Stein a/Rh
den 15 Nov. 1885
Mein
lieber Franklin!
Herzlichen
Dank für Deinen lieben interessanten Brief. Es freut mich Dich wieder in
München zu wissen, wo Du so viel zu hören und zu sehen bekommst, was Dir
hoffentlich nicht nur für den Moment des Genußes willkommen ist, sondern auch
Deiner geistigen und gemüthlichen Entwickelung zu Gute kommen wird. Herzlich
leid thut es mir aber, daß ich nicht das Vergnügen haben konnte Dich auf der
Hinreise begrüßen zu können. Wenn Du nun aber das nächste malSchreibweise Olga Plümachers statt "Mal" nach der Heimath kommst, dann sollst Du mir nicht
entgehen, | und wenn ich mich in Romanshorn auf die Lauer stellen müßte und Dich
wegschnappen. Als Du nach Berlin {München} reistest, da war ich noch in Berlin,
respective in Groß-Lichterfelde bei Berlin, aber allerdings im Begriff
abzureisen. Am 29 Oct. reiste ich dort fort und
bin am 1 Nov. hier angekommen, recht erkältet
durch die ziemlich unangenehme Heimreise. Bin auch seidherSchreibweise Olga Plümachers statt "seither".
unwohl gewesen von Halsweh und Husten geplagt; doch geht es jetzt wieder ganz
ordentlich. Mit meiner Reise bin ich in jeder Beziehung zufrieden. Auf dem
Hinweg habe ich mich 2x24 Stunden in Heilbronn aufgehalten und Hermann gesund
und frohen | Muthes angetroffen. Am 1 Feb. wird er seiner Lehre entlaßen, dann
wollen wir sehen was die Welt mit ihm anfangen kann. Ich mußte ihm viel von Dir
erzählen, wenn seine Schreibfaulheit ihn auch verhindert, sich Dir bemerklich
zu machen, so bleibt er Dir doch herzlich ergeben und zugethan. Am ersten Tage
regnete es den ganzen Tag Bindfaden, am nächsten Tag aber schien die Sonne und
wir fuhren hinaus nach Jagstfelde, Wimpfen im Thal und Wimpfen am Berg.
Letztere zwei Orte sind interessant und sehr malerisch anzusehen, aber
erschrecklich verkommene, verlotterte Ortschaften – da ist Stein a/Rh
noch eine herrliche Stätte moderner Cultur gegen dieses | während des 30.jährigen
Krieges verstorbenen, und seidher im
Verwesungsprocesses befindlichen Wimpfen am Berg. Des Abends setzte ich mich in
den Schnellzug und war am folgenden {Morgen} in Berlin und – nachdem ich den
ersten Lokalzug versäumte – um 11 Uhr bei Hartmanns. Diese wohnen in der
Villencolonie Groß-Lichterfelde in einer hübschen aber durchaus nicht
luxuriösen Villa, die sie im Spätsommer gekauft haben, auf behaglichem aber
nicht herrschaftlichem Fuße. Ich wurde sehr herzlich aufgenommen und es ist
mir grundwohl bei ihnen gewesen, so wohl, daß ich mich immer erst plagen und necken
laßen mußte, bis ich mich et entschloß nach Berlin zu gehen, um etwas zu
sehen oder zu hören. |
2.
Eines war freilich ein Dämpfer auf mein Vergnügen das
ich empfand bei meinem lieben Philosophen zu sein: nämlich die Wahrnehmung, daß
dieser in den 5 Jahren, wo ich ihn nicht gesehen hatte, um 10 Jahre gealtert
war. Geistig und gemüthlich natürlich gabildnz unverändert und im Besitze einer
gerade zu erstaunlichen Arbeitskraft, ist er körperlich doch sehr herunter
gekommen; er hat sich von den Folgen der schlimmen Operation, der er sich vor 2
Jahren zu unterziehen hatte, doch nie mehr ganz erholt; er ist eben ein
vorzeitig gealterter und kranker Mann, der sein relatives
Behaglichfühlen und seine Arbeitsfähigkeit nur bei der größten Sorgfalt und mit
Verzicht auf fast allen Lebens- | genuß erhalten kann. Die Tagesordnung ist die
regelmäßigste und gleichförmigste, und da eine solche, wo sie, wie wie
hier gehoben wird durch vollste ungestörteste Heiterkeit und erleuchtet durch
Humor und geistige Anregungen verschiedener Art, gerade meinen Wünschen und
Neigungen entspricht, so war es mir bei ihm so wohl wie einem Engelein beim
lieben Gott: so wunschlos und so ohne alles BegerenSchreibweise Olga Plümachers statt "Begehren". ,
ohne alles Fürchten und ohne alle Sorgen lebte ich die Stunden und Tage dahin.
Frau v. H. ist ein reizendes Weib, die mir mit
herzlicher Offenheit entgegen kam und mit der ich mich auf‘s beste verstand.
Daß ich da gar kein Verlangen
nach den Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt empfand wird Dir begreiflich | sein.
Hartmann geht nirgends mehr hin, zuweilen für ein paar Stunden in‘s FreiSchreibversehen Olga Plümachers statt "Freie". in
seinem Rollwagen, das ist alles – so sind wir denSchreibweise Olga Plümachers statt "denn".
auch einmal 21/2 Stunden zusammen herum gezogen und haben
die zum Theil höchst verwunderlichen Bauten besehen die jetzt „stilvoll“ errichtet
werden. Da gibt es Villen die einer pappendeckligen Ritterburg ähnlich sehen,
andere einer indischen Pagode, wieder andere einer Begräbnißkirche im romanischen
Bogenstil u.s.w. u.s.w. Dazwischen hinein auch wieder viel hübsches und klug
ausgedachtes, besonders solche bescheidenere Gebäude, die eben nichts anderes sein
scheinen wollen als was sie sind: ein behagliches Heim für den wohlhabenden
Mittelstand. – | Mit Frau v. H. war ich ein paar mal
in der Stadt und habe das Kunstgewerbe-Museum und die National-Gallerie Schreibweise Olga Plümachers statt "Galerie". besucht. Nach dem Kunstge. M. gingen wir um
die Schliemann‘schen Funde zu sehen: da waren sie bereits eingepackt, um nach
dem nächsten Monat zu eröffnenden Ethnoxxxgischen {Ethnologischen} -Museum
überführt zu werden. In der N. Gallerie sah ich
ein Bild von Gabriel Max – einen Christus als Jüngling, den ein Weib zu sich
heranruft, die auf einem Prellstein sitzend einen kranken Knaben im SchooseIm 19. Jahrhundert noch gebräuchliche Schreibweise. hält. Beim ersten Blick auf das Bild erkannte
ich dessen Meister, so gut hattest Du und Prof. Higenmaier mir seine Malweise,
resp. die Eigenthümlichkeit seines Colorites beschrieben. Es ist ein feßelndes |
3.
Bild, das man wohl möchte in seinem Zimmer hängen haben. Das Mitleid in dem
Gesichte Jesu, das Vertrauen in dem des Weibes und besonders das gedultigeIm 19. Jahrhundert noch gebräuchliche Schreibweise., reflexionslos-seg resignirte Leid
des kleinen Dulders sind schön und rührend dargestellt. Auch einen großen „Böcklin“
haben sich die Berliner unlängst angeschaftSchreibweise Olga Plümachers statt "angeschafft". für
schweres Geld; „Die Gefilde der Seligen.“ Ein sehr schön eingedämmter, schön
gerader Kanal fließt zwischen schön grasgrünen Dämmen dahin. Auf ihm schimmenSchreibversehen Olga Plümachers statt "schwimmen". zwei Schwäne; ein paar heitere, mit etwas
rother und violeterSchreibweise Olga Plümachers statt "violetter". Gaze bekleidete Weiblein
wollen einSchreibweise Olga Plümachers statt "einen". Spazierritt auf einem gutmüthigen
Zentauer unternehmen. Die Besteigung findet auf der linken Seite des Bildes
statt. | Auf der andern Seite des Kanales stehen einige Bäume, darunter einige
Pappeln (wofür B. eine Vorliebe zu haben scheint) und einige menschliche
Figuren – durch die Entfernung ganz klein – stehen um einen Altar. Da mit dem
besten Willen an dem großen Geschmiere {als Composition} nichts zu rühmen ist,
so meinen die Berliner: die Schwäne seien eigentlich doch recht schön weiß;
und das Wasser, das sei doch eigentlich recht schön blau, und auch so
eigenthümlich mettalischSchreibweise Olga Plümachers statt "metallisch". – wirklich eigentlich
doch recht genial! Nun ja! Das Bild hat über 10,000 M. gekostet, da ist es doch gut, daß doch etwas
daran zu rühmen ist! – Und dann war ich in der Oper und hörte die Walküre
mit der Niemann als | Sigmund, der Sachse-Hofmeister als Sigellinde
und der LeemannGemeint ist Lili Lehmann (1848-1929), Opernsängerin (Sopran), Wagner-Interpretin, Gesangspädagogin und Schriftstellerin. als Brunhild. Ich hatte natürlich nicht viel an
der Aufführung auszusetzen, daß ich überhaupt etwas hatte, war mir selber
verwunderlich; eigentlich sollte so eine Kleinstädterin mehr „hin“ sein, wenn
sie in Berlin in der Oper ist, noch dazu bei höchsten Preisen, wo die ersten
Kräfte wirken. Natürlich treffen meine Aussetzungen auch nicht die Sänger,
sondern nur das Walküren-EnsambleSchreibweise Olga Plümachers statt "Ensemble". und einiges
Scenisches; die beiden Damen sangen mit prachtvollen Stimmen (die
Sachse-Hofmeister hat einen himmlischen hohen Sopran) ihre Rollen in der
Perfection, und auch NiemanGemeint ist Albert Niemann (1831-1917), Opernsänger und berühmter Wagner-Interpret.. sang gut, obgleich
er mit seiner Stimme bereits | abgewirthschaftet hat, und sich immer erst zum Singen
durch Brüllen vorbereiten müße. Die Decorationen waren sehr schön, nur
den „Grane“ hätte man weglaßenSchreibweise Olga Plümachers statt "weglassen". sollen – er hat nichts dabei zu thun, und er
stört nur – man glaubt nicht daran, daß er ein Götterroß ist, wenn er
dreimal so herzhaft gähnt, wie er an dem Abend gethan.
Von bekannten Leuten habe ich
Lasson und Otto Pfleiderer gesehen; dieser war einmal Sonntags zum Thee bei uns
mit seiner Frau. Baron Goeler von Ravensburg, Privatdocent der Kunstgeschichte
und Unter-Director der National-Gallerie wünscht
erst noch ein berühmter Mann zu werden, ist aber nach Hartmanns Meinung zu faul
dazu. Dieser ist ein |
4.
großer Bewunderer von Hartmann als Mensch; seine
Werke zu lesen findet er gewöhnlich keine Zeit, und meint auch es friere ihn
dabei; H. sei ihm in seinen Büchern, nicht im persönlichen Verkehr, zu frostig.
Und dann habe ich einen Dichter, einen echten Dichter von Profession
gesehen: den Oskar Lincke. Kennst du etwas von ihm? Wenn nicht, so
verschaffe ich Dir einmal seine „Versuchungen des heiligen Antonius“. Man kennt
diese letztern gemeinlich hin nur als von Busch „gedichtet“.
Hier ist‘s natürlich ein Bischen anders, aber wirklich sehr des Lesens werth,
wenn es mir auch (für einen Dichter ersten Ranges den er sein möchte) etwas an
der Höhe und der Tiefe zu fehlen | scheint. Reizend sind auch
seine Kinderlieder, obwohl er einem den Eindruck macht, als ob er gar kein Aug
für Kinder haben sollte. Er soll sich sehr vor Damen, besonders vor jungen
fürchten, und die „höhere Liebe noch
nicht practisch kennen. Er trank bei uns den Thee und war recht stockig
und absprechend, sprach ziemlich viel und hörte nur auf Herrn v. H.; Frau v. H.
war kaum, ich gar nicht für ihn vorhanden, so daß wir ganz stumm
dasaßen, was unsern Strickstrümpfen zu gute kam, uns aber nicht sehr für ihn einnamSchreibweise Olga Plümachers statt "einnahm". . Frau v. H. meinte, sie möge ihn nur, weil er
ihren Mann so bewundere (er liest aber seine eigentlich phil. Werke nicht),
sonst aber müße sie immer wieder von Zeit zu Zeit eines seiner lieblichen
Kinderlieder lesen, um ihm nicht gram zu werden. | Doch nun zu Dir! Zu Dir Du
nicht-Damen- und nicht Liebe-scheuer Dichter-Practikant-der Unsterblichkeit! Das
sind mir schöne Geschichten was Du mir da schreibst! Ein Uebel wird kaum mit
einem schlimmern Uebel geheilt. Du mustSchreibweise Olga Plümachers statt "mußt". die Frau
sanft und mit möglichster Schonung aus ihrem unseligen und unsinnigen Dusel
aufwecken. Lange kann das ja nicht gehen und eine solche Comödie ist Deiner
unwürdig und thut ihr doch nur Harm. Sie soll lernen sich an Deiner Freundschaft
genügen zu lassen auf mehr hat sie keinen Anspruch. Die Unlust, welche
Dir aber die Lösung dieses unnatürlichen Verhältnißes verursacht (je
größer diese Unlust ist um so mehr macht es Dir Ehre) die sollst Du gedultig
auf Dich nehmen | als eine noch immer viel zu gelinde Strafe und Buße
Deines Antheiles an dem Wahnsinn. Als ich die gute alte Tante diesen
Herbst sah, da dachte ich: nun Gott sei Dank, jetzt nach dem die arme Frau den
Schlaganfall gehabt, jetzt wird F. nichts mehr von anakronistischen
Gefühlen zu fürchten haben. Ich dachte eben nur an Dich, nur an Dein
Empfinden, war zufrieden Dich wieder BefreitSchreibversehen Olga Plümachers statt "befreit". aus
dieser Phantasieverirrung zu wissen. Daß sie Dir den Rückzug in die Position
der Freundschaft erschweren könnte dachte ich nicht. Und nun doch! Die Ärmste!
Die Sache wäre lächerlich, wenn es nicht so traurig wäre, und traurig, recht
herzlich traurig ist es, wenn so ein unbegertesSchreibweise Olga Plümachers statt "unbegehrtes".
und darum aufgespartes |
5.
Liebesvermögen so entschieden verspätet auftreten muß,
sich und andern zur Last, wo es zur richtigen Zeit und an das richtige Object
gewendet hätte so beglückend sein können – wo bleibt da die Weisheit des
Unbewußten? Ohne Zweifel nur in der Unlust die dadurch geschaffen
wird. Du wirst nun wohl auch nicht mehr so kühn mit dem Feuer unter
der Asche spielen und sie – ? Jedenfalls mußt Du die Sache auf vernünftigen
Grund zurück stellen. Dichte sie an, laß Dich andichten – vorläufig! –
schwör ihr ewig Freundschaft, mache Ssie zur Vertrauten deines Herzens –
aber gestehe ihr so bald als möglich, daß Du für eine schöne 17jährige Münchnerin in Flammen stehest. Es wird
ihr weh‘ thun, | aber es ist vernünftig, und alles Gute ist
dies letzten Endes nur deswegen, weil es vernünftig
ist.
So mein lieber
Franklin, nun habe ich geredet wie ein Beichtvater, nicht wahr? und
einem solchen nimmt man es nicht übel, wenn er schon sagt, was einem nicht
gefällt; also nimm‘ es mir auch nicht übel, und sei versichert, daß es herzlich
gut gemeint ist, und auch ganz ernsthaft empfunden, wenn auch leicht hin
ausgedrückt.
Imn den zwanziger Tagen dieses Monates gehe ich für einige Tage
nach Zürich; da sehe ich wahrscheinlich auch Deine liebe Mama.
In Zürich soll auch die
Walküre dran kommen diesen Winter.
Na, das wird werden! |
Doch nun adieu lieber
Franklin, studire fleißig was Du sollst und fleißig was Du
magst, dann wirst Du nicht umsonst in München gewesen sein. Nicht nur
lachen und gähnen, auch küßen kannst Du nun ungenirter, seiddemSchreibweise Olga Plümachers statt "seitdem". Du Dich der Verschönerungsoperation
unterzogen hast. Mache doch darauf ein Gedicht, poetische Ungezogenheiten sind
ja jetzt Mode – der Oskar Lincke exellirtSchreibweise Olga Plümachers statt "exzelliert". auch
darin.
Ich verbleibe mit vielen
herzlichen Grüßen Deine
Dich liebende Tante
O. Pl. |
N.S.
Wenn Du mir eine Gefälligkeit erweisen willst, so gehe doch gelegentlich zum
Redacteur (resp. Herausgeber) der „Gesellschaft“, und frage ihn in meinem Namen
an, wann der Aufsatz „Ethik und Glückseligkeit“
von O. Plümacher, eingereicht durch E. von Hartmann zum Abdruck kommen werde;
derselbe liegt nun schon etwa 10 Wochen dort.
Ferner würdest Du mich
verbinden, wenn Du mir die Adresse der „humoristischen Münchener Blätter“
mittheilen wolltest, wozu eine Postkarte genügt.