Lausanne
11.V 84.
Liebe Mamma
Meine besten Glückwünsche zu deinem GeburtstagEmilie Wedekinds 44. Geburtstag war am 8.5.1884 gewesen.. Sie kommen
leider um drei Tage zu spät, aber Glückwunsch ist Glückwunsch und wenn er von Herzen kommt
so wird er auch zu Herzen gehen, komme er dann wann er wolle. ––– | Freilich
wirst du am 8. Mai etwas enttäuscht gewesen sein, daß Du nichts von deinem
ferne weilendenAm 1.5.1884 hatte Frank Wedekind Lenzburg verlassen, um ein Semester moderne Sprachen und Literatur an der Académie de Lausanne zu studieren [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 2.5.1884]. filius (lat.) Sohn.zu hören bekamst; und deswegen bitte ich Dich vielmal um
Verzeihung; aber weil ich zu viel an dich dachteFrank Wedekind schrieb der Mutter an ihrem Geburtstag ein Gedicht [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 8.5.1884]. kam ich nicht zum Schreiben
und habe so den richtigen Augenblick verfehlt. –– Ich mache nicht gern viel
Worte über eine Sache die sich erstens von selbst versteht und sich zweitens
mit Worten doch nicht ganz erschöpfen ließe, und nehme | deshalb Umganghier für: Abstand. davon
meine Glückwünsche weiter zu auszuführen und näher zu kommentiren. ––– Wie
geht es e/E/uch denn in Lenzburg? – MiezeKosename von Frank Wedekinds jüngerer Schwester Erika. könnte mir
wol mal ein Briefchen schreiben in ihrem netten Stübchen. Sie hat dortErika Wedekind besuchte seit April 1884 das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau. Sie ist für das Schuljahr 1884/85 in der I. Klasse verzeichnet: „Frida Wedekind, San Francisco (Kalifornien)“ [Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 4]. ganz die
Umgebung dazu. Hat sie denn auch Lisa JahnWo Lisa Jahn, die älteste Tochter der Lenzburger Apothekerwitwe Bertha Jahn sich im Frühjahr 1884 aufhielt, ist nicht ermittelt, am 13.7.1884 kehrte sie nach Lenzburg zurück [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind 16.7.1884]; Mutter und Tochter waren mit Frank Wedekind befreundet [vgl. die Korrespondenzen]. schon geantwortet? Das interessirt
mich sehr, weil ich doch einen größeren Brief von ihr angekündigt habe. WillyFrank Wedekinds Bruder William, mit dem er in Lausanne bei dem Tierarzt Emile Gros wohnte [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 2.5.1884], machte in Lausanne eine Handelslehre bei dem Kaufmann Emile Ruffieux.
läßt dich vielmal grüßen und bittet dich, ihm doch etwas TheSchreibweise Wedekinds für: Tee (auch: Thee). zu | senden, damit
wir, wenn wir abends aus der Kirche kommen uns noch etwas bereiten können und
dazu ein Stündchen plaudern
oder Schach spielen. Gesternam 10.5.1884. a/A/bend waren wir beim herrlichsten
Mondschein auf dem See. Der Ostwind ging stark und trieb hohe Wellen, die unser
Boot wacker umhertrieben. Heute morgen vor dem Frühstück wanderte ich durch lauter blühende Gärten
voll schattiger Bäume wieder zum Strand hinunter, setzte | mich dort auf einen
einsamen Stein und weihte dem großen Geiste der herrlichen Natur rings um mich
her eine Friedenspfeife. Dicht neben mir am Ufer erhoben sich mit,
übdecktSchreibversehen, statt: überdeckt. von einer hohen Esch Traueresche, die Trümmer eines alten rundes/n/
Thurmes, den ich dir einmal in
effigie(lat.) als Bild. mit sammt der
schönen Seelandschaft senden werde, sobald ich Zeit gefunden ihn
abzukonterfeienabzumalen.. Mit dem Französischsprechen | will es noch nicht recht gehn,
doch hoffe ich von der Zeit das Beste, besonders da meine Philisterinstudentensprachlich für Vermieterin; dies war Hortense Gros (geb. Major), Ehefrau des Tierarztes Emile Gros. eine sehr
gesprächige Dame ist und zuweilen noch eine gesprächigere alte Tantenicht ermittelt. zu Besuch
kommt, die Willi/y/ und mich schon für den Sängerchor der Mission intérieurSchreibversehen, statt: Mission intérieure, (frz.) Innere Mission; „christliche, namentlich evangelische Vereinsthätigkeit, die neben der Linderung der äußern Not zugleich die Befestigung oder Wiedererweckung des christlichen und kirchlichen Sinnes in den gefährdeten oder bereits entfremdeten Gliedern der Gemeinde erstrebt.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl. Bd. 8. Leipzig 1887, S. 961] keilen wollte. Das religiöse
Treiben ist überhaupt sehr entwickelt hier in Lausanne. Hätte ich früher je
gedacht, das malSchreibversehen, statt: daß mal. eine Zeit kommen würde wo ich
nicht nur alle Sonntag, sogar alle | Abende in die Kirche wandere. Letzten
Mittwocham 7.5.1884. sahen wir auch Lina WaltyLina Walty aus Gravellona Italien zog 1878 als Kind mit Eltern und Bruder, dem späteren Kunstmaler Hans E. Walty, nach Lenzburg. William Wedekind war mit Hans Walty, mit dem er die Bezirksschule Lenzburg besucht hatte, befreundet und mindestens seit Januar 1881 mit Lina Walty ein Paar [vgl. Lina Walty an William Wedekind, Gravellona, 23.1.1881, in: Mü, L 3476, Nr. 18, Abschrift Frank Wedekind; Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21.-28.11.1883, in: Familienarchiv Wedekind, Leichlingen, FW L 49, EFFW (Kopie)]. und Frl Frida
ZschokkeFrieda Zschokke, die Schwester von Wedekinds Aarauer Schulfreund Ernst Heinrich Zschokke, die bis Januar 1884 das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau besucht hatte [vgl. Elfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1883/84, S. 5] und nun das Mädchenpensionat bei Madam Duplan (geborene Gaudard) in Lausanne. von Aarau in
einer solchen Versammlung, fanden aber leider keine Gelegenheit, mit ihnen zu
sprechen. Papa schickte mirHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur Sendung der Fotografien: Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 3.5.1884. die ProbephotographienIn Artur Kutschers Wedekind-Biographie sind zwei Porträts aus dieser Zeit abgedruckt [vgl. Kutscher 1, nach S. 144 und nach S. 160], Olga Plümacher beschreibt eine dritte Variante [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 30.6.1884]., die Gysidas Fotoatelier Friedrich Gysi in Aarau, das 1863 nach dem Tod des Firmengründers von seinen Söhnen Otto und Arnold Gysi übernommen worden war. nach Lenzburg
gesandSchreibversehen, statt: gesandt. hatte. Willy findet weder die eine noch die andere gut und ich habe gar kein Urtheil darin
und überlasse es also ganz dir, jene oder diese bei Gysi bestellen zu lassen. |
Die zerissenenSchreibversehen, statt: zerrissenen. Schuhe, die ich dir hier beiliegend sende,
finden vielleicht Gelegenheit, noch mit der WäscheDie Schmutzwäsche der beiden in Lausanne weilenden Brüder wurde auf Schloss Lenzburg gewaschen und gebügelt. Der Korb mit William Wedekinds Wäsche wurde am 2.5.1884 aus Lausanne abgesandt [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 2.5.1884] und am 8.5.1884 wieder zurückgeschickt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 8.5.1884]. Frank Wedekind hat seine Wäsche demnach kurz nach seinem Bruder separat verschickt. zurückzukommen. Ebenso
möchtest du Willy
seine Stehkragen nicht vergessen, die er mit großer Vorliebe trägt. Bitte,
schreib mir auch, wenn du etwas von Tante Plümacher weißt, der ich noch nicht
geantwortetdie ausstehende Antwort auf Olga Plümachers Glückwunsch zur Matura [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 19.4.1884]. habe. Mit f/v/ielen herzlichen Grüßen an Dich und alle
Anderen, auch an Minna e. ct. verbleibe ich Dein treuer Sohn
Franklin.