Kennung: 1145

Festung Königstein, 9. November 1899 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Martens, Kurt

Inhalt

Mein lieber Martens!maschinenschriftliche Textrestitution auf einem eingeklebten Blatt aufgrund von Papierverlust.

Sie benutzen also die günstige Gelegenheit, daß ich im GefängnisWedekind hatte sich Anfang Juli 1899 in Leipzig den Behörden gestellt. Nachdem er am 3.8.1899 wegen Majestätsbeleidigung in der „Simplicissimus“-Affäre zunächst zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden war, wurde diese Strafe am 23.8.1899 in Festungshaft umgewandelt, die er vom 21.9.1899 bis 3.2.1900 auf der Festung Königstein absaß. sitze dazu um sich zu verheirathenMartens und seine Frau Mary hatten Ende März 1899 in München geheiratet [vgl. Martens Brief an Wedekind vom 5.2.1899].. Ich muß es Ihnen selbst überlassen für eine derartige Handlungsweise die richtigen Ausdrücke zu finden. Wie mir Dr. Heine, der mich vor einer Woche besucht hat, erzählt, haben Sie es derweil auch nicht bei der bloßen Heirat bewenden lassen sondern sind viel/noch/ weiter gegangenAnspielung auf die Schwangerschaft von Mary Martens. Die gemeinsame Tochter Hertha Helena wurde zu Weihnachten 1899 geboren.. Und nun erwarten Sie eventuel von mir noch, Ihnen zu alledem Glück zu wünschen. Aber ich bin an Grauen zur genüge gewöhnt um mich noch über etwas zu wundern. | Dessenungeachtetmaschinenschriftliche Textrestitution auf einem eingeklebten Blatt aufgrund von Papierverlust. gestehe ich Ihnen, dass mich in meiner Einsamkeit eine heftige Sehnsucht nach Ihnen ergreift. Vor einigen Tagen las ich im Berliner Tageblatt eine sehr lobende anerkennende und ohne Zweifel auch verdiente Anzeige eines NovellenbandesGemeint ist Martens’ Prosasammlung „Tagebuch einer Baronesse von Treuth und andere Novellen“, den Paul Block, einige Wochen zuvor im „Berliner Tageblatt“ [Jg. 28, Nr. 512, 7.10.1899, Abend-Ausgabe, 1. Beiblatt: Litterarische Rundschau, S. (5); gezeichnet: P. B.] zustimmend besprochen hatte: „Dies neue Buch des feinsinnigen und geistreichen Verfassers des ‚Roman aus der Décadence‘ gehört zu den Werken, die man recht langsam lesen muß. Es ist wie ein alter, guter Wein, nicht besonders stark, aber von unendlich feinem Aroma, den man mit gewölbter Zunge schlüft, und der uns mit stillem, wärmendem Feuer durchströmt. [...] Mir erscheinen die Seelenskizzen [...] als nicht hoch genug zu werthende Gaben in unserer literarischen Tombola, die so unendlich viel Nieten in lockender Verpackung enthält.“ von Ihnen. Ich habe mich aufrichtig sehr darüber gefreut aber das war der Funken in das Pulverfaß meiner während fünf Monaten verhaltenen Empfindungen. Mit stiller Wehmut denke ich an die schönen Tage in LeipzigIn den Wochen vor der Leipziger Uraufführung von „Der Erdgeist“ (25.2.1898) hatten Wedekind und Martens täglichen Umgang miteinander. zurück, an Ihr molliges Interieur und Ihr noch von keinen Vaterfreuden präoccupirtes Herz. Aber wenn das Alles nun doch | jemand a/A/anders/e/m gehört so lassen Sie mich wenigstens an Ihrem Glück theilnehmen. Sie wissen wie viel Verständnis ich für das Glück meiner Freunde habe. Ich hoffe zuversichtlich, daß auch Sie mich Ihre Seligkeit mitempfinden lassen werden.

Was soll ich Ihnen von mir schreiben? Seit jenem Abend da wir zu Dritt, Sie, Weber und ich auf einen kurzen Augenblick zusammen im Hofbräu saßen, der letzte behagliche Augenblick, den ich erlebt habe, ist bei mir sowohl wie bei Ihnen mancher Tropfen Wasser den Fluß hinabgelaufen. Aber bei Ihnen waren die Wassertropfen Tropfen der Lust, wogegen mein Wasser das Wasser der Bittnernis war. Ich bitte Sie | fest davon überzeugt sein zu wollen, daß die Sehnsucht nach Ihnen der alleinige Grund war, der mich veranlaßte die Freuden der SeinestadtWedekind hielt sich von Dezember 1898 bis Ende Juni 1899 in Paris auf. mit der Stille der Gefägniszelle zu vertauschen. Ich hätte auch um Ihretwillen noch ganz andere Opfer gebracht und mich in ganz andere Gefahren gestürzt. Und nun wo das schlimmste überstanden und ich daran denke Frucht meiner Leiden in die Arme schließen zu können, muß ich hören daß Sie sich feige verheiratet haben. Vier Monate Gefängnis umsonst gesessen, die reine Donquixoterie! Hätte ich das ahnen können, ich wäre ruhig bei meiner Pariser Geliebten geblieben, der alten | Frau Herwegh, die Ihnen trotz ihrer 87 Jahre an jugendlichem Feuer nicht nachsteht.

Aber genug der JeremiadenKlagelieder.. Wie geht es in München? Ich hoffe Sie werden etwaigen infamen Verleumdungen die darauf ausgehen mein Verhalten in LeipzigVor dem Leipziger Gericht hatte Wedekind Albert Langen, den mitangeklagten Verleger des „Simplicissimus“, als „skrupellosen Geschäftsmann“ hingestellt, „der sich auf Kosten seiner Mitarbeiter bereichern wollte“ [Abret/Keel 1985, S. 27]. in schlechtem Licht erscheinen zu lassen keinen Glauben beimessen. Ich bemerke das nur ganz beiläufig. Ich kann mich ja augenblicklich nicht wehren. In dem Moment wo ich wieder in München bin, verstummt das Geschwätz mit der größten Eilfertigkeit, dessen bin ich s/v/öllig gewiß. Die literarischen, speziell dramatischen Wogen gehen überaus hoch in Münchennicht ermittelt., wie ich zu meiner Freude lese. Kommen | Sie vielleicht hie und da mit Halbe zusammen?, dann grüßen Sie ihn herzlich von mir. Was macht Ihr specieller literarischer Kreis? Ich meine damit mehr die Damen, denn im Übrigen zähle ich Sie zu keinem speciellen Kreis. Und sagen Sie mir noch Eines: Sind Sie glücklich? Können Sie glücklich sein? Ich kann es nicht. Wenn Sie zufällig nach Dresden kommen besuchen Sie mich vielleicht. Sie finden hier gute Luft, gutes Bier, guten Wein, kurzum alles was Ihr schlechtes Gewissen betäuben kann. Nur muß ich zwei Tage vorher davon unterrichtet sein um die Kanonen für die Salutschüsse auffahren lassen zu können. Wenn | Sie im Taumel Ihres überströmenden Glückes und des literarischen Gewoges eine freie Minute finden, so opfern Sie vielleicht noch einige ersterbende Empfindungen auf dem Altar der alten Götter. Schreiben Sie mir recht ausführlich, machen Sie mir den Mund wäßrig, vielleicht bekehre ich mich dann auch, folge Ihrem Beispiel, heirate ein unschuldiges junges Gänschen, das sich von mir den Himmel auf Erden verspricht und wunder glaubt welchen Fang sie gemacht habe. Wissen Sie nicht vielleicht irgendjemand in Ihrer Umgebung bei dem ich meine Batterien spielen und meine Minen springen lassen könnte. Ich bat Sie seinerzeit schon, mich Ihrer Fräulein Schwester zu | empfehlen, aber damals waren Sie der Eifersüchtigevgl. hierzu die spätere Erinnerung von Martens [1921, S. 206f.]: „An einem unserer Gesellschaftsabende war zufällig einmal meine Schwester zugegen. Er [Wedekind] nahm es mir ernstlich übel, daß ich ihn nicht mir ihr bekannt machte. ‚Das ist eine unverdiente Zurücksetzung‘, sagte er voll Bitterkeit. ‚Fürchten Sie etwa, ich könnte Ihr Fräulein Schwester vor allen Leuten vergewaltigen?‘ – ‚Das zwar nicht‘, erwiderte ich ihm. ‚Aber, Sie verstehen ... die bewußte Frage, die Sie gewohnheitsmäßig an jede junge Dame richten: Mein Fräulein, sind Sie noch Jungfrau? ... Auf diese Frage hätte Ihnen meine Schwester, vorurteilsvoll, wie sie nun einmal ist, vielleicht den Rücken gewendet.‘ Er knirschte mit den Zähnen und grinste hinterhältig: ‚Zugegeben, ich richtete diese aufklärende Frage wirklich an Ihr Fräulein Schwester, und sie ließ mich darauf schimpflich abfallen, wäre damit nicht immerhin eine erste Beziehung angeknüpft gewesen?‘“. Sie waren nicht einmal dazu zu bringen mich ihr vorst/z/ustellen, so zitterten Sie um Ihren Besiz.

Tempi passati(lat.) Die Zeiten sind vorbei.; machen Sie gut was Sie versäumten. Empfehlen Sie mich bitte aufs beste Ihrer geehrten Frau Gemahlin, grüßen Sie bitte auch Weber, wenn Sie ihn sehen und Herrn von Öhlschläger und sein Sie selber in alter Herzlichkeit gegrüßt von Ihrem

sehr discreten

Frank Wedekind


Festung Königstein.
9.XI 99.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 2 Doppelblätter. Seitenmaß 11 x 18 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Im oberen Drittel des ersten Blatts fehlt durch Rasur von unbekannter Hand ein etwa 11 x 4 cm großes Stück des Überlieferungsträgers. Der infolgedessen verlorene Text auf Seite 1 und 2 wurde später durch eine maschinenschriftliche, auf Durchschlagpapier gefertigte Abschrift ersetzt. Die Aufbringung des Akzessionsstempels der „Stadtbibliothek München“ legt nahe, dass die Restitution des Texts – entweder nach dem Erstdruck oder einem der späteren Drucke – nach der Erwerbung durch die besitzhaltende Institution selbst vorgenommen wurde.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Festung Königstein
    9. November 1899 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Festung Königstein
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Der Neue Merkur

Titel des Aufsatzes:
Erinnerungen an Frank Wedekind 1897-1900
Autor:
Kurt Martens
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
545-547
Kommentar:
Detaillierte Angabe: Kurt Martens: Erinnerungen an Frank Wedekind 1897-1900. In: Der Neue Merkur, Jg. 4 (1920), S. 537-539, hier: S. 545-547. Weitere Drucke: Martens 1921, S. 243-245; GB 2, S. 27-29 (Nr. 165).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
Wedekind, Frank A I/12
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Kurt Martens, 9.11.1899. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (19.05.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Mirko Nottscheid

Zuletzt aktualisiert

05.03.2024 17:33