Kennung: 3188

Straßburg, 24. April 1883 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Huber, Hermann

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Strassburg, den 26/4/ten April 1883.


Mein Freund!

Mein Herz ist voll, ich muss es ausschütten, Wem gegenüber soll ich entleeren als Dir lieber Franklin? Wenn es mich auch schmerzlich berührt von Dir noch keine NachrichtWedekind hatte dem Schulfreund, der am 16.4.zum Studium nach Straßburg gezogen war, auf die vorangegangenen drei Korrespondenzstücke vom 15., 16. und 19.4.1882 nicht geantwortet. empfangen zu haben – ich kann nicht mehr warten, ich muss meinem Freunde mein Herz öffnen. –

Als mein Sinn noch nüchtern war, nicht so aufgeregt wie jetzt, dachte ich Dir aus meinem Tagebuch die Notizen abzuschreiben, aber ich kann es nicht, ein ander Mal, Du sollst Alles wissen und wie viel gienge verloren vom Kopf durch den Arm, die Hand, die Feder, das Tagebuch bis zurück wiederum zum Postpapier!

Endlich hat mir Cytherens Arm gewunkenLiebe und Lust; Cythere ist eine andere Bezeichnung für die Liebesgöttin Aphrodite, die nach der griechischen Mythologie auf Zypern (Cythera) aus Meerschaum entstanden sein soll.. Am Morgen um 11 Uhr bummle ich durch die Stadt, da ruft mir ein schönes, blutjunges Mädchen: Mein Herr, wollen Sie nicht eintreten? Ich trete ein. Und fürwahr! welch’ eine Gestalt, nicht anders habe ich mir die Medicäische Venusantike Statue einer Venus pudica (schamhaften Liebesgöttin) in der Villa Medici in Rom nach dem Vorbild der Aphrodite von Knidos. vorgestellt. Am ganzen Körper die Wellenlinien | zum oval-runden Ganzen zusammen fliessend und verschlungen – ein schöneres Kunstwerk der Natur wäre meine Phantasie hervorzuzaubern nicht im Stande gewesen. Sie lächelstSchreibversehen, statt: lächelt., sie neigt sich zu mir nieder, der auf dem kanapee sitzend diese Gottheit anstaunt, sie bittet, sie fleht mich an, sie eine Röthe ergiesst sich über ihre Wangen, sie tritt zurück, sie wendet sich ab, scheint zu schmollen, wieder wendet sie sich gegen mich, die über die Hüfte herabwallenden goldgelben Locken umspielen den Körper, sie bittet f/b/lickt mich bittend an – ich betrachte ihre diese Schönheit, wie sie sich bewegt und was ruft diese Bewegung in mir hervor – Reiz? – – nein, lieber Franklin, Eckel ergriff mich, Schauder durchfloss meine Glieder! Ich bezahle ihr Etwas und nehme Abschied!


– – – – – –


Schon seh’ ich Deine Augenbrauen sich zusammenziehen und hör Dich rufen: | Ein gefühlloser Mensch! Nein, nenne mich nicht so, gerade weil ich Gefühl hatte, schauderte es mich; ich war eben nicht trunken, ich konnte noch denken. Meine Gedanken vereinigten sich mit dem Gefühle: Eckel, dass dieses junge Blut in dieser dem, in einer andern jenem Manne wolllüstigen Genuss bereiten soll, Erbarmen aber auch, dass ein solches Mädchen auf solche Art ihr Dasein zu fristen genöthigt ist. Ich war ganz nüchtern, Herr meiner Gedanken, wäre ich trunken gewesen, wäre Das Dämmerlicht in’s Zimmer gefallen und hätte die Umrisse verschwimmen lassen, so hätte ich nicht mehr gefühlt, ich würde mich ohne Zweifel der bacchantischstenrauschhaftesten, zügellosesten, verzücktesten. Lust hingegeben und mich wonniglich gefreut haben, von solchen Armen umschlungen zu sein und an einem solchen Busen zu doesen. – Wohl mir, dass dem nicht so gewesen, dass mein Geist | nicht verblendet und umnebelt war. Diese Stunde ist von grossem Einfluss für mich gewesen; denn ich habe mir gelobt, nie mehr ein Haus, dass zum allgemeinen Gebrauch geöffnet ist zu betreten, und was mehr ist, die Ehe ist in meinen Augen viel schätzenswerther geworden; die Ehe, die ich früher für eine staatlich autorisirte Buhlerei hielt – nun nicht mehr – ein Band ist es, was den Ehebund heiligt – die Liebe. – Doch darüber später. Lieber Franklin! Ich beabsichtigte durch diese Zeilen nicht, Dich vorSchreibversehen, statt: von. einem ähnlichen Zusammentreffen abzuhalten, thue es, es wird Dich nie reuen, Du kannst Dir Lehren für Dein ganzes Leben schöpfen, wenn Du Dir aufrichtig sein, willst, wirst Du mit mir übereinstimmen.


– – – – – –


Ein anderes Abenteuer, habe ebenfalls gehabt mit einem Vereine, |


5)

der GermaniaGermania Straßburg, am 30.6.1880 gegründete Burschenschaft mit dem Wahlspruch „Ehre, Freiheit, Vaterland!“ – im Sommersemester 1883 die einzige Straßburger Studentenverbindung [Handbuch für den deutschen Burschenschaftler. Berlin 1892, S. 163, vgl. auch S. 162]., dem einer sehr feinen und angenehmen Gesellschaft, der ich unbedingt beigetreten wäre, wenn ich Geld und Zeit genug gehabt hätte. Lege Dir den Briefvgl. die Beilage., den ich an Sie mit einigen stilistischen Aenderungen bei, üebergieb ihn meinem BruderHermann Hubers ältester Bruder August arbeitete bis zu seinem Tod als Rechtsanwalt in Lenzburg, wie aus der Presse zu erfahren ist: „In Königsfelden verstarb am 18. Aug. nach längerm Leiden, noch nicht dreißig Jahre alt, Dr. jur· August Huber, gewesener Fürsprecher in Lenzburg.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 235, Erstes Blatt, 22.8.1884, S. (3)], er soll ihn nach Hausean die Eltern nach Besenbüren. schicken, da sie eine jämmerliche Furcht haben, ich könnte irgendwo beispringen.

Ueber das interessante Gespräch, das ich mit I/i/hnen geführt in nächsten Briefvgl. den ausführlichen Bericht in Hermann Huber an Wedekind, 28.4.1883. mehr, wenn Du mir nähmlich die Ehre geben wirst, einige Zeilen zu schreibenvgl. das nicht überlieferte Korrespondenzstück: Wedekind an Hermann Huber, 27.4.1883..

Leb’ wohl mein Freund
vergiss mein nicht
Dein
Hermann Huber stud


[Beilage:]


Hochgeehrter Herrvermutlich Oscar Wolf aus Weissenburg im Elsaß (immatrikuliert 2.11.1881 für Jura) oder Karl Wolf aus Mülhausen (immatrikuliert 19.10.1881 für Jura).!

Entschuldigen Sie daß ich mir die Freiheit nehme, an Sie einige Zeilen zu richten, ich beabsichtigte, Sie zu besuchen, traf Sie aber nicht zu Hause, deßwegen ziehe ich vor, Ihnen brieflich das ausdrücken, was ich Ihnen zu sagen gesinnt war.

Auf meinem vierstündigen Morgenbummel nach Offenburg habe ich mir noch einmal überlegt, ob ich in die Burschenschaft: Germania eintreten wolle oder nicht. Ich habe alle Gründe dafür und dagegen in Erwägung gezogen und schließlich haben die Gegengründe die Schale sinken gemacht, bin ich bin nun entschlossen nicht beizutreten.

Fürwahr, Sie kenne ich gestehe es Ihnen offen, verhehle es Ihnen nicht – die Gründe für den Eintritt waren viele. Ich will nicht sprechen von den wahrhaft guten Tendenzen die welche die Burschen verfolgt, nicht von der Ehre u dem Ansehen, die mir durch den Eintritt in Ihrer Bruderschaft, zu Theil würden – die angenehme und in der That freundliche | Art, mit der Sie mich überall einzuführen die Güte hatten, wäre für mich entscheidend gewesen, wenn nicht die Gegengründe als zuSchreibversehen, statt: all zu. triftig gewesen wären.

Dem Verbande hätte ich weder durch meine Persönlichkeit noch durch den angesehenen Namen meineSchreibversehen, statt: meiner. Eltern Ehre machen können, – und und den Verein würdig representiren zu können, das erachte ich durchaus als eine Nothwendigkeit. Ich hätte es auch nicht gekonnt aus finanziellen Gründen; denn meine Eltern, wenn sie nicht gerade arm zu nennen sind, haben durch das Studirenlassen dreier SöhneGemeint haben dürfte Hermann Huber sich selbst sowie seine beiden älteren Brüder August, der Jura studiert hatte und Fürsprech (Anwalt) in Lenzburg war, sowie Artur, über dessen Ausbildung nichts ermittelt ist. Der jüngste Bruder Friedrich Huber war gerade 13 Jahre alt geworden. so viele Ausgaben, daß ich sie unmöglich um mehr belasten kann, als durchaus nothwendig ist. Sie sehen also, daß ich auf jeden Fall Jemanden zur Last fallen müßte – den Eltern, das giebt mir mein Gewissen nicht zu, – der Burschenschaft, das erlaubt mir mein Ehrgefühlt nicht. Den Verlust empfinde ich wohl, Schließlich aber bekanntlich muß man sich nach der Deecke strecken. |

Schließlich bitte ich Sie, mir meine Freiheit, an Sie zu schreiben, zu vergeben, zugleich Ihren werthen Herren Commilitonen meinen besten Dank für das freundl.Entgegenkommen darzubringen & mir auch nun nicht zu zürnen, sondern auch fürderhin Ihre verdankenswerthe liebe Zuneigung zu bewahren. Ihnen, Herr Wolf, meinen großen Dank für Ihre Offenheit und ich glaube, daß Sie aus diesem Briefe ersehen, daß ich offen und wahr Ihnen gegenüber bin. Dies möge zugleich an eine Entschuldigung für d. Brief sein.

Mit colleg. Gruße
Ihr
Hermann Huber stud

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. 1 Doppelblatt. 4 Seiten beschrieben. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. 1 Einzelblatt. 1 Seite beschrieben. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Beilage: Kariertes Papier. 1 Blatt. 2 Seiten beschrieben. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Papier. 1 Blattfragment. 1 Seite beschrieben. Seitenmaß 13,5-16,5 x 15 cm. Alle Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das zweite Beilagenblatt ist beschädigt. Das Papier ist am rechten und unteren Rand aus- und abgerissen. Es besteht Textverlust. Auf der Rückseite befindet sich von Hermann Hubers Hand ein Teil des französischen Briefentwurfs, der sechsmal der Länge nach durchgestrichen ist.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Straßburg
    24. April 1883 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Straßburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 75
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hermann Huber an Frank Wedekind, 24.4.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

03.10.2022 16:50