Kennung: 2519

Wien, 21. Dezember 1909 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Werkmann, Karl
  • Die Zeit, (Zeitung)

Inhalt

[1. Briefentwurf:]


Sehr geehrter HerrDer Journalist Karl Werkmann war seinerzeit Chefredakteur der Wiener Tageszeitung „Die Zeit“ – belegt in der Ausgabe, in der Wedekinds Beitrag zur Umfrage „Die Rolle des Zufalls im Leben“ erschien: „Verantwortlicher Redakteur: Karl Werkmann.“ [Die Zeit, Jg. 9, Nr. 2612, 1.1.1910, Morgenblatt, S. 37]!

Wer will es unternehmen Ihre FrageIn der redaktionellen Einleitung zum ersten Teil der Umfrage heißt es: „Das sind also zwei Weltanschauungen: Zufall ‒ Notwendigkeit. Es war interessant, zu untersuchen, wie ihre Bekenner im modernen Leben verteilt sind. Das war der Zweck unserer diesmaligen Rundfrage. Die hervorragendsten Persönlichkeiten aus allen Gesellschaftsklassen und Berufen, durchaus repräsentative Vertreter der lebenden Generationen, haben sich an ihr beteiligt. Wir haben sie gebeten, auch interessante, merkwürdige Schicksalsfügungen eigener Erfahrung zu erzählen. Viele derjenigen, die dem Zufall eine große Rolle zuschreiben, haben dies getan. Die Zahl der eingelaufenen Antworten ist so groß, daß wir leider nicht alle auf einmal veröffentlichen können.“ [Die Rolle des Zufalls im Leben. Eine Rundfrage. In: Die Zeit, Jg. 8, Nr. 2606, 25.12.1909, Morgenblatt, S. 5-6, hier S. 5] Wedekinds Beitrag erschien im zweiten Teil [vgl. Die Rolle des Zufalls im Leben. Eine Rundfrage. In: Die Zeit, Jg. 9, Nr. 2612, 1.1.1910, Morgenblatt, S. 4-5, hier S. 5]. auch noch so oberflächlich in wenigen Sätzen zu beantworten. Der unerklärlichste Zufall war mir von jeher das Bestehen alles Bestehenden. Wo läßt sich dafür eine Spur innerer Schimmer von Notwendigkeit entdecken? Vielleicht in unserer Lebensfreude, die durch Sintfluten von Unglück und Jammer erkauft wird? | Sollte meine Beantwortung zu lang ausgefallen sein, dann würde ich Sie bitten nur diesen letzten Absatz zu veröffentlichen.
Mit ergebensten Grüßen
Ihr FW.


[2. Entwurf der Beilage:]


Zufall

Jeder Zufall, sei er glücklich oder unglücklich bietet den einen Vortheil daß er sich zur Reklame ausnützen läßt. Zu solchen diesen Zufällen gehört ja wohl auch Ihre Rundfrage. In schlimmeren Fällen ist dieser Vortheil aber doch oftumgestellt, zuerst: oft doch. nur ein sehr kümmerlicher Trost Ersatz. |

Mit der Bewältigung des Zufalls befaßt sich meiner Ansicht

Ob der Zufall eine besondere Rolle in meinem Leben gespielt hat? – Ich will rechne das organische Entstehen gar natürlich nicht einmal zu den Zufällen rechnen. Vor allem aber rechne ich dazu die Verknüpfung meines Ichbewußtseins mit dem Lebewesen, das damals entstand. Ich fragte mich schon als Kind unaufhörlich, warum ich ich bin, warum ich nicht jemand anders bin, warum nicht jemand anders Frank Wedekind ich ist ist und oder warum ich mein Ichbewußtsein nicht trotz der stattgefundenen Geburt schlechthin einfach ausgeblieben bin/ist/. Denn so wahr | wie sich ein bestimmtes Ichbewußtsein noch niemals wiederholt hat sondern immer ein für allemal verschwindet, so gut sicher läßt sich doch auch der Zufall setzen denken daß es dieses Ichbewußtsein niemals entsteht.

Mit der geistigen Bewältigung des Zufalls befaßt sich meines/r/ Er Ansicht nach nicht nur die Religion sondern vor allem auch die Kunst, obwohl das sicherlich nicht ihre Hauptaufgabe ist nur einen kleinen Theil ihres Wesens ausmacht. Deshalb aber kann ein Zufall wol der Stoff, niemals aber ein Bestandtheil Vorzug eines Kunstwerks sein.


[3. Druck der Beilage in „Die Zeit“:]


Frank Wedekind (München).

Der unerklärliche Zufall war mir von jeher das Bestehen alles Bestehenden. Wo läßt sich dafür ein Schimmer von Notwendigkeit entdecken? Vielleicht in unserem alltäglichen Wohlbehagen, das durch Sintfluten von Unglück und Jammer erkauft wird?

Ob der Zufall eine Rolle in meinem Leben gespielt hat? – Ich rechne das organische Entstehen natürlich nicht zu den Zufällen. Vor allem aber rechne ich dazu die Verknüpfung meines Ichbewußtseins mit dem Lebewesen, das entstand. Ich fragte mich schon als Kind unaufhörlich, warum ich ich bin, warum ich nicht jemand anders bin, warum nicht jemand anders ich ist, oder warum mein Ichbewußtsein nicht einfach ausgeblieben ist. Denn so wahr wie sich ein bestimmtes Ichbewußtsein noch niemals wiederholt hat, sondern immer ein für allemal verschwindet, so sicher läßt sich doch auch der Zufall setzen, daß dieses Ichbewußtsein niemals entstand.

Die Kunst hat es mit der Religion gemein, daß sie sich mit der geistigen Bewältigung des Zufalls befaßt, obwohl das sicherlich nur den kleinsten Teil ihres Wesens ausmacht. Deshalb kann ein Zufall wohl der Stoff eines Kunstwerkes sein, wird aber niemals zu seinen Vorzügen gehören.

Jeder Zufall, sei er glücklich oder unglücklich, bietet den einen Vorteil, daß er sich zur Reklame ausnützen läßt. Zu diesen Zufällen darf ich wohl auch Ihre Rundfrage rechnen. Bei schlimmeren Zufällen ist dieser Vorteil aber doch wohl nur ein sehr kümmerlicher Ersatz.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchblätter. 10,5 x 17 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf mit dem Entwurf einer Beilage ist im Notizbuch überliefert [Nb 9, Blatt 35r, 34v, 34r]. Der Briefentwurf beginnt unter dem mit einer Überschrift versehenen ersten Absatz des Entwurfs der Beilage [Nb 9, Blatt 35r] und ist auf der links gegenüberliegenden Seite fortgesetzt [Nb 9, Blatt 34v], auf der im Anschluss an den Briefentwurf die weitere Niederschrift des Entwurfs der Beilage ansetzt [Nb 9, Blatt 34v, 34r]. Im Entwurf der Beilage sind zwei Streichungen mit den dazu gehörenden Einfügungen mit Tinte ausgeführt.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 21.12.1909 ist als Ankerdatum gesetzt. Der Briefentwurf mit Beilage „dürfte [...] im Dezember 1909 entstanden sein.“ [KSA 5/III, S. 262] Wedekind war seit dem 6.12.1909 zu einem Gastspiel in Wien, über das „Die Zeit“ (Wien) seit dem 7.12.1909 kontinuierlich und wohlwollend berichtete – „Der Dichter ist seit einer Woche bereits in Wien“ [Die Zeit, Jg. 8, Nr. 2595, 14.12.1909, Morgenblatt, S. 3] – und Wedekind hat am 21.12.1909 möglicherweise die Redaktion (Chefredakteur war Karl Werkmann) persönlich aufgesucht: „Nachmittags Besuche auf den Redaktionen“ [Tb]. Er könnte bei einem solchen Besuch um einen Beitrag zu der Umfrage gebeten worden sein (der erste Teil wurde am 25.12.1909 publiziert, der zweite Teil mit Wedekinds Beitrag am 1.1.1910), den Beitrag mit Entwurf des Begleitschreibens noch am 21.12.1909 konzipiert und auf der Grundlage des Briefentwurfs den dann abgesandten Brief mit der Reinschrift der Beilage formuliert haben, der zwar nicht überliefert, seine Existenz aber durch den Druck der Beilage am 1.1.1910 in der Wiener Tageszeitung „Die Zeit“ mittelbar belegt ist. Am 22.12.1909 reiste Wedekind mit dem Nachtzug im Schlafwagen zurück nach München, wo er am 23.12.1909 eintraf und wieder mit anderen Dingen befasst war.

  • Schreibort

    Wien
    21. Dezember 1909 (Dienstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Wien
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Wien
    Datum unbekannt

Erstdruck

Werke. Kritische Studienausgabe. Band 5/III. Kommentar zu den Vermischten Schriften

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon unter Mitarbeit von Felix Berthold
Verlag:
Darmstadt: Häusser.media
Jahrgang:
2013
Seitenangabe:
263
Kommentar:
Adressat des Briefentwurfs im Erstdruck (ohne Grußformel und Unterschrift): „An Unbekannt“ [KSA 5/III, S. 263]. Der Entwurf der Beilage wurde unter dem Titel „Zufall“ [KSA 5/II, S. 354f.] ediert [zur Textkonstitution vgl. KSA 5/III, S. 262f.]. Der Erstdruck der Beilage erschien als Beitrag Wedekinds im zweiten Teil der Umfrage „Die Rolle des Zufalls im Leben“ der Wiener Tageszeitung „Die Zeit“ (Chefredakteur: Karl Werkmann) [vgl. Die Rolle des Zufalls im Leben. Eine Rundfrage. In: Die Zeit, Jg. 9, Nr. 2612, 1.1.1910, Morgenblatt, S. 5]. Er wurde unter dem Titel „Die Rolle des Zufalls im Leben“ [KSA 5/II, S. 355] nachgedruckt.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/9
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Karl Werkmann, (Zeitung) Die Zeit, 21.12.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

23.04.2024 12:57