Kennung: 5249

Berlin, 16. Dezember 1906 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Liebe Mama!

Dir und Mati danke ich bestens für Euren freundlichen Glückwunschzur Geburt von Anna Pamela Wedekind am 12.12.1906. Mutter und Schwester hatten telegraphiert [vgl. Emile Wedekind und Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 12.12.1906].. Tilly befindet sich unberufen sehr wohl. Sie hat die EntbindungDie Presse berichtete irrtümlich: „Frank Wedekind als Vater. Wie wir vernehmen, ist der Dichter von ‚Erdgeist‘ und ‚Frühlings Erwachen‘ glücklicher Vater geworden. Nach einjähriger Ehe hat ihm seine Gattin, Frau Niemann-Newes einen strammen Weihnachtsjungen beschert. Hoffen wir, daß dieses neueste Wede-‚Kind‘ die Talente seines Vaters geerbt hat.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 635, 14.12.1906, Abend-Ausgabe, S. (3)] leicht überstanden. Die Hebamme und ein SpezialistDr. med. Georg Bresin, praktischer Arzt und Geburtshelfer. Wedekind notierte am 12.12.1906 im Tagebuch: „Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei, bald darauf kommt Dr. Bresin um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren, dann kommt Flatau.“ , die zugegen waren hatten nichts zu thun. Gleich darauf kam noch unser HausarztDr. med. Theodor Simon Flatau, Hals-, Ohren- und Nasenarzt, außerdem Dozent für Stimmphysiologie an der Berliner Hochschule für Musik. Seit einem Jahr war er Wedekinds Hausarzt (behandelt hat er Tilly), im Tagebuch erstmals namentlich genannt am 23.12.1905.. Um sechs Uhr Morgens hatte die Sache angefangen und um 8 Uhr war die Kleine geboren. Die Hebammenicht identifiziert; Wedekind notierte am 11.12.1906 im Tagebuch: „Um 9 Uhr Abend kommt die Hebamme. […] Ich bleibe zu Hause.“ besorgte darauf eine Schwesternicht identifiziert. Im Tagebuch notierte Wedekind am 12.12.1906: „Um Mittag tritt die Schwester an.“, die Tilly und das Kind seitdem pflegt. Besuche zu empfangen hat ihr der Arzt untersagt.

Tilly hat ihrer Tochter die Namen Anna Pamela gegeben. Das Stillen verursachte ihr gestern und vorgestern einige Schmerzen, die aber schon abzunehmen scheinen. Ich selber habe jeden Abend | zu spielenWedekind trat in dem relevanten Zeitraum am 11.12.1906 sowie am 13., 14., 15. und 16.12.1906 in „Frühlings Erwachen“ an den Kammerspielen auf [vgl. Tb]. , sonst hätte ich Euch vorher schon geschrieben. Heute am Sonntag habe ich sogar zwei Mal aufzutreten. Um 3 Uhr ist eine ErdgeistvorstellungDie „Erdgeist“-Vorstellung der Neuen Freien Volksbühne in Berlin am 16.12.1906 fand als geschlossene Veranstaltung ohne Ankündigung in der Presse am Deutschen Theater statt. Wedekind sprach als Tierbändiger den „Prolog zum Erdgeist“ (s. u.). für die Freie VolksbühneDer 1890 gegründete Theaterverein Neue Freie Volksbühne in Berlin, seit 1902 unter dem Vorsitz von Josef Ettlinger, machte modernes Theater dem Publikum preiswert zugänglich und veranstaltete als Freie Bühne die Vereinsvorstellungen an Sonn- und Feiertagnachmittagen an wechselnden Spielstätten (darunter das Deutsche Theater und das Neue Theater) mit den Ensembles dieser Bühnen, darunter (in den öffentlichen Theaterprogrammen nicht aufgeführt) im Spieljahr 1906/07 eine „Erdgeist“-Vorstellung [vgl. Neuer Theater-Almanach 1908, S. 182]., die unter der LeitungDie stellvertretenden Vorsitzenden der Neuen Freien Volksbühne (Vorsitz: Josef Ettlinger) waren in der aktuellen Spielzeit Karl Henckell und Bruno Wille [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 211]. von Karl Henckell und Bruno Wille steht und am Abend trete ich in Frühlings Erwachenum 20 Uhr an den Kammerspielen des Deutschen Theaters [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 25, Nr. 638, 16.12.1906, Sonntags-Ausgabe, 6. Beiblatt, S. (1)]. Wedekind spielte den vermummten Herrn. Die Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ (Regie: Max Reinhardt) hatte dort am 20.11.1906 stattgefunden, die Inszenierung wurde zu einem großen Theatererfolg. auf. Ich weiß daß Du das Stück nicht liebst und behellige Dich deshalb auch nicht mit Berichten darüber.

Bis jetzt ist der Winter für Tilly und mich sehr ruhig verlaufen und auch das Erscheinen unserer Tochter hat die Behaglichkeit vorläufig nicht gestört. Alle vierzehn Tage kam man nach den jeweiligen PremierenWedekind verzeichnete im Tagebuch Premierenbesuche am 17.10.1906 („Abends Premiere Liebeskönig. Nachher mit dem Deutschen Theater und Leo Greiner bei Hupka. Dann mit Tilly bei Stallmann.“), am 8.11.1906: („Eröffnung der Kammerspiele mit Gespenster. Nachher mit der ganzen Gesellschaft und Rathenau bei Hupka.“), am 20.11.1906 („Premiere von Frühlings Erwachen. […] Nachher bei Hupka, dann mit Tilly und Gemma im Café Austria.“), am 22.11.1906 („Pressevorstellung von Fr Erw. Nachher Souper bei Borchart. […] Nachher mit Tilly und Gerhäuser im Café Austria.“) und am 7.12.1906 („Pressevorstellung von Mensch und Übermensch. Nachher bei Borchart“). zu einem Diner zusammen, das ist alles was wir an gesellschaftlichem Leben mitgemacht haben. | Im Monat Februar sollen Tilly und ich in GöttingenZu einem Gastspiel in Göttingen kam es nicht. und in LeipzigWedekind fuhr am 11.2.1907 alleine zu einem Gastspiel des Deutschen Theaters nach Leipzig („Tilly begleitet mich auf den Bahnhof Fahrt nach Leipzig. Logiere Hotel Hauffe […] Frl. Erw.“) und am 12.2.1907 weiter nach Dresden („Abfahrt nach Dresden. […] Logiere in Webers Hotel. Fahre zu Mieze. Frlgs Erw. Nachher bei Mieze zu Abend gegessen. Bis 4 im Stadtkaffee.“) [Tb]. spielen; ich bin sehr darauf gespannt ob und wie sich das machen läßt.

Ich hoffe liebe Mama, daß Dir und Mati der Winter in Lenzburg ebenso behaglich ist, wie er bis jetzt hier in Berlin war. Gefroren hat es bis jetzt überhaupt noch nicht. Seit zwei Tagen liegt er/de/r erste Schnee. In Lenzburg wird es wohl schon etwas kälter gewesen sein. Wie stellt sich denn Mati jetzt zu den Lenzburger Festivitäten, Cäcilienfest Mit Musikaufführungen begleitetes Fest zu Ehren der Heiligen Cäcilie, das in der Schweiz am 15. November bzw. am jeweils darauffolgenden Sonntag gefeiert wird. Es fiel in diesem Jahr auf den 18.11.1906. u. s..w? Es würde mich sehr in|teressieren zu hören was in Lenzbug/r/g Theater gespielt wird. Heute Nachmittag wird wol viel von Lenzburg die RedeDer Anlass ist unklar. sein. Vielleicht schreibt mir Mati einmal etwas ausführliches.

Tilly läßt Dich, liebe Mama und Dich liebes Mati herzlich grüßen. Augenblicklich schläft sie und ich werde jetzt durch den Thiergarten zum Deutschen Theater gehen um dort als Löwenbändiger aufzutreten. Ich sende euch beiden die herzlichsten Grüße auf baldiges frohes Wiedersehn in Lenzburg.

Euer getreuer
Frank


16.12.6.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 23 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    16. Dezember 1906 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

(Band 2)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
168-169
Briefnummer:
277
Kommentar:
Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 354-355 (Nr. 180.2).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek. Monacensia (München). Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau) et Minna von Greyerz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Familie Rudolf Bertschinger, Lenzburg, dem Literaturarchiv der Monacensia, München, und der Aargauischen Kantonsbibliothek, Aarau, für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 16.12.1906. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

23.04.2024 10:43