Kennung: 4105

Lenzburg, 11. November 1882 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar

Inhalt

Schloss Lenzburg, 11 XI.82.


Lieber Freund,

Dein lieber Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.11.1882. war wiederum eine rechte Herzensstärkung für mich. Daß ich deren bedarf und sehr gut brauchen kann, mußt du wol eingesehen haben, sonst hättest du mir wol nicht all’ deine Leiden hergezählt. „Getheilter Schmerz ist halber Schmerzzweiter Teil der Redewendung: Geteilte Freude ist doppelte Freude, geteilter Schmerz ist halber Schmerz [in Anlehnung an Cicero, Laelius 6, 22].“ und der größte Trost | liegt wol darin, daß man nicht allein im Dreck sitzt, sondern seinen NachbarSchreibversehen, statt: Nachbarn. fragen kann „w/W/ie gehts immer“? – Aequam memento rebus in arduis servare mentem!Denke daran, in schwierigen Dingen Gleichmut zu bewahren! [Horaz, Oden II, 3 (Carmina), 1]. singt der göttliche Horat/z/, und es will mir scheinen, als hätte er durch diesen einen Satz all’ seiner Sünden an CloeHoraz besingt Chloe in dem Gedicht „Vitas inuelo me similis, Chloe,“ [Horaz, Oden I, 23]., Nebulone(lat.) Verschwender, Windbeutel – Horaz entwickelt den Typus in den ersten beiden Satiren als Gegensatz zum Geizigen mit der Empfehlung, den Mittelweg zwischen beiden Extremen zu suchen [vgl. Horaz, Sermones I,1,101-107 (104); I,2,7-22 (12)]., GalateaEs dürfte die Galatea in der Galatea- oder Europaode „Impios parrae recinentis“ gemeint sein [Horaz, Oden III (Carmina), 27]., Lalagevon Horaz besungene Frau [vgl. u. a. Horaz, Oden I, 22 u. Horaz, Oden II, 5]. und wie jene Kinder des Erosgriech. Mythologie: Gott der erotischen Liebe. alle heißen, abgebüßt. Aa/e/quam memet/n/to!(lat.) Denke daran! (siehe oben) Oskar, und laß deinen Kopf nicht hängen! Ein Blick in die Zukunft und einer nach Lenzburg soll dir ebenso tröse/t/lich sein, | wie mir die Hoffnung auf Freiheit und der Gedanke an meinen besten Freund; Denn also lautet unser Contract.

Ich gratulire! – Wozu? – Zu Deinem Vorsatz, Memoiren zu schreibenOskar Schibler hatte die Idee aufgebracht, über seine Affäre mit einer verheirateten Frau (E. v. B.) in Aarau eine Bekenntnisschrift zu verfassen [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.11.1882].. Bravo, Oskar, das ist ein Geistesblitz.

Laß’ Deine MaturitäIm Sommer 1883 erlangte Oskar Schibler , der die Abschlussklasse des Gymnasiums der Kantonsschule Solothurn besuchte, seine Matura.t Maturität sein! Sie läuft ja nicht weg und kommt immer noch früh genug. Schreib m/M/emoiren, was das Zeug hält! Stoff hast Du ja die Hülle und Fülle. Du meinst, ich wisse noch nicht, wie/a/rum Du h Aarau verlassen habest? –

Es ist wol möglich, daß ich die einzelnen Details nicht | so genau kenne, aber immerhin weiß ich ebensoviel davon, wie jedes Kind weiß in Aarau weiß. E.v.B.Über die Identität der verheirateten Frau, mit der Oskar Schibler in Aarau eine Affäre hatte, ist nichts ermittelt.Zürich, Einsiedeln – Der Herr Gemahl – Rückzug – DonnerwesserSchreibversehen, statt: Donnerwetter. – Pistolenduell – Schwiegervater – Das sind ja wol so die gröbsten Umrisse, und ich glaubte wahrhaftig nicht, daß ich die Herzensgeheimnisse meitnes Oskars im HolzachgartenDie um 1860 von dem Bierbrauer Dietrich Holzach gegründete Brauerei und Gastwirtschaft in der Bahnhofstraße (563-566) war eines der Aarauer Stammlokale der Kantonsschüler, das regelmäßig zu Verbindungs- und Klassenkneipen aufgesucht wurde. öffentlich verzapfen hören müßte.

Aber so geht es. Das geheimste Geheimniß wird gewöhnlich die zum öffentlichsten Gemeingut, sei es auch nur darum, weil es Geheimniß bleiben sollte und, – weil es ein Weib theilte. – |

Zieh also getrost Deinen Pegasusgriech. Mythologie: das geflügelte Pferd; hier: das Dichterross. aus dem Stall, gieb ihm statt Hafer attisches SalzRedensart für: scharfsinnig reden. zu fressen, und Du wirst bemerken, daß er ganz interessante Sprünge macht. Hör’ einmal, Oskar: Wie wär es, wenn wir beiden einigen Stoff in Ed edelen Poesien, philosophischen Aufsätzen, Räthseln e. ct. sammelten /(/Ich könnte vielleicht auch eine kleine Nouvelle oder Reisegeschichte zusammenschmieren) und auf nächsten Winter mit einem vorgesetzten Kalendarium in Form der früheren Almanache Die ersten Anthologien dieser Art in Deutschland waren der „Musenalmanach für das Jahr 1770(-1804)“ (Göttingen), veröffentlicht von Heinrich Christian Boie, sowie der „Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1770(-1781)“ (Leipzig), den Christian Heinrich Schmid (in Teilen als Plagiat des ersteren) verantwortete. Es folgten bald Musenalmanache in zahlreichen Städten des deutschen Sprachraums, als bedeutendster gilt der „Musen-Almanach für das Jahr 1796(-1800)“ (Neustrelitz), herausgegeben von Friedrich Schiller. Zu den Mitarbeitern zählten Goethe, Herder, Hölderlin, Mereau, Schlegel, Tieck, Reichardt.zu Schillers u. Göthes Zeit herausgäben? – |

Deine Memoiren aus Aarau würden ausgezeichnet in ein solches Werkchen passen. Du änderst Namen und Ort und kümmerst dich einen Teufel drum, ob man in Aarau den wirklichen Thatbestand merkSchreibversehen, statt: merkt., oder nicht. Wen’s juckt, der soll sich kratzen.Sprichwort. Die Sache ist doch s ei jetzt einmal öffentlich. Wenn wir unseren Freundschaftsbund z. B. mit dem interessanten, imposanten Titel „Der Osirisbundin Anlehnung an den Totengott Osiris, den Bruder und Gatten der Göttin Isis, (ägyptische Mythologie) und sinnverwandt zum Göttinger Hainbund, dem Freundschaftsbund der Mitarbeiter des Göttinger Musenalmanachs (siehe Anmerkung „Almanache“) in Anlehnung an den Hain als heiligen Wald und Symbol der Dichtkunst. – An den Osiriskult erinnert auch Mozarts Freimaureroper „Die Zauberflöte“.“ belegten, so dürfte der Almanach auf 1884Zu Wedekinds Vorarbeiten des nicht erschienenen Kalenders in seinem Heft "Memorabilia" vgl. KSA 1/I, S. 776. wohl den Titel führen: „Der Osiristempel, herausgegeben von den Osirispriestern, ein Almanach für die gebildete Welt. | Weniger interessant durch das classische dieses Titels, als vielt/m/ehr durch die Ähnlichkeit, die derselbe mit den Producten des vorigen, goldenen Jahrhunderts unserer Poesie, hat, würde er meiner a/A/nsicht nach die Blicke der Menge bald auf sich ziehen, besonders, wenn wir das Werk in einem respectabeln Verlag, à la Sauerländer in Aarau, suchten erscheinen zu lassen. Würde dieser Versuch ein Jahr gelingen, so könnten wir ihn fortsetzen, und so vielleicht für unser ganzes Leben ein interessantes, edeles Band zwischen uns, den Osirisbrüderndurch den Osirisbund in lebenslanger Freund- oder Bruderschaft verbunden., entstehen sehen.

Denke all’ diese Gedanken noch einmal durch, und schreibe mir die Deinigen darüber. | Schrick’ nur nicht zurück vor der Größe eines solchen Unternehmens! Die Ausführung wäre göttlich. Und hätten wir einmal den Stoff beisammen, so wollte ich die Correctur u. andere mit der Herausgabe zusammenhängende Unannehmlichkeiten, die an/m/ Ot Ort der BuchhandlungAarau, der Sitz der oben erwähnte Verlagsbuchhandlung H. R. Sauerländer. geschehen müssen, schon besorgen, da du dann wol wieder in der Ferne weilen würdest. Du beklagst Dich in Deinem Brief darüber, daß Du keine geistige AnregungAuf den Mangel weist Oskar Schibler in den Anfangszeilen seines Briefes hin [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 8.11.1882]. habest. Nimm diese Gedanken als eine solche. Wenn das Unternehmen einmal geglückt ist, so könnten wir vielleicht auch Carl Schmidt als den Dritten im Bunde in unseren Tempel ziehen. Er würde müßte den folgenden Jahrgang | nathürlich mit einigen naturhistorischen AufsätzenCarl Schmidt, der ehemalige Schulfreund Wedekinds und Oskar Schiblers studierte seit dem Wintersemester 1882/83 in Straßburg Geologie [vgl. Wedekinds Korrespondenz mit Carl Schmidt]. bereichern, in welchem Fach Du sowohl, wie ich wol nichts h/H/ervorragendes leisten würden – eine glänzende Perspective! Sieh, ich bin jetzt wieder frei, und de in den ersten Tagen, als ich aus der Industria entlassen warNachdem Wedekind seinen Abschied von der Schülerverbindung Industria Aarau beantragte [vgl. Wedekind an Industria Aarau, 30.10.1882], beschlossen die verbliebenen drei Aktiven in der 443. Sitzung am 4.11.1882, Wedekind „in Ehren“ zu entlassen [vgl. AIA, Protokollbuch Nr. 7, 1779-1883]., hä/a/tte ich das Gefühl, als sei mir ein das Bewußtsein eines Verbrechens vom Herzen gefallen. – So drückte mich das niederträchtige Vereinsleben. Jes Jetzt bin ich frei und kann mich ungehindert auf meine Lieblingsbeschäftigung werfen. Glaube mir, in solchem Schaffen würden wir beide Befriedigung finden und nicht mehr nach äußerlicher Freiheit lechzen, die ja am Ende doch | nie völlig erreicht werden kann. Eine gemeinsame Schöpfung würde uns, so fern weit wir auch ausvoneinander le entfernt lebten, in fortwährendem Verkehr halten und wie Mann und WeibBruderschaften, wie sie Wedekind wohl im Osirisbund vorschwebten, werden auch als Lebensbund (einer Ehe gleich) bezeichnet. an ein ander knüpfen. Da – Da kommt mir eben der Gedanke: Wie wär es, wenn wir gerade diesen Brief, natürlich, dazu bearbeitet, als Einleitung vor das Werk setzten, da er doch das Unternehmen begründet hat. Im ersten Jahrgang wer müßte natürlich alles und jedes anonym get stehen. Wir würden ägyptische Namen annehmen, um allen Vorurtheilen, die unserer „Schülerhaftigkeit“ hervorrufen würde, vorzubeugen. Nach günstigem Erfolg könnten | wir uns entschleiern. Trotzdem aber würde ein Brief wie dieser ganz dazu geeignet sein, den Leser zu interessi für das Folgende zu interessiren, da er so nicht nur das g neugeborene Kind, sondern sogar die dazu nöthige Befruchtung sehen würde. – Halt! –

Lieber Oskar, ich weiß nicht, ob ich mich noch auf dem Boden der Vernunft, oder schon im Reiche der Träume befinde. Ich will warten wie dieser Brief morgen früh aussieht. Du sagtest mir einmal, man habe AbensSchreibversehen, statt: Abends. und Morgens so verschiedene Augen. Hoffentlich ist es wird es mir ebenso wahr und warm bei einer wiederholten Überlegung vorkommen, denn dann wäre ich sicher, daß er auch bei Dir gute Aufnahme fände.|

So leb’ denn jetzt wol und schreibe mir j recht, recht bald. Meine bange Erwartung kannst Du Dir vorstellen.

Schreibe auch ein wenig weitläufig, damit ich weiß woran ich bin. Ade!

In alter Treue
Dein Freund
Franklin


P. S.(lat.) nach dem Geschriebenen; Ergänzung.


Bewahr’ diesen Brief jedenfalls auf!/,/ und halte diese meine Bitte nicht für Selbstüberhebung!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 6 Blatt, davon 12 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 3 Doppelblätter. Seitenmaß 11 x 18 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Doppelblätter sind von Wedekind in Tinte mit den römischen Zahlen „I“, „II“, „III“ durchnummeriert. Die Briefseiten sind von fremder Hand in Bleistift mit arabischen Zahlen versehen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Lenzburg
    11. November 1882 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Solothurn
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
S. 322-324
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

03.03.2023 10:08