Lausanne 11. Jul/n/i 84.
Lieber Papa,
Bald nach Deiner Abreiseam 18.5.1884 [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an William Wedekind, 20.5.1884; Mü FW B 312]. von hier inserirte Willy die AnonceSchreibversehen, statt: Annonce.
in Betreff eines Französischlehrers. Es liefen denn auch in den nächsten Tagen
von den verschiedensten Seiten Offerten ein, zum größten Theil von Studenten
und Damen. Leider ließ sich niemand vernehmen, der mehreren Schülern zu
gleicher Stunde Unterricht gegeben hätte und demnach variirte der Preis
zwischen 2 fr. 50 ctm.
| und 4 frs. für uns beide per Stunde. Wir suchten
mehrere Erkundigungen einzuziehen und entschlossen uns endlich zu einem Mr. Beaumont, der, ein Pariser von Geburt, hier, in
Lausanne, deutsche, französische, italienische und spanische Privatstunden
ertheilt. Er nimmt 3 frs. für die Stunde, ist ein
Mann von bedeutender Bildung, und weiß den Unterricht sehr praktisch
einzurichten. Zu Hause machen wir Übersetzungen und zwar jeder ein besonderes
Thema; in der Stunde dictirt er uns Französisch der Orthographie halber und
wird auch dies oder jenes französisch gelesen. Seit 14 Tagen haben wir 2 Mal
die Woche seinen Unter|richt besucht, Dienstag und Freitag von 10 – 11. Die
Bezahlung geschieht monatlich. Doch d ist es jedenfalls auch so
einzurichten, daß wir jeweilen am 15. bezahlen. Da wir einstweilen erst 4
Stunden gehabt haben, so hat also die Bezahlung noch Zeit.
Daneben hab’ ich mir nun allerdings noch eine Ausgabe
erlaubt. Da nämlich mein schwarzer Hut äußerst schabichwohl für: schäbig. geworden war, und ich
in meiner Tuchmütze unmöglich einen Besuch machen konnte, so kauft’ ich mir
einen neuen Filzhut. Ich wählte die Form, wie sie hier allgemein von jungen
Leuten getragen wird und wie sie auch meine Mitschüler in Aarau bei feierlichen
Gelegenheiten trugen. Es ist ein runder steifer Hut, | der mir sehr gut steht
und meinen schwarzen Anzug completirt. Willy halt/f/ mir ihn aussuchen,
und wir nahmen ihn so
billig wie möglich; denn dachte ich, da ich ihn nur äußerst selten trage, so
kann er trotzdem lange zeitSchreibversehen, statt: lange Zeit. halten und gut aus sehn. Der Preis beträgt 8 frs. wozu mir Willy
die Hälfte geliehen hat. Ich wäre Dir nun sehr dankbar, wenn Du uns zum
Monatsgeld diesen Betrag beilegen würdest.
Vor vierzehn
Tagengenau gerechnet wäre das der 28.5.1884. waren wir bei Mdm
DüplanLouise Duplan (geb. Gaudard) führte seit dem Tod ihres Mannes Paul Duplan 1870 ein Mädchenpensionat in Lausanne in der Villa „La Verger“ (Rue de Valentin 65), das 1887 auch Erika Wedekind besuchte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 30]. , und wurden äußerst freundlich von ihr empfangen.
Sie ist eine große, imposante Erscheinung von vielem Anstand und gewinnender
Herzlichkeit. Nachdem wir uns im Salon niedergelassen hatten, ersi/c/hienen
| auch die jungen Damen: Frl. Düplannicht näher identifiziert; wohl eine Tochter von Louise Duplan., Frida
Zschokkedie Schwester von Wedekinds Aarauer Schulfreund Ernst Heinrich Zschokke, die bis Januar 1884 das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau besucht hatte [vgl. Elfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1883/84, S. 5] und nun das Mädchenpensionat bei Madam Duplan (geborene Gaudard) in Lausanne., Lina WaltyLina Walty aus Gravellona in Italien zog 1878 als Kind mit Eltern und Bruder, dem späteren Kunstmaler Hans E. Walty, nach Lenzburg. William Wedekind war mit Hans Walty, mit dem er die Bezirksschule Lenzburg besucht hatte, befreundet und mindestens seit Januar 1881 mit Lina Walty ein Paar [vgl. Lina Walty an William Wedekind, Gravellona, 23.1.1881, in: Mü, L 3476, Nr. 18, Abschrift Frank Wedekind; Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21.-28.11.1883, in: Familienarchiv Wedekind, Leichlingen, FW L 49, EFFW (Kopie)]. und Frl. Amslernicht näher identifiziert; möglicherweise „Anna Amsler aus der nah zu Lenzburg gelegenen Gemeinde Schinznach, Tochter des dortigen Gemeindeschreibers Wilhelm Amsler, 1884 verehelicht mit Otto Tschamper“ [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 35].. Trotz meinem
schlechten Französisch unterhielten wir uns sehr gut, so daß im Augenblick eine
Viertelstunde vorüber war. Beim Abschiednehmen meinte Mdm. Düplan, wir sollten nur öfter zu ihr kommen,
wenn wir freie Zeit hätten, und um einen positiveren Anfang zu machen lud sie
uns gleich auf den folgenden Sonntagder 1.6.1884. Nachmittag zu schwarzem Cafe und
Croquetspiel„ein aus England herübergekommenes, jetzt in Deutschland sehr beliebtes Gesellschaftsspiel, das auf einem kurz gemähten Rasenplatz oder auf einem andern ebenen Platz gespielt wird. Man treibt in der Mitte eines solchen Platzes 8–10 eiserne Bogen so in die Erde, daß sei ein Kreuz, ein Achteck oder auch eine andre Figur bilden [...] die Aufgabe ist nun, die hölzernen Spielbälle mittels der ebenfalls hölzernen Hämmer [...] an langem Stiel durch sämtliche Bogen zu treiben“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Band 3. Leipzig 1886, S. 347]. ein. So verlebten wir denn letzten Sonntagder 8.6.1884. einen sehr angenehmen
Nachmittag. Zuerst wurde im Salon Caffe getrunken, wozu sich noch ein deutsches
Fräulein aus Rostocknicht näher identifiziert. einfand, die ebenfalls dort in Pen|sion ist. Lina Walty
war leider schon einige Tage vorher abgereist und man erzählte uns viel von den
bei der Gelegenheit vergossenen Thränen. Nach dem Kaffe begannen Frl. Zschokke, Frl. Amsler und wir beiden
vor dem Hause Croquet zu spielen und bald f gesellte sich auch Frl. Düplan dazu. Das Wetter war allerdings nicht sehr günstig; die
Damen froren an die HändeSchreibversehen, statt: an den Händen. und nach einigen Partien fielen sogar Regentropfen.
Wir zogen uns demnach ins Haus zurück und wollten Abschied nehmen. Mdm. Düplan hatte aber bereits einige Flaschen Bier im Speisezimmer
plaß/c/irt, wo wir uns noch ein halbes Stündchen auf das
allergemüthlichste unterhielten. Indessen war es halb fünf Uhr | geworden und
wir brachen auf. Beim Abschied baten wir um die Erlaubniß die Damen ’mal auf
den See begleiten zu dürfen, worauf Frl. Düplan
versprach, uns eine Karte schicken zu wollen, wenn es ihnen convenirtezusagte, passte.. So
stiegen wir denn wieder zu unserer Philistereihier studentensprachlich für die angemietete Wohnung bei dem Tierarzt Emile Gros und seiner Frau Hortense in der Villa Mon Caprice. hinunter mit dem Bewußtsein
einen höchst angenehmen Nachmittag erlebt zu haben. —
In der
Zeichenstunde gefällt es mir sehr gut. Ich habe bereits einen Kopf, einen
Palemon„Palämon, im griech. Mythus der in eine Meergottheit verwandelte Melikertes [...], der als schützender Hafengott weit und breit im Mittelmeer verehrt wurde [...]. Dargestellt wurde er als schöner Knabe, der von einem Delphin oder auf den Armen seiner Mutter [...] zum Meeresherrscher Poseidon getragen wird, dem er lieblich entgegenlächelt.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 12. Leipzig 1888, S. 614], in Kohle vollendet und einen zweiten begonnen.
Ich
schließe mit den besten Grüßen an Euch alle zusammen, und mit besten
Dank an Mati für ihre schöne ZeichnungWedekinds achtjährige Schwester hatte ihm die Zeichnung eines Hauses geschickt [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 6.6.1884]. und | mit einem herzlichen Kuß für Dich,
lieber Papa.
Dein
treuer Sohn Franklin.