[1. Briefentwurf:]
Sehr geehrter HerrDer Journalist Karl Werkmann war seinerzeit Chefredakteur der Wiener Tageszeitung „Die Zeit“ – belegt in der Ausgabe, in der Wedekinds Beitrag zur Umfrage „Die Rolle des Zufalls im Leben“ erschien: „Verantwortlicher Redakteur: Karl Werkmann.“ [Die Zeit, Jg. 9, Nr. 2612, 1.1.1910, Morgenblatt, S. 37]!
Wer will es unternehmen Ihre FrageIn der redaktionellen Einleitung zum ersten Teil der Umfrage heißt es: „Das sind also zwei Weltanschauungen: Zufall ‒ Notwendigkeit. Es war interessant, zu untersuchen, wie ihre Bekenner im modernen Leben verteilt sind. Das war der Zweck unserer diesmaligen Rundfrage. Die hervorragendsten Persönlichkeiten aus allen Gesellschaftsklassen und Berufen, durchaus repräsentative Vertreter der lebenden Generationen, haben sich an ihr beteiligt. Wir haben sie gebeten, auch interessante, merkwürdige Schicksalsfügungen eigener Erfahrung zu erzählen. Viele derjenigen, die dem Zufall eine große Rolle zuschreiben, haben dies getan. Die Zahl der eingelaufenen Antworten ist so groß, daß wir leider nicht alle auf einmal veröffentlichen können.“ [Die Rolle des Zufalls im Leben. Eine Rundfrage. In: Die Zeit, Jg. 8, Nr. 2606, 25.12.1909, Morgenblatt, S. 5-6, hier S. 5] Wedekinds Beitrag erschien im zweiten Teil [vgl. Die Rolle des Zufalls im Leben. Eine Rundfrage. In: Die Zeit, Jg. 9, Nr. 2612, 1.1.1910, Morgenblatt, S. 4-5, hier S. 5]. auch noch so
oberflächlich in wenigen Sätzen zu beantworten. Der unerklärlichste Zufall war
mir von jeher das Bestehen alles Bestehenden. Wo läßt sich dafür eine Spur
innerer Schimmer von Notwendigkeit entdecken? Vielleicht in unserer Lebensfreude, die
durch Sintfluten von Unglück und Jammer erkauft wird? | Sollte meine
Beantwortung zu lang ausgefallen sein, dann würde ich Sie bitten nur diesen
letzten Absatz zu veröffentlichen.
Mit ergebensten
Grüßen
Ihr FW.
[2. Entwurf der
Beilage:]
Zufall
Jeder Zufall, sei er glücklich oder unglücklich bietet den
einen Vortheil daß er sich zur Reklame ausnützen
läßt. Zu solchen diesen Zufällen gehört ja wohl
auch Ihre Rundfrage. In schlimmeren Fällen ist dieser Vortheil aber doch oftumgestellt, zuerst: oft doch.
nur ein sehr kümmerlicher Trost Ersatz.
|
Mit der Bewältigung des Zufalls befaßt sich meiner
Ansicht
Ob der Zufall eine besondere Rolle in meinem Leben
gespielt hat? – Ich will rechne das organische Entstehen gar natürlich
nicht einmal zu den Zufällen rechnen. Vor allem aber rechne ich dazu die Verknüpfung meines Ichbewußtseins
mit dem Lebewesen, das damals entstand. Ich fragte mich schon als Kind
unaufhörlich, warum ich ich bin, warum ich nicht jemand anders bin, warum nicht
jemand anders Frank Wedekind ich ist ist und oder warum ich mein Ichbewußtsein nicht trotz der
stattgefundenen Geburt
schlechthin einfach ausgeblieben bin/ist/.
Denn so wahr | wie sich ein bestimmtes
Ichbewußtsein noch niemals wiederholt hat sondern immer ein für allemal verschwindet, so gut sicher läßt sich doch auch der
Zufall setzen denken daß es dieses Ichbewußtsein niemals entsteht.
Mit der geistigen Bewältigung des Zufalls befaßt sich meines/r/
Er Ansicht nach nicht nur die Religion sondern vor allem auch die
Kunst, obwohl das sicherlich nicht ihre Hauptaufgabe ist nur einen kleinen Theil
ihres Wesens ausmacht.
Deshalb aber kann ein Zufall wol der Stoff, niemals aber ein Bestandtheil Vorzug eines Kunstwerks sein.
[3. Druck der Beilage
in „Die Zeit“:]
Frank Wedekind (München).
Der unerklärliche Zufall war mir von jeher das Bestehen
alles Bestehenden. Wo läßt sich dafür ein Schimmer von Notwendigkeit entdecken?
Vielleicht in unserem alltäglichen Wohlbehagen, das durch Sintfluten von
Unglück und Jammer erkauft wird?
Ob der Zufall eine Rolle in meinem Leben gespielt hat? – Ich
rechne das organische Entstehen natürlich nicht zu den Zufällen. Vor allem aber
rechne ich dazu die Verknüpfung meines Ichbewußtseins mit dem Lebewesen, das
entstand. Ich fragte mich schon als Kind unaufhörlich, warum ich ich bin, warum
ich nicht jemand anders bin, warum nicht jemand anders ich ist, oder warum mein
Ichbewußtsein nicht einfach ausgeblieben ist. Denn so wahr wie sich ein
bestimmtes Ichbewußtsein noch niemals wiederholt hat, sondern immer ein für allemal
verschwindet, so sicher läßt sich doch auch der Zufall setzen, daß dieses
Ichbewußtsein niemals entstand.
Die Kunst hat es mit der Religion gemein, daß sie sich mit
der geistigen Bewältigung des Zufalls befaßt, obwohl das sicherlich nur den
kleinsten Teil ihres Wesens ausmacht. Deshalb kann ein Zufall wohl der Stoff
eines Kunstwerkes sein, wird aber niemals zu seinen Vorzügen gehören.
Jeder Zufall, sei er glücklich oder unglücklich, bietet den
einen Vorteil, daß er sich zur Reklame ausnützen läßt. Zu diesen Zufällen darf
ich wohl auch Ihre Rundfrage rechnen. Bei schlimmeren Zufällen ist dieser
Vorteil aber doch wohl nur ein sehr kümmerlicher Ersatz.