Lausanne e.ct. 84
Liebe Mina,
Herzlichen Dank für Deinen lieben
langen BriefMinna von Greyerz' Brief vom 2./3.7.1884. und für die gütige Verzeihung meiner Sünden. Herzlichen Dank für die große Nachsicht, mit der du deinen nachlässigen Vetter in allen Angelegenheiten behandelst und alle Götter mögen dich belohnen für
das schöne GedichtDas Gedicht von Blanche Zweifel-Gaudard, mit der Minna von Greyerz befreundet war, fügte Minna in ihren Brief vom 2./3.7.1884 an Franklin ein. von
Bla Frau
Zweifel, das ich mit der Andacht eines betenden Muselmanns gelesen habe.
Und soeben erhalte ich noch sogar Deine liebe Geburtstagskarte, die mich erst darauf aufmerksam macht, daß ja heute mein Geburtstag ist. | In allem Ernste, ich hätt es um ein Haar vergessen und auch
WilliWilli (William) Lincoln Wedekind (1866-1935), Franklins jüngerer Bruder, besuchte 1884 das Lausanner Polytechnikum. gratulirte mir erst als er mir um Mittag deine Carte brachte.
Es sind ganz famose
KnittelMinna von Greyerz' in Knittelversen geschriebener Brief vom 23.7.1884. Ein Knittelvers ist ein in Lyrik, Epik und Dramatik angewandtes Versmaß, ein Reimpaarvers, in der Regel drei- oder vierhebig (Betonung); im Übrigen das wichtigste Versmaß der frühneuhochdeutschen Dichtung., das erste Kind Deiner Muse, da
ßs ich seit Anbeginn meines Exils erhalte. – Ich wollte dir eben darum schreiben, mir doch einmal einige Klänge aus deiner straffbesaiteten Laute zukommen zu lassen. Und nun erhalt ich ganz unversehens diese ergötzliche Beschreibung des lenzburger Jugendfestes. Meinen
herzlichsten Dank auch hierfür. –
D
ier sehr bezeichnende Ausdruck „Drehpeter" war mir ganz neu, aber ich merkte bald was damit gemeint war. Nur darfst du meiner | Jungfer Muse keine Drehpeterei vorwerfen. Dagegen muß ich energisch prostestiren, denn ich bin ihr Ritter und sie meine minniglich verehrte Dame, die ich beschützen werde und auf die ich keinen Schatten fallen lassen darf.
Hö
hre nun, liebe Minna, meine Auseinandersetzung und du wirst gewiß zugestehen, daß ich recht habe, ohne beizufügen, daß ich im Geheimen dir wol doch hätte beistimmen müssen.
Vielseitigkeit und Wetterwendigkeit oder, nach deiner Bezeichnung „Drehpeterei" ist ein großer Unterschied. Und was den Naturgenuß anbelangt, so steh ich jetzt noch immer auf gleicher Stufe wie früher. Du schreibst „Besonders wenn man ..... Probleme | höherer Art lösen will, so eignet sich zu solcher Betrachtung doch keine Umgebung besser als die freie Natur, dieses Eldorado der Vollkommenheit." Was die Vollkommenheit anbelangt, so wirst du in
Tante Plümachers BuchGemeint ist Olga Plümachers neueste Veröffentlichung "Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart" (1884). an verschiedenen Stellen genügend Belehrung darüber finden. Ich sage dir aber, die Betrachtung meines kleinen Fingers oder einer gewöhnlichen Stubenfliege eignet sich ebenso
gut Eingefügt am linken Seitenrand von der Hand Minna von Greyerz'.dazu wie die freie Natur mit all' ihren Sternenzelten, Sonnen Monden Blumenteppichen, Wohlgerüchen
e.ct. In meinem kleinen Finger oder in einer Stubenfliege liegen ebenso viel ungelöste Räthsel wie in der ganzen Herrlichkeit des Weltalls verborgen und wenn ich den gestirnten Himmel anschaue, so ist er mir |
II.Rechts oben am Kopf der Seite von der Hand Wedekinds eingetragen. eben ein gestirnter Himmel und bringt mich in meinen Forschungen um keinen Schritt weiter. Und den Gottesglauben, der sich auf solche Effektstücke stützt, halte ich für recht oberflächlich und unvollkommen. Mich läßt in dieser Beziehung der Himmel kalt und ich müßte mich recht irren wenn es nicht letzten Winter
E eben bei solch einer Gelegenheit gewesen wäre, wo ich dir das Geständniß dieses Wärmemangels beim
Hinte Hinuntergehen am Abend machte. ———— Dieser Art von Einfluß ist es also gewiß nicht, den ich in der freien Natur suche, es ist eine ganz anderere. Es ist nur die Stimmung, die verschiedenen Nüancen
zwil von und zwischen Dur und Moll die sich sicher | nur in Landschaftsbildern so wirksam so mittheilsam finden. Wenn ich also in die schöne Natur hinausgehe so betracht ich erst in zweiter Linie diese Natur selbst und die Stimmung, die sich
dabei mir aufdrängt, ist nicht selten sehr verschieden von der, in der ich unter dem Einfluß meiner schönen Umgebung über anderes Nachsinne. Und da
ßs ist eben die Hauptsache, das ist es was ich genieße und weßwegen ich die Enge und Stimmungslosigkeit des Zimmers fliehe
,. Aber ich werde solchen Stimmungen nie gestatten auch nur den geringsten Einfluß auf meine ernsteren Betrachtungen zu erringen. – Wenn dir nun diese lange Abhandlung nicht munden, so gieb nicht mir die Schuld. Ich hab' nur gegenüber meiner Dame Ritterpflicht | erfüllt und hoffe dafür, daß mir meine Muse auch bald wieder einen Begeisterung erfüllten Hymnus anstimmt. ———— Frau Zweifels Poesie hat mir außerordentlich gefallen. Zwar glaube ich nicht recht daran, an die weltschmerzliche Stimmung, die ihren Hintergrund bildet. Dazu ist Frau Zweifel selber ein viel zu harmonisches Wesen; sie paßt so wenig zum Weltschmerz wie Jupiter zum Christenthum. Aber das
schließt"schließ", Flüchtigkeitsfehler von Wedekind. doch alles nicht aus, daß sie trotzdem nicht dann und wann weltschmerzlich gestimmt sein könnte. Hoffentlich möge das neuerstandene Freundschaftsbündniß grünen und gedeihen in alle Ewigkeit. Möge kein neidisches Geschick mit schwarzer Hand den | schönen Knoten der Liebe lösen, möge die herrliche Blume
, noch herrlichere Früchte tragen und noch nach Jahr und Tag, wenn rauhe Stürme der Prüfung vorüber gesaust, wenn die Flamme der Leidenschaft schadlos daran emporgeleckt, wenn die alles zerstörende Zeit sich die harte Stirne eingerannt an dem felsenfesten Tempelbau eures hehren
Herzen Glaubens, möge dann unsterblicher Lorbeer die unerschütterliche Treue kröhnen und der Triumpf eurer Liebe ein Beispiel und Muster sein für alle kommenden Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit ––––– Amen.
Dein dich liebender
Vetter
Franklin.