jetzt
wieder auf diesen Vorfall zu sprechen kam; aber ich konnte unmöglich ein solches Viaticum(lat.) Reisegeld. so
blank und baar auf den gefahrvollen Weg ins Leben mitnehmen. Es ist dies das
erste Mal, daß ich mit einer Menschenseele darüber rede und es geschah doch
gewiß in maßvoller Weise im v/V/erhältniß zu dem, was man einen V. fl.wohl Abkürzung für Vaterfluch. nennt. Indem ich
Dir mein Herz ausschüttete, glaubt’e ich
dem entsetzlichen OmenVorzeichen eines künftigen Ereignisses; bezieht sich vermutlich auf Äußerungen des Vaters, der offenbar besorgniserregende Anzeichen zu erkennen glaubte. die Spitze abbrechen zu können. Ist das Aberglauben? – Ich weiß nicht, ob du mir
nachempfinden kannst.
Armin hat sehr wenig Zeit und
beauftragte mich deshalb, Miezels lieben Briefvgl. Erika (Mieze) Wedekind an Frank und Armin Wedekind, 9.11.1884. zu beantworten. Er sitzt den
ganzen Tag Morgen und Nachmittag im Colleg und | muß außerdem einen ziemlich
weiten WegDie Entfernung von der Wohnung der Brüder (Türkenstraße 30, 1. Stock) [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78] in der Maxvorstadt bis zum Universitätsspital, dem Klinikum links der Isar (Krankenhausstraße 1), betrug drei Kilometer. von unserer Wohnung nach dem Spital machen. Aber die große
Freundlichkeit unserer Wirthindie Frau des herzöglichen Lakaien Leonhard Bühringer (Türkenstraße 30, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch von München 1885, Teil I, S. 69; Teil II, S. 501]. (ihr Mann ist herzoglicher Lakai und
meistentheils unsichtbar) macht diesen Nachtheil des Logis wieder vollständig
gut. Auch ich habe 5 ganze Morgen und 4 Nachmittage CollegWedekind „hatte drei Vorlesungen belegt: Deutsche Rechtsgeschichte bei v. Sicherer, Institutionen bei Hellmann und römische Rechtsgeschichte bei Löwenfeld“ [Kutscher 1, S. 114]. Gemäß dem Vorlesungsverzeichnis besuchte er demnach „Deutsche Rechtsgeschichte, wöchentlich fünfmal von 10–11 Uhr [...] Institutionen des römischen Privatrechts, fünfmal wöchentlich (excl. Samstag) von 8–9 Uhr [...] römische Rechtsgeschichte, viermal wöchentlich, Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von 2–3 Uhr“ [Verzeichnis der Vorlesungen an der königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85. München 1884, S. 4f.].; außerdem schind’e ich
noch einige interessante Cursenicht ermittelt; Wedekind besuchte neben seinen juristischen Veranstaltungen auch kulturhistorische, literatur- und kunstgeschichtliche Vorlesungen., so daß meine Zeit so ziemlich ausgefüllt ist.
Die Jurisprudenz gefällt mir einstweilen nicht übel, obs und wenn ich
auch gerade keine stürmische Begeisterung zu diesem Studium empfinden kann, so
glaub’ ich, daß die stille Sympathie und der Mangel an Antipathie dafür desto
länger anhalten. Zu
Mittag essen wir in einem Restaurant, in dem sich außer uns Walter Oschwald und
einige andere Studenten zu einem gemüthlichen Cirkel zusammengefunden haben.
Das Abendessen nehmen wir auf seit geraumer Zeit auf der Bude ein | und
zwar abwechselnd bei uns und bei Walter Oschwald, wozu jeder das s/S/einige
mitbringt und Thee gekocht wird, eine Einrichtung, die zwischen der Kneipe und
dem stillen Familienleben
eine angenehme Mitte hält, und den besonderen Vortheil besitzt, daß sie von der
Abgeschiedenheit eines Anachoreten(griech.) eines zurückgezogen Lebenden; eines Einsiedlers. gleich weit entfernt liegt wie von dem
wilden Treiben der Bierstube. Zum Dessert wird ein Stück aus Göthes Wilhelm
Meister vorgelesen und Tabak dazu geraucht, ein Laster, dem sich Walter
Oschwald bekanntlich schon längst ergeben hat, und dem Armin nun auch beginnt
anheim zu fallen, indem er sich eine wunderschöne Pfeife kaufen will, anstatt
dieselbe, wie er ursprünglich vorhatte, mir zum Weihnachten zu verehren.
München ist eine imposante Stadt, die
viel Interessantes, viel s/S/ehenswürdiges bietet; aber wir genießen
langsam | und mit Bedacht. Denn die eingehende Gründlichkeit ist es, die dem/n/
tiefen unauslöschlichen Eindruck der Seelen zurückläßt nicht die Wucht
der sich hastig an unseren Augen vorbeidrängenden Massen. Außer den
öffentlichen Denkmählern, den Kirchen, Palästen, Säulen, Obelisken und Statuen den unzähligen Statuen
großer Männer, die hier in München ungefähr das Nämliche sind, was im Canton
Aargau die Wegweiser, hab’ ich mir noch nichts genauer betrachtet als die
Schacksche GallerieDie Gemäldesammlung des Grafen Adolf Friedrich von Schack befand sich in seinem Palais an der Brienner Straße 19 und war seit 1865 öffentlich zugänglich [vgl. https://www.pinakothek.de/de/sammlung-schack]. und die Gemähldesammlung im MaximilianeumDie von Maximilian II. 1852 initiierte Gemäldesammlung zeigte im Maximilianeum bei freiem Eintritt 30 große Ölbilder, „wichtige Ereignisse der Weltgeschichte darstellend und in hohem Grade sehenswert, [sie] befindet sich in 3 Sälen des Mittelbaus, zu welchen man durch ein schönes Treppenhaus gelangt.“ [Kellers München und seine Ausflüge sowie Führer durch die Königsschlösser. 7. Aufl. München 1896, S. 74] Zu den von Wedekind genannten Gemälden hieß es: „Mittel-Saal: *1. Sündenfall von A. Cabanel (eines der bedeutendsten Bilder der modernen Malerei). [...] Südlicher Saal: *3. Erbauung der Pyramiden von G. Richter. [...] *5. Seeschlacht bei Salamis von Wilhelm Kaulbach.“ [Ebd.]. Ersterer
that ich ja schon in ein/dem/ Briefe an Tante Jahnvgl. Wedekind an Bertha Jahn, 6.11.1884. Erwähnung, aber sich
an den unbeschreiblichen Schönheiten im Maximilianeum zu versündigen, darf ich
meiner Feder kaum zumuthen. Da sind alles große Meisterwerke der größten
Meister in deren manchem/s/ man sich der Blick auf eine Art
versenkt, daß man gern auf alles | anderen
verzichten möchte. No 1. – Den Maler hab’ ich vergessen: Adam
und Eva nach dem SündenfallDas Originalgemälde „Le paradis perdu“ (1867) von Alexandre Cabanel wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, erhalten haben sich kleinformatigere Kopien und Varianten sowie Skizzen. in Lebensgröße. Der Satan schlägt sich seitwärts in
die Büsche. Adam, ein schöner dunkler Jüngling von strammem Körperbau kauert
unter dem Baum der Erkenntniß. Auf seinem düstern Antlitz spielen in wilder Verwirrung alle Züge, die
ein böses Gewissen und eine fluchbeladene Seele charakterisiren können. Aber in
weicherem, tieferem Schmerze weint zu seinen Füßen sein bezauberndes Weib, und
die Entrüstung des Beschauers wendet sich ab von dem unglücklichen, schuldlosen
Sünderpaare auf den, der von drei Engeln getragen aus hohen Lüften herabfährt,
untilgbaren, stillen
Zorn im erhabenen Angesicht,
und dessen gezücktes Flammenschwert wie ein Blitzstrahl durch die schwarzen
Wolken des Horizontes herabfährt bricht. Das Ganze machte auf mich einen
gewaltigen Eindruck, und deshalb erfuhr ich später mit großer Genugthuung, daß
das Bild vorzüg|lich gemalt sei, wohl das Beste der ganzen Gallerie. Die
Figuren sind plastisch, die Effekte allmählig gesteigert und die ganze
Stimmung einheitlich. Es stammt von einem französischen Meister. –– Kaum mit
einem Blick zu übersehen aber von blendender Wirkung ist das kolossale Bild:
Die Seeschlacht bei SalamisDas Monumentalgemälde „Die Schlacht bei Salamis“ (um 1858) von Wilhelm von Kaulbach hängt im Senatssaal des Maximilianeums. Von dem Gemälde gibt es mehreren Fassungen in unterschiedlichen Formaten unter anderem in der Neuen Pinakothek in München und in der Staatsgalerie Stuttgart. von Kaulbach. Die Composition ist nicht ein heitlich, sondern theilt
sich in 4 verschiedene Gruppen und macht auch dadurch das Überblicken schwer.
Auch die Farben sollen nicht besonders sein, aber darüber wag’ ich nicht zu
urtheilen. Die Zeichnung der einzelnen lebensgroßen Figuren ist jedenfalls
wundervoll, sonst könnte das Bild wol schwerlich solch’ reinen, gewaltigen Effect
hervorbringen. Kaulbach soll sie alle ohne Modelle, ganz aus eigener Phantasie
auf die Leinewand geworfen haben. –– Am besten aber gefiel mir, von wem, weiß
ich nicht, der Pyramidenbaudas Gemälde „Erbauung der Pyramiden“ (1872) von Gustav Richter, im Zweiten Weltkrieg zerstört., ein hohes Gemälde von ächt orientali|scher
lebhafter Farbenpracht. Im Hintergrund erhebt sich die Pyramide unter der
mannigfaltigen Arbeit unzähliger Menschen im grellsten Sonnenlicht. Im
Mittelgrund steht unter schattigem Baldachin eine ägyptische Königstochter von
junonischer Gestaltvon erhabener Schönheit (wie die römische Göttin Juno). und majestätisch schönen Zügen. Im Vordergrund liegt im s/t/iefsten
Schatten der Eingang zum unterirdischen Gewölbe, nur er/d/ürftig
erleuchtet durch eine düstere Pechfackel. Dies Bild mit seinem vollen Leben hat
mir am besten gefallen. ––
Heute morgen hat es hier zum ersten
Male gefroren, und der herrliche Schlafrock thut mir jetzt schon die besten
Dienste. Aber jetzt kann ich nicht mehr weiter schreiben, denn der Malernicht identifiziert., der
im Nebenzimmer wohnt, singt eben seinen Abendsegen, eine Arie aus dem
Bettelstudent„Der Bettelstudent“ (1882), Operette von Carl Millöcker. oder so was. Nächsten Sonntag werden wir ihm unsere Aufwartung
machen. Sei also herzlich gegrüßt und geküßt von | Deinen beiden treuen Söhnen,
die auch alle ü/Ü/brigen tausendmal grüßen lassen. Mieze soll nur weiter
fortfahren uns so freundlich zu schreiben. Nur mag sie das nächste m/M/al
in dem Worte a propos nicht wieder zwei Buchstaben
auslassenErika Wedekind hatte „Apopo“ [Erika Wedekind an Armin und Frank Wedekind, 9.11.1884] geschrieben. .
Dein
Franklin.