Sehr verehrter Herr Jeßner!
Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für die freundliche
Übersendungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Jessner an Wedekind, 1.3.1913. Weder ein Druck noch eine Aufführung des Stückes konnten ermittelt werden. der „Heiligen Eitelkeit“. Ich habe das Werk sofort gelesen
und mich sehr darüber gefreut. Daß ich Ihnen heute erst dafür danke
ist Nervenangelegenheit. Mein objektives Urtheil ist folgendes. Ein künstlerisch
und literarisch sehr vornehmes Werk, überreich an Stimmung. Die drei Personen
sind ebenso scharf wie intim charakterisiert. Durch und durch echtes
warmes Leben, das an den besten Ibsen und Strindberg erinnert pulsiert
im Dialog. Die beabsichtigte Wirkung, die natürlich keine grobe und laute sein |
soll kann auf der Bühne unmöglich ausbleiben. Das ist mein objektives
Urtheil über ihre „Heilige Eitelkeit“ dem sicherlich jeder
moderne Kritiker zubeistimmen
wird.
Daß ich es Ihnen so spät schreibe liegt an einer
gewissen Nervenerschöpfung, die ich jetzt hoffentlich hinter mir habe. Mein Veit
Kunzmännliche Hauptfigur in Wedekinds Stück „Franziska“. ist die anstrengendste Rolle, die ich bis jetzt geschrieben habe und ich
habe sie diesen Winter über 30 mal gespieltDie Uraufführung der „Franziska“ erfolgte am 30.11.1912 in den Münchener Kammerspielen. Die Inszenierung wurde ebendort 30 Mal aufgeführt, hinzu kamen fünf Gastspiele [vgl. Seehaus 1973, S. 730]..
Ich würde mich ungemein freuen wenn ich die „Heilige
Eitelkeit“ bald auf der Bühne sehen könnte. Die Mitwirkung der Betheiligten hätte
natürlich mit Kunst nichts zu schaffen, sondern wäre eine Sensation | der
Sie sicherlich aus dem Wege gehen werden. Schade! Indessen bin ich fest
überzeugt daß daßSchreibversehen, statt: das. Stück auch ohne diese Sensation auf der
Bühne seinen Weg machen wird.
Wollen Sie Frau Franck-WittKäthe Franck-Witt spielte am Thalia-Theater Hamburg sowohl in der „Erdgeist“-Inszenierung von 1906 als auch in der Inszenierung von „Die Büchse der Pandora“ von 1911 die Rolle der Lulu. bitte meine ergebenste
Empfehlung aussprechen. Unser Spaziergang am AlsterbassinVom 30.8. bis 2.9.1912 hielt sich Wedekind in Hamburg auf, am 31.8. notierte er in seinem Tagebuch: „Spaziergang mit Jeßner und Käthe Frank-Witt an der Alster“. ist mir in lebhaftester
Erinnerung erstens durch die schöne Künstlerin und zweitens durch die ernsten
Fragen, die Sie mit ihr erörterten. Ich wünsche und hoffe nur, daß von der unheimlichen
Attaque, an d/unter/ der Frau Franck-Witt kurz darauf zu
leiden hatte keinerlei Nachwirkung zurückgeblieben ist.
Ihnen, verehrter Herr Jeßner, | wünsche ich von Herzen große,
schöne neue Erfolge. Bei dem lebhaften Bühnenumsatz, der gegenwärtig herrscht,
kann es bis zu Ihrer künstlerischen äußeren Selbstständigkeit nicht mehr
lange währen. Ihre künstlerische Selbstständigkeit ist ja allerdings
vielleicht gar nicht mehr oder nur an einer Berliner Bühne zu überteffenSchreibversehen, statt: übertreffen..
Mit schönsten Grüßen
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
27.3.13.