[1. Abgesandter Brief:]
Mein lieber alter
Freund,
lang, lang ists her, seit wir uns gesehenWedekind sah Eisenschitz zuletzt vor 1½ Jahren ‒ so lange zurück lag das elftägige Gastspiel des Ibsen-Theaters in Wien (2.6.1898 bis 12.6.1898).. Es
wundert mich übrigens außerordentlich, daß wir einander vor zwei Jahren nicht
in Wien begegnet sind. Ich hatte freilich von früh bis gen Mitternacht Arbeit
vollauf sonst würde ich Sie wol aufgestöbert haben. Es ist nicht ausgeschlossen
daß ich | im Lauf des nächsten Sommers
wieder nach Wien komme. Vor der Hand besuche ich nach Abschluß meiner HaftWedekind wurde am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen.
meinen Freund Dr. Heine in HamburgDr. Carl Heine, „Director des Carl Schultze-Theater“ [Hamburger Adreß-Buch 1900, Teil III, S. 256] in Hamburg, Eichenallee 11., mit dem ich seinerzeit in WienWedekind und Carl Heine, seinerzeit noch Direktor des Ibsen-Theaters in Leipzig, waren vom 2.6.1898 bis 12.6.1898 mit einem Gastspiel des Ibsen-Theaters in Wien. war und gehe
dann nach München zurück um mich in meiner so schmählich unterbrochenen
Schauspielerei weiter zu bilden.
Wie geht es Ihnen? Sie | leben und wirken auch nur noch als Priester
ThaliensAnhänger der Thalia, der Muse des Lustspiels oder des Schauspiels überhaupt ‒ ein Stückeschreiber; die bewusst antiquierte Periphrase war eher im frühen 19. Jahrhundert gebräuchlich.. Ich sehne mich hier obenDie Festung Königstein, wo Wedekind wegen Majestätsbeleidigung inhaftiert war, liegt oberhalb des Ortes Königstein auf einem Felsplateau des Elbsandsteingebirges. danach zurück wie sich ein Fisch auf denSchreibversehen statt „dem“.
Trocknen nach dem Wasser sehnen muß.
Mein BruderKorrespondenz zwischen Frank und Donald Wedekind von 1899 bis Anfang 1900 ist nicht überliefert. Wedekind hatte Eisenschitz über seinen Bruder kennengelernt, der mit Eisenschitz befreundet war. Donald lebt in Zürich ziemlich
einsam, mit Journalistik beschäftigSchreibversehen statt „beschäftigt“.. Der Strom des Lebens hat ihn noch nicht in
den Strudel hineingerissen. Seine Adresse ist Maneggasse 5. Es wird indessen | wol nicht lange dauern, dann treibt er auch
wieder auf hohem Meer.
Seien Sie herzlich gegrüßt mein lieber Herr
Eisenschitz. In der Erwartung eines baldigen Wiedersehens
Ihr
Frank Wedekind.
Festung Königstein
8. Januar 1900.
[2. Druck:]
Mein lieber alter
Freund, lang, lang ist’s her, seit wir uns gesehen. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß ich im Lauf des nächsten Sommers wieder nach Wien komme.
Vor der Hand besuche ich nach Abschluß meiner HaftDanach steht ein Sternchen: „Haft*“, das auf eine Anmerkung verweist: „*) Wegen Majestätsbeleidigung.“ meinen Freund Dr. Heine in
Hamburg, mit dem ich seinerzeit in Wien war, und gehe dann nach München zurück,
um mich in meiner so schmählich unterbrochenen Schauspielerei weiter zu bilden.
Wie geht es Ihnen? Sie
leben und wirken auch nur noch als Priester Thaliens. Ich sehne mich hier oben
danach zurück, wie sich ein Fisch auf dem Trockenen nach dem Wasser sehnen muß.
Mein Bruder Donald lebt
in Zürich ziemlich einsam, mit Journalistikbeschäftigung. Der Strom des Lebens
hat ihn noch nicht in den Strudel hineingerissen. Es wird indessen wohl nicht
lange dauern, dann treibt er auch wieder auf hohem Meer.
Seien Sie herzlich
gegrüßt, mein lieber Herr Eisenschitz. In der Erwartung eines baldigen
Wiedersehens Ihr
Frank Wedekind.
Festung Königstein, 8.
Januar 1900.