Stein
a/Rh
den 30. Juni 1884
Mein
lieber Franklin!
Herzlichen
Dank für Deinen Brief und für die Photographie. Diese kam mir im ersten Moment
auch etf etwas fremd vor und ich mußte Dich mir erst
zusamenconstruirenSchreibversehen Olga Plümachers statt "zusammenconstruiren". . Ich habe Dich eben nur im jugendlich-flaumigen Vollbart
vor meinem inneren Auge. So mit geglätteten Wangen bist Du Deinen Jahren
angemessener und blickst erheblich fröhlicher in die für Dich hoffentlich noch
recht lange frölicheSchreibversehen Olga Plümachers: "fröliche" statt "fröhliche". Welt hinein. Im Barte sahst
Du aus, wie ich mir den jugendlichen Faust, als er noch mit Vatern zusammen
lebte, und an den medicinischen Capazitäten des dunklen Ehrenmannes zu zweifeln
anfing, vorstellen mußte. Oder auch erinnertest | Du mich an Tristan, so wie er
als 18jähriger Jüngling in Hartmanns Tragödie erscheint. (Ja so! Du weißt
vielleicht gar nicht einmal, daß Hartmann, mein Hartmann, wie ich zum
Unterschied von den vielen Hartmännern, die seidSchreibweise Olga Plümachers.
Hartmann von Aue geschriftstellert haben sagen muß, in seiner Jugend auch zwei
Trauerspiele „begangen“ hat?) Schade ist es, daß der Nasenklemmer die Wurzelverwachsenheit
der Brauen, die „Schicksals-Brauen“, versteckt, die Deinem Gesichte eben das
Charakteristische verleihen. Ich weiß wohl, es ist Mode die Leute mit Koniferen
oder Brillen zu photographiren, aber ich finde es ganz verkehrt und in den
meisten Fällen entstellend. Trotz diesen Ausstellungen ist aber das Bild ganz
gut, vor allem bist Du der richtige Wedekind darauf; die | Ähnlichkeit mit
Deinem Bruder tritt jetzt in der Bartlosigkeit recht hervor. Sobald ich nach
Zürich oder Schaffhausen komme, werde ich eine RahmeSchreibweise Olga Plümachers.
kaufen, und Dich DichSchreibversehen Olga Plümachers:
doppeltes "Dich". aufstellen in der GallerieSchreibweise Olga Plümachers. meiner lieben Leute.
Hier erhältst Du nun den Traum. Also
bitte: thue Dir ja keinen Zwang damit an; wenn er dich nicht anspricht, so wirf
ihn einfach fort; oder mache etwas ganz anderes daraus; willst Du
ihn aber wirklich metrisch faßen, so preße den Inhalt so knapp zusammen als
möglich: je conciser je beßer und um so größer die Möglichkeit, daß ich ihn
für Dich bei einem Journal anbringe.
Es interessirt Dich vielleicht zu
wissen, daß Hartmann gegenwärtig an einem ästhetischen Werk arbeitet. „Die
Aesthetik seidSchreibweise Olga Plümachers. Kant“. Bis gegen das Neujahr wird
es | wohl heraus kommen. –
Es freut mich sehr zu vernehmen, daß
Du im ganzen mit Deinem Aufenthalt in Lausanne zufrieden bist; treibe Dich nur
tüchtig unter Menschen aller Art herum und genieße die schöne Gegend, damit Du
recht frisch, und körperlich und geistig ausgeruht im Herbste die Universität
beziehen kannst. – Verzeihe, daß ich mich heute gegenüber Deinem lieben langen
Briefe so knapp faße: aber ich habe gerade viel Arbeit; nota bene ganz prosaische Weiberarbeit, die aber eben doch auch
pflichtschuldigst abgemacht werden muß.
Grüße Deinen Bruder Willy herzlich
von mir und empfange Du selber die herzlichsten
Grüße und Wünsche
Deiner Dich liebenden
Tante O. Plümacher.
Von
Deiner Mama hatte ichFehlendes "ich". Schreibversehen Olga Plümachers. vorgestern einen langen
Brief; sie befindet sich laut demselben nun wieder ganz wohl.
Ich schreibe morgen an sie u. an
Minna v. Greierz.
Beilage:
Ein
Traum.
1. Ich
hatt‘ am Tage braf Statt "brav". Schreibweise Olga Plümachers.studirt
und lag zu Bett nun, müd‘ doch froh; froh des negativen Resultates des
Nachdenkens der Gedanken älterer und neuester Denker. Still war‘s um
mich, still auch in mir, als wäre
ich allein in dieser Welt, als wäre ich reiner Geist. Das Nachtlicht brannte
mit kleiner Flamme, mein Auge hing des Sehens satt, an meiner grünen TapetteStatt "Tapete". Schreibweise Olga Plümachers.. Dort in der Ecke –
das hatte ich früher nie bemerkt – dort zeigte sich ein feiner Strich im
Muster, der nicht hinzugehören schien; fest
haftete mein AucheStatt "Auge". Schreibweise Olga Plümachers. darauf
– wie sonderbar, daß ich das früher nie gesehen – . Aber, war das
wirklich nur ein Fehler im TapettenmußterStatt "Tapetenmuster". Schreibweise Olga Plümachers.? Himmel – nein! Das war ein Riß – ein Riß nicht in der TapetteStatt "Tapete". Schreibweise Olga Plümachers., s ein Riß im Schleier der MajaDas von Arthur Schopenhauer thematisierte principium individuationis, die Vielfalt der menschlichen Wahrnehmungen der Welt, worauf Olga Plümacher anspielt, verdeckt, der Schleier der Maya, dem unreflektierten Bewusstsein die metaphysische Einheit der Welt, die Welt als Wille. Wer durch einen Riss des Schleiers hindurch sieht, erkennt das principium individuationis, die Welt als Vorstellung. !
2. Da erhob
sich ein Klang, zerst ein ganz ferner Orgelton, dann stärker und
stärker anschwellend,
ein Septimen- |
2
AckordStatt "Akkord". Schreibweise Olga Plümachers. – wie/und/ von tausend
Posaunen gezogen – und der kam mitten aus meinem Herzen. Der Riß im Schleier
der Maja wurde breiter, blendendes Licht entströmte ihm, und draus hervor trat
eine Luftgestalt. EntzetzenStatt "Entsetzen". Schreibweise Olga Plümachers. packte mich: jene Luftgestalt war
ja ich, das waren ja meine Züge – und doch war es wieder nicht michStatt "ich". Schreibweise Olga Plümachers. selbst, wie ich mein
Bild im Spiegel sah. Das war nicht die alternde Gestalt mit so und so viel Fuß
und Zoll, (als wie im Reisepaß zu lesen); und nicht der schäbige schwarze Rock,
den eine witzige Freundin einst „die Base von Diogenes MantelDer Philosoph Diogenes von Sinope (410-323 v.u.Z.) bekleidete sich angeblich nur mit einem schlichten wollenen Mantel.“ nanteStatt "nannte". Schreibweise Olga Plümachers.; nein, das war eine
Lichtgestalt über die ein Maaß keine Gewalt mehr hatte, und in der Hand hielt
einen Spiegel sie, der schimmerte wie tausendfach geschliffener Diamant.
3. Da rafteStatt "raffte". Schreibversehen OIga Plüachers. ich mich auf und frug: wer bist Du? Und die Gestalt
erwiderte: Ich bin das Gespenst |
3.
der
Consequenz; ich
bin was still gefürchtet wird, und laut verhöhnt; was immer Du gesucht und nie
zu finden doch gewünscht; was Du herbeigezerrt und doch geflohen hast – ich
bin das solipsistische
IchNach René Descartes (1596-1650) kann sich der Mensch nur seines denkenden Ichs gewiss sein (cogito ergo sum). Das auf sich selbst sich beziehende, auf sich selbst bezogene und auf sich selbst beziehbare Ich ist erkenntniskritisches Thema der Philosophie des Pessimismus (Arthur Schopenhauer, Eduard von Hartmann) und der Ich-Philosophie Max Stirners (1806-1856).!
Doch warum trägst Du meine Züge? so
stammelte ich, erstaunt, verwirrt von diesem unerwarteten Besuch. „O dumme
Frage“ – lacht nun das Gespenst – „ich trage das Gesicht von „Dir“ und „ihm“
und „ihr“ und „es“, von „ihnen“ und von „euch“ – da in den Spiegel blicke – bin
ich noch Du, bist Du noch ich?“ Da streckt den Fliegenaugen gleichen Spiegel
mir der St SpuckStatt "Spuk". Schreibweise Olga Plümachers. entgegen; ein Sturm erhob sich in meinen Sinnen und ein
Strom von Gesichter ging an mir vorüber; auch das Gespenst erschien in einem
Augenblick in tausend Formen; nur Eines blieb sich gleich: das Sehnen, das als
brausender Septimen-AckordStatt "Akkord". Schreibweise Olga Plümachers. dem Herzen zu entströmen schien. |
4.
4 Da
senkt den Spiegel das Gespenst und zu der Frage finde ich den Athem: „wer
sind die wechselnden Gestalten?“ Und neckisch tönt es mir zurück: „Es sind was
man so obenhin die „lieben Nächsten“ nennt – und was die sind –
frag Deine Weisheit doch! Du hast‘s am Schnürchen ja: Zeit und Raum sind nur
die Formen unserer Auffassung und sind principia
individualionis, und
das Gesetz der Causalität gilt nur in uns, im Kreis des Denkens herrschts
allein! – was folgt daraus? Wahn für die Vielen, Trug sind „Du“ und „er“, und
Bilder sind‘s, von Deiner Lieb‘ getragen, von Deinem Haß gefeßelt.
Gefällt‘s Dir nicht? Du schauderst, wie? und hast Dich heut doch noch so stolz
gewiegt – Kreuzspinnen gleich – in dem Gespinnst der Subjectivität!“
5. Gewaltsam faßt ich mich und rief: | 5
„Wohlan,
ich geb‘ sie hin – doch wer bin ich, so wie ich faße mich in Lust und
Leid, und jetzt im Graun vor Dir – und wer bist Du, verfluchter SpuckStatt "Spuk". Schreibweise Olga Plümachers.?“
Da – wie ein/der/ Sturmwind eine Wolke
faßt und wandelt ihre Form, daß sie die selbe ist und ist nicht – so
schwankt und flattert das Gespenst in seinen Linien; doch stehts noch Rede mir
und spricht: „Du bist nicht was Du scheinst, Du scheinst nicht wie Du bist; Du
bist als Sein nur Schein, und bist im Schein nur Sein; Du scheinst durch mich
allein, und durch Dein Schein bin ich: ein Sein das scheint.“ „Und hinter Dir, und hinter mir Du
falsches Du, Du falsches ich“ – so rufe ich – „was schafft den Schein des
Seins?“ „Das ist der Humbug als das Weltprincip!“ – so grinst der SpuckStatt "Spuk". Schreibweise Olga Plümachers. mich an und ich – erwache!