Kennung: 4399

London, 14. April 1894 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Armin (Hami)

Inhalt

London, 14.IV.1894.


Lieber Bruder,

es liegt mir schwer auf der Seele, daß ich seit 4 Wochen umgezogenWedekind wohnte inzwischen Air Street 13, Piccadilly Circus. bin, ohne Dir meine Adresse mitzutheilen. Jedenfalls habe ich auf meinen letzten ausführlichen Briefvgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 21.3.1884 – nur gekürzt überliefert. noch keine Antwort bekommen. Es sollte mir unendlich leid thun, wenn sich dieselbe verloren hätte. An Donald schrieb ichHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Donald Wedekind, 25.3.1894. vor einigen Wochen nach Mailand, habe aber auch noch keine Antwort. Wie geht es Dir und wie geht es zu Hause? Hat Mama ihren UmzugEmilie Wedekind war nach dem Verkauf von Schloss Lenzburg im Frühjahr 1893 ins Haus Steinbrüchli am Fuße des Schlossbergs umgezogen. schon bewerkstelligt. Donald schrieb mirHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Donald Wedekind an Frank Wedekind, 11.3.1894. Anfang März hatte Donald Wedekind seinem Bruder von dem bevorstehenden, aber noch nicht sicheren Vertragsabschluss seiner Schwester berichtet [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 6.3.1894]. Das Engagement Erika Wedekinds in Dresden hob den bereits seit Herbst 1893 bestehenden Vertrag mit der Hofoper Kassel auf [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 317]., daß Mieze in Dresden engagirtErika Wedekind war seit dem 1.4.1894 Hofopernsängerin in Dresden. Die Presse in Dresden berichtete: „Frl. Erica Wedekind, Schülerin von Frl. Orgeni, ist für die Königl. Hofoper engagirt worden. Frl. Wedekind debutirt nächsten Donnerstag in der Rolle der Frau Fluth in Nicolai’s ‚Lustigen Weibern‘.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 39, Nr. 70, 11.3.1894, S. (3)] „Zu dem bereits vorgestern gemeldeten Engagement des Frl. Wedekind läßt uns das Königl. Konservatorium mittheilen: Die Königl. Hofoper hat mit Frl. Erika Wedekind einen fünfjährigen, am 1. April beginnenden Vertrag geschlossen [...]. Die Dame ist seit 3½ Jahren Vollschülerin des Königl. Konservatoriums [...]. Die Besucher der Konservatoriumaufführungen sahen schon seit längerer Zeit mit hohem Interesse die außerordentliche Entfaltung des Talentes der jungen Dame.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 39, Nr. 72, 13.3.1894, S. (3)] Das Engagement wurde auch in Zürich registriert: „Die Sängerin Erica Wedekind von Lenzburg, welche dieses Frühjahr ihre Studien am Konservatorium in Dresden beendigen wird, ist nach einmaligem Gastspiel (Frau Fluth in ‚Lustige Weiber‘) als erste Soubrette am königlichen Hoftheater in Dresden engagiert worden.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 115, Nr. 77, 18.3.1894, S. (1)] Zu dem Gastspiel kam es durch Erika Wedekinds Auftritt bei einem Wohltätigkeitskonzert im Dresdner Musenhaus kurz zuvor [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 39, Nr. 67, 8.3.1894, S. (3)]: „Errungen hat Frl. Wedekind sich diesen schnellen und unerwarteten Eintritt in die Hofoper durch den Erfolg ihrer Mitwirkung in einem Wohltätigkeitsconcert der vergangenen Woche, in welchem sie die große Szene und Arie der Norma sang. Unmittelbar darauf erhielt sie von Generalmusikdirektor Schuch die Aufforderung zu einem Probegastspiel im Köngl. Hoftheater“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 39, Nr. 76, 17.3.1894, S. (3)]. sei. Mehr weiß ich von Mieze auch nicht. Mir geht es so weit noch gut. Ich habe hier eine unschätzbare Bekanntschaft in dem aus Paris verwiesenenOtto Brandes, seit 1883 Auslandskorrespondent des Berliner Tageblatts, war „wegen ihm fälschlicherweise unterstellter Pressemeldungen über die frz. Panama-Affäre Ende März 1893 aus Frankreich ausgewiesen worden“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 166] und mit seiner Familie nach London übergesiedelt [vgl. dazu ausführlich Sonja Hillerich: Deutsche Auslandskorrespondenten im 19. Jahrhundert. Die Entstehung einer transnationalen journalistischen Berufskultur. Berlin, Boston 2018, S. 140-150]. Die Ausweisung wurde durchgesetzt, obwohl bereits bekannt war, dass Brandes an den ihm vorgeworfenen Korruptionsbezichtigungen gegenüber der Präsidentenfamilie unbeteiligt war [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 22, Nr. 159, 27.3.1893, S. (1)]. Die Angelegenheit wurde in der deutschsprachigen Presse mit Empörung wahrgenommen, auch weil es auf dem Weg zum Bahnhof zu Angriffen auf die Familie Brandes kam [vgl. Berliner Tageblatt, Jg. 22, Nr. 163, 29.3.1893, Abend-Ausgabe, S. (1)]. Dr. Brandes gemacht, in dessen Familie ich mit einer Herzlichkeit aufgenommen bin, über deren Motive ich mir noch nicht recht klar geworden. Im übrigen finde ich das Leben hier immer noch unausstehlich, wiewol ich in einigen Clubs verkehre, wo man für die Nacht wenigstensWedekind litt unter der mitternächtlichen Sperrstunde in den öffentlichen Londoner Lokalen. Die privaten Clubs, bei denen man Mitglied sein oder als Gast mitgenommen werden musste, waren in ihren Öffnungszeiten hingegen nicht eingeschränkt. ein sicheres Unterkommen hat. Außerdem habe ich zwei reizende Französinnendie Schwestern Louise und Jeanne Douste de Fortis (4 Hornton Street, Kensington) [vgl. London Metropolitan Archives. London City Directories. London 1895, S. 2183], zwei in London geborene Pianistinnen, deren Eltern aus den französischen Pyrenäen stammten. Die Geschwister waren bereits als Kinder erfolgreich aufgetreten und später auch als Sängerinnen und Klavierlehrereinen tätig. kennen gelernt, Hofpianistinnen ihrer kgl. H. der Herzogin von Flandernwohl die belgische Königin Marie Henriette Anne von Österreich aus dem Hause Habsburg-Lothringen (seit 1865), die zugleich Herzogin von Brabant war. Flandern war eine Grafschaft, die Gräfin von Flandern war Marie Prinzessin von Hohenzollern-Sigmaringen (seit 1867). Die beiden Musikerinnen Louise und Jeanne Douste de Fortis waren wiederholt vor der belgischen Königin und der Gräfin von Flandern aufgetreten [vgl. Signale für die Musikalische Welt, Jg. 39, Nr. 6, Jan. 1881, S. 86]. Jeanne Douste war 1889 zur Hofpianistin ernannt worden [vgl. Frederick F. Buffen: Musical Celebreties. London 1889, S. 27]., bei denen ich jeden Dienstag Abend in Kunst- und anderen Genüssen schwelge. Das sind meine wöchentlichen Oasen, an deren CisternenZisternen = Wasserbehälter. ich mich wie ein Kameel für die ganze Wüstenwanderung mit Seelentrost vollpumpe. In all der Misèremisère (frz.) = Misere, Elend, bejammernswerter Zustand. träume ich allnächtlich von alten schönen Tagen, von München, von meiner Freundin Katharina III.die Malerin Käthe Juncker [vgl. GB 1, S. 354], die Wedekind 1891 in Öl porträtiert hatte. Das Bild diente als Vorlage für das Frontispiz in der Erstausgabe von „Frühlings Erwachen“ (1891). 1892 hatte Wedekind in Paris eine Liaison mit ihr und führte sie in seinem Tagebuch unter dem Namen Katja; der Spitzname Katharina III. hier wohl in Anspielung auf die russische Zarin Katharina II., die wegen ihrer zahlreichen Liebhaber berüchtigt war. Ich habe nie solches Heimweh nach Deutschland empfunden wie hier. Ich wohne jetzt im Centrum der 7 Millionen Stadt, unter den Bleidächern am Picadilly Circus, theurer und schlechter als in Paris, aber ich schätze mich glücklich, dem Bazar entronnen zu sein, dem BoardinghousePension mit Verköstigung (engl.: ‚boarding‘)., in das mich ein böser Stern geführt hatte.

Wenn Du in Zürich irgend jemanden triffst, der Dir die Adresse von Frau KinkelMinna Kinkel (geb. Werner), Witwe des exilierten Politikers und Kunsthistorikers Gottfried Kinkel, lebte in Zürich (Schönbühlstraße 15) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich 1894, Teil I, S. 210], wo ihr Mann seit 1866 Professor für Kunstgeschichte gewesen war. Zuvor lebte sie in London, wo sie 1858 den ehemaligen 1848er-Revolutionär Gottfried Kinkel kennengelernt und dort am 31.3.1860 geheiratet hatte. geben kann, so wäre ich Dir sehr dankbar dafür. Ich möchte gerne unter irgend welchem Vorwand ihre Bekanntschaft machen. Eine gute Empfehlung an die Dame wäre mir natürlich sehr angenehm. Sonst sag aber lieber nicht, für wen es ist, damit sie nicht vorher gewarnt wird.

Und nun leb wohl. Schreib mir gelegentlich, wenn Du mir auch nicht viel neues mitzutheilen hast. Es ist immer besser als gar nichts. Mein neues Trauerspiel, ,,Die Büchse der Pandora“, wird voraussichtlich in Paris erscheinenWedekind beabsichtigte sein Stück „Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie“, das er in London fertigstellte, bei Albert Langen in Paris erscheinen zu lassen, den er am 18.1.1894 in Paris wegen einer französischen Übersetzung von „Frühlings Erwachen“ aufgesucht hatte [vgl. Tb]. Wegen seiner fünfaktigen Monstretragödie verhandelte er mit ihm seit August 1894 [vgl. KSA 3/II, S. 833], was zur Umarbeitung ihrer ersten drei Akte zu dem vieraktigen Stück „Der Erdgeist“ führte (die beiden letzten Akte wurden zum zweiten Teil der Doppeltragödie umgearbeitet, dem dreiaktigen Stück „Die Büchse der Pandora“).. Aber die Sache ist noch nicht sicher. Grüße Emma herzlich von mir. Mit den besten Grüßen Dein treuer Bruder
Frank.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Empfangsort wird Armin Wedekinds Wohnort angenommen.

  • Schreibort

    London
    14. April 1894 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    London
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Zürich
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
268-269
Briefnummer:
112
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Armin (Hami) Wedekind, 14.4.1894. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

10.10.2023 18:58