Kennung: 4438

Berlin, 23. November 1906 (Freitag), Postkarte

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Kraus, Karl

Inhalt

Postkarte


An Herrn Karl Kraus
in Wien IV.
Wohnung (Straße und Hausnummer) Schwindtgasse 3. |


Lieber Herr Kraus!

Besten DankHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur genannten Sendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 13.11.1906. – Karl Kraus hat Wedekind entweder das „Fackel“-Heft geschickt, das seinen das ganze Heft füllenden Aufsatz „Der Prozeß Riehl“ enthält [vgl. Die Fackel, Jg. 8, Nr. 211, 13.11.1906, S. 1-28], oder aber „den broschierten Sonderdruck“ [Nottscheid 2008, S. 191], der vier Wochen später als „vorläufig vergriffen“ [vgl. Die Fackel, Jg. 8, Nr. 214-215, 22.12.1906, S. (54)] angezeigt ist. Der Aufsatz bezieht sich auf den fünftägigen Skandalprozess gegen die Wiener Bordellbetreiberin Regine Riehl vom 2. bis 6.11.1906 wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Kuppelei und Mädchenhandel am Strafgericht Wien (das Urteil – 3½ Jahre Zuchthaus – wurde am 7.11.1906 verkündet) und die öffentliche Resonanz auf diesen Prozess, der auch Korruption auf Seiten der Polizei offenlegte und bürgerliche Doppelmoral erkennen ließ, was für Karl Kraus der Dreh- und Angelpunkt seiner Ausführungen war. Berthe Marie Denk schrieb er in einem undatierten Briefragment: „Der ‚Process Riehl‘, der deinen Beifall hat, hat hier das stärkste Aufsehen erregt seit der Gründung jenes Blättchens, das mich zum Sclaven meiner Freiheit gemacht hat.“ [Nottscheid 2008, S. 191; Original: DLA] für den Prozeß RielSchreibversehen, statt: Riehl. – So im Erstdruck korrigiert.. Ich habe ihn noch nicht gelesen, weil ich augenblicklich für eine ArbeitWedekind arbeitete am Projekt „Die große Liebe“, dessen Plan er bereits erwähnt hatte [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 23.10.1906]. sehr viel zu lesen habe. Zu diesem sehr vielenWedekinds in der Tat außerordentlich umfangreiche und kulturgeschichtlich weit ausgreifende Lektüren zu seinem Projekt „Die große Liebe“ [vgl. KSA 5/I, S. 1148-1237], zu dem in den Notizbüchern „Bücherlisten“ und „Notizen zur Literaturrecherche“ [KSA 5/I, S. 1138] überliefert sind. gehört aber in erster Linie auch dieser Prozeß, so daß ich sehr bald dazu kommen werde. Fr. Erw. wurde schweigend hingenommendie Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ (1891) an den Kammerspielen des Deutschen Theaters (Direktion: Max Reinhardt) in Berlin am 20.11.1906, an dem Wedekind notierte: „Premiere von Frühlings Erwachen. Es rührt sich keine Hand.“ [Tb] Hermann Bahr notierte dazu am 21.11.1906: „Die Première war recht zuwider, weil dieses Publicum der geschlossenen Abonnementsvorstellungen zu trottelhaft ist. Es glaubt, weil es zwanzig Mark gezalt und sich wie zu einer Leiche angezogen hat, es sich nun schuldig zu sein, daß es weder lacht noch weint noch klatscht noch zischt noch irgend etwas empfindet, sondern regungslos, lautlos, gedankenlos sitzt es da, während der Akte und nach den Akten gleich stumpf und stumm, und scheint nichts zu empfinden als: Ich habe zwanzig Mark gezalt! Du kannst Dir die Nervosität des Autors und der Schauspieler denken, wenn am Ende der mit solcher Arbeit vorbereiteten Première kein Mensch weiß, ob sie nun durchgefallen sind oder einen großen Erfolg haben – was sie erst zwei Tage später, in der zweiten, für die Presse veranstalteten Vorstellung erfahren. – Ich sagte: Merkwürdige Idee von Reinhardt, sich die feinsten Stücke auszusuchen, diese mit den besten Schaupielern einzustudieren, um das Ganze dann dem ausgesucht dümmsten Publicum der ganzen Stadt vorzusetzen!“ [Tb Bahr, Bd. 5, S. 152] Die Inszenierung hatte dann aber einen überwältigenden Erfolg und markiert „den eigentlichen Durchbruch Wedekinds als Bühnenautor“ [KSA 2, S. 920].. Es hat sich buchstäblich nicht eine Hand gerührt.

Wann sehen wir uns wieder?sehr bald, vier Tage nach dem vorliegenden Brief. Karl Kraus kam, um „Frühlings Erwachen“ auf der Bühne zu sehen (er sah die fünfte Vorstellung), am 27.11.1906 nach Berlin, wie Wedekind notierte: „Am Vormittag kommt Karl Kraus. Fr. Erw. 5 Nachher mit Kraus bei Treppchen“ [Tb].

Mit herzlichen Grüßen, auch von Tilly
Ihr
FrWedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Empfängeradresse in lateinischer Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 9 x 14 cm.
Schreibraum:
Im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Postkarte ist mit einer aufgedruckten Briefmarke von 5 Pfennig frankiert. Karl Kraus hat oben rechts auf die Textseite mit Bleistift das Datum „23.XI.06“ notiert; er hat nach „Fr. Erw.“ eine Fußnote gesetzt und dazu unten mit Einweisungszeichen „Frühlings Erwachen“ geschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Datum des Poststempels – 23.11.1906 – darf als Schreibdatum angenommen werden.

Uhrzeit im Poststempel Berlin: „8 – 9 N“ (= 20 bis 21 Uhr).

Erstdruck

Briefe Frank Wedekinds

Titel des Aufsatzes:
Briefe Frank Wedekinds
Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Karl Kraus
Verlag:
Wien: Verlag "Die Fackel"
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
126
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Die Fackel, Jg. 21, Nr. 521-530, Januar 1920, S. 126. Im Erstdruck ist die Postkarte mit dem Hinweis „Berlin 23.11.06“ und mit einer Fußnote versehen. Nach „Fr. Erw.“ ist angemerkt: „Frühlings Erwachen“. Eine Stelle ist gesperrt gedruckt („nicht eine Hand gerührt“). – Neuedition: Nottscheid 2008, S. 89 (Nr. 68).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Wienbibliothek im Rathaus

Felderstraße 1
1082 Wien
Österreich

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Karl-Kraus-Archiv
Signatur des Dokuments:
H.I.N. 139739
Standort:
Wienbibliothek im Rathaus (Wien)

Danksagung

Wir danken der Wienbibliothek im Rathaus für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstückes.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Karl Kraus, 23.11.1906. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

17.01.2024 17:51