Lausanne 6.VIII.1884.
Lieber
Papa,
Verzeih,
daß ich dir erst so spät auf Deinen lieben Briefvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884. antworte. Meinen wärmsten Dank
für deinen herzlichen Glückwunsch und dein schönes GeschenkFrank Wedekind hatte zu seinem 20. Geburtstag am 24.7.1884 von seinem Vater 10 francs als Geschenk und 5 francs zum Feiern erhalten [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884].. Ich hab’ es auch
auf möglichst beste Weise angewendet. Schon seit bald 14 Tagen sind wir jetzt
ganz allein zu Hause. Mr. Gros, Willy und ich, denn die KinderEmilie und Hortense Gros, bei denen Frank und William Wedekind in Lausanne wohnten (Villa Mon Caprice, Chemin de Montchoisy), hatten vier Kinder.
bringen die Ferien mit der Bonne(frz.) Kindermädchen. in Corvontder Ort mit diesem Namen ist nicht belegt, Wedekind notierte die französischen Ortsnamen überwiegend nach Gehör; seiner Mutter schrieb er, das Kindermädchen verbringe die Ferien bei seinen Eltern in den Bergen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 26.7.1884], daher ist vermutlich die Ortschaft Cuarnens am Fuß des Jura gemeint, 25 Kilometer nordwestlich von Lausanne. zu und Madame ist zu einer |
Freundin nach Bièreschweizerische Ortschaft am Fuß des Jura, 30 Kilometer westlich von Lausanne. verreist. Auch die alte Tantenicht identifiziert; Wedekind hatte sie bereits früher schon getroffen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. hält sich gegenwärtig dort
auf. In der Stadt Lausanne ist bei der drückenden Hitze alles todt und stille
und oft vergingen Tage, ohne daß ich hinaufgestiegenDie Villa Mon Caprice (Chemin de Montchoisy), in der Frank und William Wedekind Zimmer gemietet hatten, lag unterhalb des Stadtzentrums von Lausanne in Richtung des Hafenvororts Ouchy. bin. Um so häufiger aber
nahm mich Monsieur auf seine LandpraxisWedekinds Vermieter Emile Gros war Tierarzt. mit. und gerade mein Geburtstag gehörte
in dieser Hinsicht zu den bewegtesten Tagen. Am Abend vorher hatten wir im
Keller dem Philisterstudentensprachlich für Vermieter. geholfen, Wein abzuziehen, als plötzlich die Nachricht
kam, er möge am andern Morgen um halb sechs Uhr bei einem kranken Pferde sein. RosaHausangestellte bei Familie Gros; nicht näher identifiziert. weckte uns schon
um halb 5 Uhr und dann stiegen wir hinauf zusammen, da ich ihn am Abend gefragt
hatte, ob er mich | brauchen könne. Das Pferd war bald geheilt und nach dem
frischen Morgenspaziergang schmeckte das Frühstück excellent. Um Vor Mittag war ich wieder in der Stadt um einen Zeichnungsbogen
zu kaufen. Da att
findet mich Monsieur vor einem Putzladen stehen und fragt, ob wir
zusammen nach Hause gehen wollten, er müsse nur noch eben nach einem Pferde
sehen. Ich schlug vergnügt ein und folgte ihm. Der Besuch dauerte aber über
Erwarten lange und da es schon recht spät war fuhren wir per Kutsche nach Hause. Nach dem
Essen begleitete ich ihn wieder, da ich keine Zeit zu verlieren hatte, zu einer
kranken Kuh und half ein Kalb auf die Welt bringen. Es war übermäßig groß und
starb schon nach wenigen Minuten. Erst | als wir von dieser Operation
zurückgekehrt waren, sagte mir ein poetischer Glückwunsch in Knittelversen auf
einer Cartevgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 23.7.1884. von Minna, daß ja heute mein Geburtstag sei. Doch hatt’ ich nicht
lange Zeit darüber nachzudenken, denn Monsieur hatte mich eingeladen, mit ihm zum Begräbniß eines Freundesnicht identifiziert.
nach LütryLutry, Ortschaft 5 Kilometer östlich von Lausanne. zu fahren. Der Fiaker fuhr vor und fort gings in pleine Carriereen pleine carrière (frz.) in gestrecktem Galopp (wörtlich: in vollem Lauf).
denn schon um 5 Uhr sollte die Feierlichkeit stattfinden. Unterwegs stieg noch
ein Schmied von Py/u/llyin der Mitte zwischen Lausanne und Lutry gelegen Ortschaft. ein, ein urgemüthliches Hausim Sinne von: ein braver Kerl; „der menschliche leib, als wohnung der seele, wird einem hause verglichen [...] so wird auch in traulicher rede der mensch nach seiner äuszern erscheinung in solchen vergleich gesetzt: wie geht dirs, altes haus?; du bist ein braves haus!“ [DWB 10, Sp. 644f.], der den/as/
gleichen Ziel hatte und erst spät AbensSchreibversehen, statt: abends. kamen wir zu Hause an. –– Am
anderen Tage erhielt ich Deine freundliche Sendungdie Geldsendung und die Glückwünsche zum Geburtstag [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884]. und den schönen Kuchen von
Mammadas Begleitschrieben zur Sendung der Mutter ist nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884., mit dem wir uns auf unserer Bude güt|lich thaten. Einige Tage darauf
waren wir in EvianÉvian-les-Bains, französische Ortschaft auf der Lausanne gegenüberliegenden Seite des Genfer Sees, der für seine Mineralwasserquellen bekannt ist.. Wenn die schöne Natur hier im Wadtlandder Schweizer Kanton Waadt, mit Lausanne als seinem Verwaltungszentrum. schon ein wonniger,
niegetrübter Himmel ist, so kommen mir die savoyschen Seegestadedas Südufer des Genfer Sees, das zur französischen Region Savoyen gehört. vor wie das
herrlichste Paradies. Dabei sind die Bewohner träge, gemüthlich und bequem, und
in Folge dessen alles etwas wild, verfallen und unordentlich. Ausgewitterte
Ruinen von Brücken, Häusern und Schlössern verleihen der ganzen Gegend eine
düstere Romantik. Aber wie das dichte Grün, das in üppiger Fülle überall an den
geborstenen Mauern hinunterfließt, die zackigen Formen rundet und das häßliche
Grau mit dunkelm Laube verschleiert, so reichen auch die kahlen unwirthlichen
Höhen der nahen Savoyeralpensüdlich der Genfer Sees gelegener Teil der Westalpen mit dem Mont Blanc (4810 m) als höchstem Berg. nicht erschreckend
hinunter in das | lachende Seegestade. Hohe, kühle Waldungen, lauter kräftige
Eichen, ziehen sich vom Thal aus aufwärts und umkränzen die weiten Bergeshalden.
Dazwischen liegen duftige Wiesengründe, belebt und beweidet von den munteren
kleinen Savoyerpferden, von Ochsen und Kühen, Schafen Ziegen Eseln, von
Maulthieren und Mauleseln. Und mitten darunter steht der schmutzige Savoyarde,
die zi strumpflosen Füße in zierlichen Atlasschuhenmit Satin bezogene Schuhe., und sein Auge ruht
gedankenlos auf der Pracht und Herrlichkeit rings um ihn her während sein Ohr an den Klängen
der HandharmonikaAkkordeon. lauscht, die der im
Abendwind vom Dorfe aus zu ihm hinaufklingen. –– Wir fuhren nach Abondancefranzösischer Bergort in Savoyen, 30 Kilometer südlich von Évian. wo
einst RousseauMit Madame de Warens lebte Jean-Jacques Rousseau in Annecy und Chambéry zusammen, vermutlich eine Verwechslung Wedekinds (ebenso unten). mit Mdm. d. Warens gelebt und geliebt | hat. Es liegt tief in den Bergen drin
in einem lieblichen Waldthal und überall waren wir freundlich aufgenommen und
gastlich bewirthet, denn der Ruf seines Namens und seiner Geschicklichkeit
übertönt das Rauschen und Brausen des weiten See’s und dringt bis weit/tief/
ins Land hinein auf französischer Seite. – In Saint Prex Ortschaft am Ufer der Genfer Sees, 15 Kilometer westlich von Lausanne.ist ein prachtvolles
Gut am See mit herrlichen Stallungen, acht Luxuspferden, mit Reitbahn, und
eigenem Dampfschiff. Hier residirt ein sehr freundlicher Herr, Mr. Bürki,
dessen eines Wagenpferd wir schon zwei Mal besuchten. Er zeigte uns dabei sein ganzes Besitzthum und seine
Frau Gemahlin seh servirte indessen einen kühlen Labetrunk. –– So haben
wir noch manche schöne Thur Tour gemacht, denn ich dachte, so bald wirst
du wol nicht wieder den Fuß in dieses Paradies setzen können | und da die
schönen Tage jetzt so rasch zu Ende gehen, so suchte ich sie anzuwenden, so gut
es möglich war. Auch nach TononThonon-les-bains, französischer Kurort am Südufer des Genfer Sees, gegenüber von Saint-Prex. Hier traf sich 1764 Jean-Jacques Rousseau mit seinen Freunden [vgl. Ferdinand Brockerkoff: Jean Jacques Rousseau: Sein Leben und seine Werke. Bd. 3, S. 253]. fuhren wir einmal herüber und erlebten dabei
einen imposanten Sturm. Dort wohnte ja Rousseau lange zusammen mit Mdm. de
Warens, und einige große Hotels abgerechnet, s/m/ag sich die ganze
Gegend seit jener Zeit nicht sehr verändert haben. –– Unsere Abreise von hier
ist auf den 16.tatsächlich brachen William und Frank Wedekind bereits am 15.8.1884 von Lausanne auf [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 16.8.1884]. festgesetzt. Wir können auch darum kaum einen Tag länger hier
bleiben, weil Willy später vie keinen Urlaub mehr erhielte da Mr. RuffieuxWilliam Wedekinds Lehrherr in Lausanne.
in Kriegsdienstdie verpflichtenden regelmäßigen Kurse für schweizerische Reservisten. muß. Ich habe demnach Mdm Gros durch ihren Herrn Gemahl
kündigen lassen. Nächsten Sonntagam 10.8.1884. kommt sie wieder zurück mit sammt den
Kindern. Ich werde also ihre angenehme Gesellschaft, ihre freundliche Unter|haltung
und ihren hinreißenden Gesang noch volle 8 Tage lange genießen können. ––
Nächsten Sonnabendam 9.8.1884. kommt also HammiArmin Wedekind resite von seinem Studienort Göttingen aus offenbar gemeinsam mit seinem Onkel Erich Wedekind und dessen 22-jähriger Tochter Helene aus Hannover nach Lenzburg. mit Onkel Erich und Cousine Lenchen bei
euch an. O, wie freue ich mich, ihn wiederzusehen! Und dann erst noch Helene! Ich kenne sie ja zwar noch gar
nicht weiter, als durch Hammis BriefeKorrespondenz zwischen Armin und Frank Wedekind vor dem Jahr 1885 ist nicht überliefert., aber desto größer wird die Überraschung,
desto herzinniger die Freude sein. –– Von Minna habe ich auf einen langen Briefvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 24.7.1884.
immer noch keine Antwort erhalten und muß fürchten, ihr darin nicht gefallen zu
haben. Vermuthlich
stimmte ich die Saiten meiner Laute um eine Oktave zu hoch, als ich eine
feurige Apotheose der Freundschaft zwischen Minna und Blanch Z.Blanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard, seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. intonirte. –– Doda
gratulire ich zu seinem Avancement(frz.) Beförderung. „Wahrscheinlich handelt es sich um eine Beförderung des Bruders Donald im Lenzburger Kadettenkorps. Aufsteigen konnte man vom einfachen Soldaten zum Wachtmeister und dann zum Leutnant. Donald nahm 1885 am Kadettenfest in Baden teil“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 51]. und wünsche seiner militärischen Laufbahn
mehr GlückFrank Wedekind war nach einer Reihe von Anschuldigungen „auf Gesuch der Lehrerschaft der Lenzburger Bezirksschule als Hauptmann des Lenzburger Kadettenkorps am 19.6.1878 zum einfachen Soldaten degradiert worden, vgl. Sitzungsprotokolle der Lenzburger Kadettenkommission, Stadtarchiv Lenzburg, Wedekind-Archiv, III LC1“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 51f.]. Daraufhin verfasste er das Spottgedicht „Hauptmann’s Leiden“ [KSA I/1, S. 33f. und I/2, S. 1648f.]. | und Segen, als ich seiner Zeit genossen habe. Was Du mir über die
Besserung in Tante Jahns gefährlichem Zustand schreibstvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 24.7.1884., hat mich sehr
beruhigt. Noch bei weitem mehr aber freute es mich, daß auch ihr, zu Haus, alle
gesund und wohl seid, daß es euch gut ergeht und daß ihr die lachende
Sommerszeit genießet. Und von ganzem Herzen wünsche ich, daß es füer/r/derhin
so bleiben möge, und stets eine gütige Sonne ihre milden Strahlen auf euch
herniedersende, wenn auch düstere Wetterwolken den klarblauen Himmel längst
umschleiert haben, wenn tiefer Schnee das weite Land umher bedeckt und die
rauhen Winterstürme
heulen und toben um die alten Mauern und Thürme der/von/ von Lenzburg. –– Mit herzlichen Grüßen Dein treuer Sohn
Franklin.