Kennung: 4307

Straßburg, 20. Januar 1884 - 1. Februar 1884, Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

20 I – 1 II.


Mein Franklin!

Dank für den ersten Frühlingsbotenvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 17.1.1884; im Folgenden zitiert Oskar Schibler frei aus diesem Brief. unserer neu erwachten Freundschaft, die wie Du so richtig sagst in der Natur unserer Charaktere gegründet ist. Ein langer beinahe 4 Monate dauernder WinterschlafDer „briefliche Gedankenaustausch“ wäre demnach seit Anfang Oktober 1883, allenfalls seit September unterbrochen gewesen. In der Überlieferung klafft dagegen eine viel größere Lücke von 8 Monaten [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.5.1883 und Wedekind an Oskar Schibler, 17.1.1884], die nur zum Teil durch die lange Ferienzeit Oskar Schiblers nach der Matura (Mitte August) zu erklären ist. ist hinter uns, da endlich geht die Sonne unseres Bundes, der gegenseitige briefliche Gedankenaustausch, wieder auf und durch Nacht und Nebel wird sie die Pflanze wieder hervorlocken und neu stärken, dass sie schöner als je blühen wird.

Deine erste Frage wird jedenfalls die sein, wie ich hierin Straßburg; Oskar Schibler wurde am 14.12.1883 an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg für Jura immatrikuliert. Er wohnte Krämergasse 3 [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 35]. das Studentenleben finde & geniesse? Ein Studentenleben wie wir es in unseren glücklichen Tagen geträumt gibt es hier nicht & so geniesse ich dasselbe wie es in den Städten zu sein pflegt die französisch oder doch französischen UrsprungsStraßburg gehörte seit 1871 zu Deutschland. sind. Bitte überhebe mich weiteren Auseinandersetzungen denn der bewusste Gedanke & die kleinbeschränkte Beleuchtung erregen mir schon Ekel: Wir sind keine Griechen, um im Traum, nicht mit Bewusstsein. Du weisst hiermit genug. | Ekel ergreift einen! wermehrfach gestrichen. immer dasselbe zu geniessen ist schwer & nur eines gewöhnlichen Menschen Sache. So bin ich wie ein Mensch an eine öde Küste verschlagen auf der nur Affen hausen die tagtäglich dasselbe thun, nur einen Zweck haben sich körperlich zu ergötzen. Nein hier kann ich es nicht länger aushalten. Das Mährchen von dem Studentenleben existirt nicht in Wahrheit, es ist nur Dunst. Oft komme ich mir vor wie ein KamellSchreibversehen, statt: Kamel. in der Wüste (je unaestetischerSchreibversehen, statt: unaesthetischer. desto wahrer) das unter der glühenden austrocknenden Sonne des täglichen Lebens dahin eilt, gequält, & nirgends einen Halt findet, sein müdes Dasein aufzufrischen, nach einer verwandten Seele sucht, nach einer Oase die ihm Erholung gönnte; nicht einmal südliche phantasiereiche Gegenden brauche ich vor ihm aufzuthun nein nur Fruchtbäume, die ihm Nahrung geben damit es nicht zu grunde geht – doch es ginge zu grunde aus Mangel an Lebenssaft, aus Mangel an dem Träger alles Lebens wenn es nicht in seinem inneren ein Reservoir hätte, das nicht austrocknet sondern ihn es auch durch die Wüste begleitet. Lese diese Stelle 2 mal durch & | nur dann wirst du mich begreifen, sie ist in Aufregung geschrieben. Wenn ich so Abends nach einem beschränkt verlebten Beisammensein mit Schweigen bei Bier & Karten verlebt nach Hause komme dann greife ich nach einem Buch & dort bin ich wieder mich selbst. Bis jetzt habe ich keinen Menschen gefunden, vielleicht auch keinen/r/ einen Menschen in mir. Doch ich bin so egoistisch die anderen Menschen nach meinem Masstab zu beurtheilen, nichts auf ihr Urtheil zu geben. Ich habe ke++/in/e Gesellschaft nicht einmal Unterhaltung denn die Biergespräche & Kartenspiele bezeichne ich nicht mit diesem Namen.

Endlich ke gestern ein freies Aufathmen! (Donnerstag) 31 I. auf schnellem Pfad ins Reich der PoesieAnspielung auf Goethes Poesien, die „Sesenheimer Lieder“, die der Dichter angeregt durch seine Liebesbeziehung zur Sessenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion geschaffen hat. nach Sesenheim. Morgens früh n/9/ Uhr bei lachendem HimlSchreibversehen, statt: Himmel. durch die etwas langweiligen Gefilde des Elsass, hie & da etwas belebt von Pfützen in denen sich Schweine, Gänse & kleine Kinder herumtummeln & Abends 8 bei herrlicher Beleuchtung zurück, vorbei an den finstern FortsBefestigungsanlagen – Zeichen der vielumkämpften französisch-deutschen Grenzregion. Nah bei Sessenheim lag mit Fort-Louis eine dieser Festungen. & Wällen. Anstrengung & Genuss, doch auch Stoff & das Gefühl eine Stelle betreten zu haben die ein edler Mensch für alle Zeiten eingeweiht. Bei einer | frohen, freundlichen nicht geldgierigen & uns köstlich bewirthenden 2 hübsche im rechten AltenSchreibversehen, statt: Alter. stehende Mädchennicht ermittelt. & einen drollig schmeichelnden, jungen Jagdhund besitzenden Wirthin stiegen wir abim Gasthof zum Ochsen (Auberge du Bœuf) gegenüber der Kirche von Sessenheim, dessen Besitzer seit 1875 der Schreiner und Landwirt Wilhelm Gillig war. Seine Ehefrau, eine verwitwete Frau Reichhardt aus Baden, führte mit den beiden (wohl aus erster Ehe stammenden) Töchtern die Wirtschaft. & hörten im Verlauf des Gesprächs, dass sie eine Urenkelinein Mißverständnis, Friederike Brion starb ledig und kinderlos. der Goethen Friderikens sei. Nach dem Mittagessen um 3 Uhr gings zum ehrwürdigen PfarrerPhilipp Ferdinand Lucius, seit 1860 Pfarrer in Sessenheim, hatte selbst mehrere biographische Studien über Friederike Brion veröffentlicht und auch über die wenigen noch vorhandenen „Reliquien“ berichtet (siehe unten). Er lebte während seiner Straßburger Schul- und Studienzeit mehrere Jahre zeitgleich mit Georg Büchner bei Pastor Jaeglé in der Rue St. Guillaume [vgl. Reinhard Pabst: Wer war „Mr. Lucius“? In: Georg Büchner Jahrbuch, Bd. 8, 1990-94, S. 213-216, ebd. S. 214]., der leider schon 4 Wochen wegen Katarrh ans Zimmer gefesselt ist. Eine hohe Gestalt mit imponirendem ganz weissem Kopf stellte sich aus uns als unsern Mann vor. (Der von Dir gewünschten epischen Breite soll entsprochen werden.) Im Zimmer waren ferner seine ebenfalls die Tage der Rosen auf dem Rücken spürende Gemahlin nebst einem reizenden etwas ländlich scheuen Dienstmädchennicht ermittelt.. Ich bot natürlich meine grösste Höflichkeit & Gewandtheit auf, um mich gleich in der Bresche des conventionellen festzusetzen. Wir wurden freundlichst eingeladen Platz zu nehmen & nun erkundigte ich mich nach den geheiligten Reliquien, die der Fuß unseres Göthe betreten & dere/ss/en Augen sie getroffen. Gefühl muss man mitbringen an einen solchen Ort, denn die Gegenstände an & für sich bedeuten ja nichts, sondern beeinflussen nur das empfängliche Gemüth. |

Beinahe nichts ist geblieben als einige Bilder ein Brief Friederikens & die unveränderliche Erde. Die Erinnerung ist hier die Hauptsache. Das alte Pfarrhaus ist vertilgt von der Erdeum 1835/36 wurde das Pfarrhaus abgerissen und im Pfarrgarten ein Neubau errichtet [vgl. Philipp Ferdinand Lucius: Friederike Brion von Sessenheim. Geschichtliche Mittheilungen. Straßburg u. Stuttgart (2. Auflage) 1878, S. 131]., denn das Gefühl wird ja heutzutage verlacht & man horcht nicht mehr dennSchreibversehen, statt: den. Tönen der Vergangenheit, die unsere Seelen berrauschenSchreibversehen, statt: berauschen., nein nur denen des Geldes. Auf dem Boden des alten Pfarrgartens steht das neue Pfarrhaus & im 2ten Stock im Studirzimmer des Predigers an einer Wand hängen die oben erwähnten Bilder & Manuscripte. Ein Fremdenbuch liegt auf, wie überall wo etwas schönes oder merkwürdiges zu sehen & zu überwinden ist. Selbst Göthe konnte diesem Drang seinen Namen in der Höhe des Munsters einzugraben nicht widerstehen. Ist dies nicht ein Gefühl der Eitelkeit & ein Beweis dessen, daß der Gegenstand an & für sich selbst nicht genug fesselndes enthält, daß die Persönlichkeit nicht ganz zu verschwinden vermag. Ich bin der erste im Jahre 1884 & mein Kamerad RascheinPaul Raschein wurde am 17.10.1883 an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg für Jura immatrikuliert. Er wohnte Fischerstaden 16 [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 32]. ein g/G/raubündner der 2te. Nach freundlichem Abschied & noch kurzer Besichtigung der nächsten UmgebungNach älteren Schilderungen befanden sich dort die alten Gasthäuser „Zum Ochsen“ (Au Bœuf, 1832 neu errichtet, seit 1899 mit Goethe-Friederike-Museum, 1945 zerstört und neu errichtet), „Löwen“ (1806 abgerissen), „Anker“ (abgerissen, andernorts neu errichtet), das neu errichtete Pfarrhaus und die umgebaute Pfarrkirche. der Stelle wo das alte Pfarrhaus sich erhob kehrten wir in das Gasthaus zurück, bezahlten unsere sehr studentenhaft berechnete Zeche liessen satteln & fortgings | – du glaubst gewiss in sausendem Galopp. O nein. Die erste 1/4 stunde sassen wir oben wie wenn wir als 2 arme Sünder zur Richtbank geführt würden. Müde & matt, an allen Gliedern gequetscht. Doch es musste sein. Wir wählten den kürzern Rückweg 7 Stunden. Um 4 Uhr, ritten wir weg & nach langen scharfen Trabpartien, durch die lineal geraden Alleen des Elsass der Heimath zu. Um 8 Uhr waren wir im Stall nach 80 Km. Ritt. (hin & zurück) Eine schöne Reise wars, voll Abwechslung & solidem Hintergrund. Ein mit körperlicher Anstrengung verbundener geistiger Genuss. Das Vergnügen ohne diese genossen, bietet nicht den halben Reiz. Per aspera ad astraRedewendung; (lat.) Durch Mühsal (gelangt man) zu den Sternen.. & wenn die Gestirne nicht in der Höhe wären, wenn sie nicht durch Anstrengung zu erreichen wären, so würden wir sie auch nicht so hoch halten. Sie werden erst erwünscht durch ihre Entfernung. Mit allem ist es so auf dieser unter den Menschen, & das Wort ist nur zu wahr der Prophet gilt nichts in seinem VaterlandeRedewendung in Anlehnung an die Bibel [vgl. Markus 6,4; Matthäus 13,57]., oder so lange er lebt. Haben wir etwas schönes in unserer Nähe, wir wissen es nicht | zu schätzen. Die Schweizer nicht ihre Berge, die Strandbewohner nicht ihr Meer, die Stadt die einen grossen Mann beherbergt geht gleichgültig an ihm vorüber, die Strassburger bummeln an ihrem die Blicke zum Himel hinaufziehenden Münster vorbei wie an einem Eisenbahnwärterhäuschen oder besser gesagt an einem octroi(frz.) Zollhaus., an einer Zolleinnahmebude. Denn auf mich hatte sie auch diesen Eindruck gemacht als ich das Innere betrat, denn während vorn im Chor einige Männer im weissen & rothen Gewande sangen & laut sprachen ging einer herum & samelte ein. Eine verflucht verzweifelte Tingeltangelähnlichkeit. Wenn man diese Kirche geniessen will, so muss man allein hinein gehen, sich in eine Ecke stellen & ohne dieses priesterartige comödiantenwesen wird die Seele ergriffen, der Geist nach oben gelenkt. Keine Kirche hat einen Gott gehabt, sondern nur Götzen, denn die Menschen, die nicht einmal die Natur erkennen, wollen einen Gott fühlen & erkennen & nach diesem construiren. Wir können Gott nur aus der Natur erkennen denn dies ist der einzige Gedanke von ihm der vor uns liegt.

Viele herzliche Grüsse an alle die Deinen
vorzüglich aber an Dich. |
In alter Treue & Hingebung

Dein Oscar.


Wenn Du vielleicht so freundlich wärest & diesen Brief wegen der Sesenheimerbeschreibung meinen Eltern überbrächtestOskar Schiblers Eltern, Wilhelmine und (Stiefvater) Joseph Keller, wohnten in Aarau an der Kettenbrücke (Zollrain 179), keine 10 Minuten Fußweg von der Kantonsschule entfernt. so würdest du mich der Mühe überheben dieselbe 2mal zu schreiben; Denn nichts ist mir verhasster als dies, trotzdem sie verschieden würde, aber der erste Einfall trägt immer am meisten den Stempel der Wahrheit & das natürliche Gefühl an sich.

Ich werde ihnen bald schreiben, ich habs nöthigAnspielung auf das zur Neige gehende Studiengeld..

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 2 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht. Schreibwerkzeuge: Feder. Tinte.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind. Auf Seite 1 ist mit dünnem Bleistiftstrich die Jahreszahl im Datum („[1884]“) ergänzt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 20.1.1884 - 1.2.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

31.10.2023 18:21