Kennung: 5031

Berlin, 21. Juni 1889 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

Berlin 21.VI.89.


Liebe Mama,

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 16.6.1889. und für die Bereitwilligkeit mit der Du auf meine BitteFrank Wedekind hatte in seinem letzten Brief die Mutter gebeten, Heinrich Welti und dessen Verlobte Emilie Herzog nach Lenzburg einzuladen [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.6.1889]. eingegangen. An der Menge Besuch die dir in Aussicht steht sehe ich nun erst daß es eben doch nicht gerade eine Kleinigkeit für dich wäre und du selber am Ende von der Annehmlichkeit der Persönlichkeiten am wenigsten haben würdest. Aber es ist nun geschehen und so hab ich auch Frl Herzog in deinem Namen aufs herzlichste eingeladen. Ob sie wirklich kommen. Sie scheinen aufrichtig große Lust zu haben fürchten aber kei/un/ter Umständen keine Zeit zu finden. Ich denke diese Eventualität wird dir nicht | unangenehm sein. Kommen sie diesmal nicht, so kommen S/s/ie übers Jahr, wo du hoffentlich mehr Ruhe und Zeit haben wirst. Ich habe demgemäß auch nicht weiter darauf gedrungen. Es sieht übrigens auch diesemSchreibversehen, statt: auch in diesem. Liebeslenz nicht alles so rosenroth aus, wie es auf den ersten Blick erscheinen möchte. Für mich ist es von eigenartigem Interesse, bei jedesmaligem Besuche immer mehr an die Tragikomödie Sadi-Miezedie kurzzeitige Verlobung von Wedekinds Freund Karl Henckell mit seiner Schwester Erika, die am 29.5.1887 geschlossen, aber kurz darauf wieder gelöst wurde. erinnert zu werden, nur daß hier die Möglichkeit daß die Disharmonie durch die Ehe für Zeit und Ewigkeit fixirt wird, doch um vieles näher liegt. Ich muß mir zu meinem eigenen Leidwesen gestehen, daß Welti ein ganz verzweifelter Philisterstudentensprachlich für Spießer. geworden, der/m/ vom genialen Jüngling nichts anderes übriggeblieben ist, als die Selbstüberschätzung. Sie ist in dessen durch ihre ErfolgeEmilie Herzog war ein erfolgreiche Opern- und Konzertsängerin und seit März 1889 am Königlichen Hoftheater Berlin engagiert. verwöhnt worden und zeitweise, besonders kurze Zeit vor und nach einer größeren Rolle unmäßig nervös erregt, so daß sie thatsächlich kaum eine Minute stillsitzen kann. In dieser Verfassung fühlt sie sich dann | durch seine schulmeisterliche Beredtsamkeit und Nörgelei auf das unbarmherzigste gelangweilt und wäre, ihrer Aussage nach (nicht mir gegenüber) manchmal imstand ihn zu erwürgen. Ich brachte ihr BromkaliZeitgenössisch als Psychopharmakon eingesetzter Wirkstoff: „Zu den wichtigsten Errungenschaften im Gebiet der Therapie der Nervenkrankheiten gehört das Bromkali. Es verdankt diese Bedeutung seiner Eigenschaft, eine deprimierende Wirkung auf die Hirnthätigkeit auszuüben, namentlich die Reflexerregbarkeit des centralen Nervensystems herabzusetzen. […] Es ist endlich ein Schlafmittel für viele Kranke.“ [Richard von Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für practische Ärzte und Studirende. Bd. 1. Stuttgart 1879, S. 261f.] und empfahl ihr, davon zu nehmen, indem es auch dir geholfen habe. Welti meinte auch, es würde das sehr gut sein. Einige Tage später vernahm ich aber daß er es an sich genommen und gegen Schlaflosigkeit einnähme. Er ist eben auch so einer, der sich ins Wochenbetteigentlich die Erholungsphase einer Mutter in den ersten Wochen nach der Entbindung; bei Wedekind ironisch vor dem Hintergrund zeitgenössischer ethnographischer Aufsätzen über das Wochenbett bei Männern. „Der Name männliches Wochenbett ist offenbar durch die typischen Fälle angeregt, wo der Mann im Bette liegt und von der Frau bedient wird, und sich stellt, als wenn er selbst geboren hätte“ [Karl Friedrichs: Das männliche Wochenbett. In: Das Ausland, Jg. 44, Nr. 62, 3.11.1890, S. 878]. legt und das ist es was sie ihm am wenigsten verzeiht, daß sie keine Ursache hat, stolz auf ihn zu sein, daß er so ganz und gar nichts vom Ritter an sich hat, daß sie an ihm keinen funkelnden Diamanten besitzt, sondern einen ungeschliffenen. Sie hat gegenwärtig eine Freundin bei sich, eine junge Frankfurterin MusikschülerinAnna Spicharz aus Frankfurt, die ehemalige Verlobte eines Freundes von Heinrich Welti, die Wedekind in Berlin kennenlernte: „Sie sei nämlich angehende Sängerin und da suche ihr die Emilie auf die Beine zu helfen. Bei meinem nächsten Besuch bei Frl. Herzog werd ich ihr vorgestellt. Sie ist stattlich von Figur und hat eine ausgesprochene Gouvernantenphisiognomie.“ [Tb 15.6.1889], der sie auf die Beine helfen will, wie sie es schon bei vielen gethet/an/. Diese sagte mir, sie behandle ihn bisweilen ganz wie ihren Laufburschen. Sie thut das aber jedenfalls nur aus Hohn gegen sich selber, weil er sichs gefallen | läßt und höchstens knurrt wie ein Pudel. Das einzig vernünftige wäre natürlich, sie gingen auseinander. Welti wäre ohne seine Verlobung nicht so erschlafft und sie wäre nicht so unausstehlich wenn sie frei wäre. Die Hauptschuld liegt natürlich an ihm, Ihr wär es ja ihrer lebtagSchreibversehen, statt: Lebtag. nicht eingefallen in ihn verliebt zu sein, wenn er ihr nicht weiß gemacht hätte, sie seien einander vorausbestimmt.

Vor einigen Tagen war ich mit den beiden Damen im Museum und sah dort das Gastmahl von FeuerbachDas Gemälde „Gastmahl des Platon“ von Anselm Feuerbach war 1878 von der Nationalgalerie angekauft worden. Im Katalog heißt es dazu: „Die Composition ist veränderte Wiederholung eines im Jahre 1867 vom Künstler gemalten Bildes, welches sich im Privatbesitz des Fräulein Röhrsen in Hannover befindet.“ [Max Jordan: Katalog der königlichen National-Galerie zu Berlin. 7. vervollständigte Aufl. Teil I. Berlin 1885, S. 174]. Das ursprüngliche Bild war 1869 auf der 1. internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast gezeigt und von der Malerin Marie Röhrs erworben worden.. Du kennst das Bild wenn mir recht ist. Es machte einen überwältigenden Eindruck auf mich. Die Schönheit des Bildes liegt außerhalb der wirklichen Welt Es ist eine Erhabenheit des Eindruckes, wie man sie nur im Traum empfunden zu haben sich erinnert. Wenn ich eine Photographie auftreiben kann, so werde ich sie dir zukommen lassen. Ich verstehe jetzt erst wie du den Eindruck Jahrelang so lebhaft | hast in der Erinnerung behalten können. Aus/ß/erdem ist ein Böcklin hier, die Gefilde der SeligenDas von der Berliner Nationalgalerie bei Arnold Böcklin in Auftrag gegebene Öl-Gemälde „Die Gefilde der Seligen“ (1877) war 1878 zunächst ausgestellt, aber aufgrund öffentlicher Proteste vorübergehend wieder abgehängt worden. In seiner Rede im Berliner Abgeordnetenhaus beschrieb August Reichensberger am 12.2.1880 das Gemälde so: „Die Farben sind derart schreiend, daß ich versucht war, mir die Ohren zuzuhalten. (Heiterkeit.) Und worin besteht die ‚Seligkeit‘ der betreffenden Dargestellten? Sie zeigt sich in der Art, daß 6 bis 7 unbekleidete Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts, wenn ich nicht irre, theilweise mit Bocksfüßen versehen, auf und ab spazieren, während im Vordergrund, in einem Wasser auf einem centaurartigen Scheusal eine ebenfalls unbekleidete weibliche Person reitet, – wohin ist nicht zu sehen. (Große Heiterkeit.)“ [August Reichensperger: Parlamentarisches über Kunst und Kunsthandwerk nebst Glossen dazu. Köln 1880, S. 48] Im Katalog der Nationalgalerie ist das Gemälde so beschrieben: „Phantastische Landschaft mit schroffer Felshalde zur Rechten, von dunklem Gewässer bespült, welches nach links hin mit flachem Rasenufer abschließt und den Blick durch Pappelgebüsch hindurch auf die von der Frühsonne angeleuchtete Gebirgsferne freiläßt. Durch die von Schwänen durchfurchte Fluth schreitet ein Centaur, auf seinem Rücken ein jugendliches Weib tragend, das von zwei aus dem Schilf auftauchenden Sirenen geneckt, nach dem Gestade umschaut, wo ein im Gras gelagertes Paar und weiterhin ein Reigen seliger Gestalten um den Altar versammelt ihrer harren.“ [Max Jordan: Katalog der königlichen National-Galerie zu Berlin. 7. vervollständigte Aufl. Teil I. Berlin 1885, S. 172] Auf Arnold Böcklins Gemälde hatte bereits Olga Plümacher Wedekind aufmerksam gemacht [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 15.11.1885]. , bei dessen Anblick ich ebenfalls bedauerte, Dich nicht an der Seite gehabt zu haben. Ich glaubte sicher du würdest geweint haben. Es ist eben auch ganz and etwas anderes als was man sonst Bilder nennt, nichtSchreibversehen, statt: nichts. als seligste Empfindung. Man athmet tief auf, wenn man das Bild eine Zeitlang angesehen hat.

Berlin hab ich indessen ziemlich kennen gelernt, bis auf das gesellschaftliche Leben. Ich sitze tief in der ArbeitWährend seines Berliner Aufenthalts arbeitete Wedekind vor allem an seinem Lustspiel „Kinder und Narren“ [vgl. KSA 2, S. 632f.]. Auch vor die Stadt hinaus bin ich schon wiederholt gekommen. Dicht vor meinem Haus, hält ein DampftramDie Dampfstraßenbahn vom Zoologischen Garten über Steglitz zum Grunewald war am 10.9.1887 eröffnet worden und hielt am Nollendorfplatz, nahe bei Wedekinds Wohnung., der Einen in 20 Minuten nach dem berühmten Grunewald fährt, einem dürren sandigen Kiefernhain, der jeden Sonntag dicht gedrängt von Berlinern wimmertwohl Schreibversehen, statt: wimmelt.. Gerhart Hauptmann erwartet seinen | dritten SohnKlaus Hauptmann wurde am 8.7.1889 geboren., wenn es keine Tochter ist. Er hat ein DramaÜber seinen Besuch bei Gerhart Hauptmann in Erkner notierte Wedekind: „G. Hauptmann liest auf seinem Arbeitszimmer den ersten Akt eines Dramas vor. Er hat nämlich auf Papa Hamlet hin seinen Roman ohne Besinnen bei Seite geworfen und in sechs Wochen ein Drama geschrieben.“ [Tb 26.5.1889] Es handelte sich um das Drama „Vor Sonnenaufgang“, das im August 1889 erschien [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 56, Nr. 198, 26.8.1889, S. 4289] und am 20.10.1889 durch die Freie Bühne am Berliner Lessing-Theater uraufgeführt wurde. Es brachte Hauptmann den Durchbruch als Dramatiker. geschrieben was über kurzem erscheinen und ihn berühmt machen soll. Das ist es eben, was den armen Welti so sehr hat geistig einschrumpfen lassen, daß er vor Brotarbeit, die er täglich verflucht, nie dazu gekommen ist frei aus sich heraus zu gehen. Er hat jetzt aber auch beschlossen, umzusatteln.

An Mativgl. das erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Emilie (Mati) Wedekind, 21.6.1889. hab werde ich dieser Tage schreiben. Schreibe mir wenn Du gerad Zeit hast und in Stimmung bist. Meine Straße heißSchreibversehen, statt: heißt. übrigens nicht Gethiner sondern Genthinerstrasse. Meine Empfehlung an die DamenIn seinem letzten Brief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.6.1889] grüßte Wedekind seine Schwester Erika, seine Schwägerin Emma, seine Cousine Minna von Greyerz und die Freundin seiner Schwester Josephine Brunnckow, die hier erneut gemeint sein dürften.. Minna werd ich dieser Tage schreibenEin Brief Wedekinds an Minna von Greyerz aus dieser Zeit ist nicht überliefert.. Mit herzlichem Gruß
dein treuer Sohn
Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14 x 22 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Berlin
    21. Juni 1889 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Berlin
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
S. 192-193
Briefnummer:
68
Kommentar:
Im Erstdruck ist der Brief unvollständig ediert, die weggelassene erste Hälfte des Briefes ist durch 15 Gedankenstriche markiert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 228-230 (Nr. 102).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 21.6.1889. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

18.01.2024 17:17